Tagungsbericht – Neukölln knallhart? Strategien gegen Gewalt im Stadtquatier

GEWALT ALS QUELLE VON ANERKENNUNG Über Jugendgewalt wird immer wieder heftig diskutiert – besonders in Wahlkampfzeiten. ‚Neukölln knallhart?‘ näherte sich dem Thema aus der eher wenig beachteten Perspektive des Sozialraums. Die Forschung geht davon aus, dass bestimmte Arten von Kriminalität (sog. ‚Straßenkriminalität‘, aber auch Gewaltkriminalität) sich in Kiezen ballt, in denen sich auch sonstige soziale Probleme häufen. Jugendgewalt ist dabei als öffentlich sichtbare Aggression die Spitze eines Eisbergs, unter dessen Oberfläche sich häusliche Gewalt, Desintegration und Verwahrlosung verbergen. Soziale bzw. zivilgesellschaftliche Kräfte, die Eskalationen verhindern oder eindämmen könnten, sind schwach und gelähmt. Welches sind also die Ursachen jugendlicher Gewalt? Welche Effekte hat das Quartier, in diesem Fall das sog. Problemquartier, auf die Gewaltbereitschaft und Konfliktfähigkeit von Jugendlichen? Wie können sich Bewohner/innen und soziale Einrichtungen wirkungsvoll für einen lebenswerten Stadtteil engagieren? Auf die Suche nach Antworten begabt sich eine Tagung in den Berliner Stadtteil Neukölln. Auszüge aus dem Tagungsbericht: “ HEITMEYER: GEWALT ALS QUELLE VON ANERKENNUNG Wenn von Gewalt die Rede ist, dürfe man sich nicht allein auf Jugendgewalt kaprizieren. Darin waren sich alle Referenten der Veranstaltung einig. Gewalt werde, so der renommierte Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer, in Familien und anderen sozialen Gruppen gelernt, die in bestimmten Quartieren ein „gewaltförmiges Interaktionsgeflecht“ bildeten. Gewaltlegitimationen würden nicht von Jugendlichen erfunden, sondern von gesellschaftlichen Eliten. Gewalt stehe bei Jugendlichen zumeist in Zusammenhang mit einem unerfüllten Wunsch nach Anerkennung: … Das Vertrauen in die ökonomische Absicherung sei aber in den letzten Jahrzehnten dramatisch gesunken. Speziell in Problemquartieren versagten auch andere Anerkennungsquellen wie Familie und Schule. Somit werde Gewalt zur letzten aber effektiven Anerkennungsressource bei Gleichaltrigen: Verlierer schaffen andere Verlierer. … Durch die Segregation, die auch die sozialräumliche Zuspitzung dieser Prozesse mit sich bringt, entstehe eine neue Normalität der Gewalt, ein „sozialraumkonformer Gewaltlevel“. Sei das einmal geschehen, wäre es umso schwieriger, die Akzeptanz der Gewalt in Frage zu stellen. Konsequenterweise sei eine „neue Kultur der Anerkennung“ auch der Schlüssel für Gegenstrategien: Familien und Schulen müssten die Stärken der Jugendlichen suchen und daran anknüpfen. Bei Einwirkungsmöglichkeiten spiele aber auch die Stadtentwicklung eine wichtige Rolle: Den Segregationstendenzen müsse entgegengewirkt werden. Ärmere Stadtteile und Bezirke müssten im Rahmen eines innerstädtischen Lastenausgleichs finanziell besser gestallt werden. … NEUKÖLLNER ERFAHRUNGEN Die Quartiersmanagerin Ayten Köse von Quartiersmanagement Rollberg setzte in ihren Kommentar gegenüber Anerkennung als Ausweg aus der Gewaltspirale einen anderen Akzent: den der sozialen Normen im Quartier und des „Grenzen setzens“. Der Rollbergkiez sei vor 10 Jahren stark gewaltbelastet gewesen. … Der Wendepunkt kam 1998 als ein Jugendlicher getötet wurde. Daraufhin vernetzen sich verschiedene Institutionen wie das Bezirksamt, Schulen, das QM, die Polizei, Jugendzentren und andere Jugendeinrichtungen unter dem Motto „Kiezdruck“. Es ging darum, eine Gewalt missbilligende Atmosphäre im Stadtteil aufzubauen. Kinder mit positivem sozialen Verhalten wurden gestärkt, Straftaten vermehrt angezeigt. … „DELINQUENZ IST EIN ZEICHEN VON HOFFNUNG“ Mit diesem provokanten Satz begann Frank Winter, der fachliche Leiter des Täter- Opfer-Ausgleichs (TOA) Bremen, seinen Vortrag. … Gemeint war mit dem Einstiegssatz, dass man bei delinquenten Jugendlichen wenigstens noch einen Ansatzpunkt hätte, dass die Delinquenz ein Hilferuf sei, den man in der sozialen Arbeit aufgreifen könnte, während man bei suchtkranken oder depressiven Jugendlichen oft gar nicht rechtzeitig merke, wie schlecht es ihnen ginge. Winter stellte den Ansatz der sozialen Mediation in städtischen Problemquartieren vor, … Soziale Brennpunkte seien häufig gekennzeichnet durch eine hohe Kriminalität und hohe Dunkelziffern, wenig Vertrauen in staatliche Organe, ein Klima der Angst. Die soziale Mediation würde in diesem Kontext Konflikte privatisieren durch ihre Rückbettung in den sozialen Zusammenhang, in dem sie entstanden sind. Die vereinbarten „Kompensationen“ bzw. Sanktionen für die Täter in diesen Konflikten sind häufig solche, die der lokale Gemeinschaft direkt zugute kommen. Dadurch tragen im Idealfall diejenigen die Konflikte miteinander aus, die sie auch miteinander haben, und nicht stellvertretend staatliche Organe, die sich in Hintergrund halten können. Zu der personellen Struktur, die diesen Ansatz realisieren hilft, zählen Mietersprecher, aufsuchende Konfliktberater und psychologische Konfliktschlichter. … LESSONS LEARNED: ANERKENNUNG UND REGELN Natürlich gibt es keine allgemeingültige, überall anwendbare Strategie gegen (Jugend-)Gewalt im Stadtquartier. Aber auf der Veranstaltung haben sich doch zwei Zutaten für solche Strategien herausgeschält: Zum einen Heitmeyers Anerkennungskultur, … . Die andere Zutat lautet im schönen Sozialarbeiter-Sprech: Normen bzw. Regeln des Zusammenlebens verdeutlichen. Die Norm heißt: Konflikte ohne Fäuste oder Messer lösen. Der Stärkere hat nicht allein deswegen recht, weil niemand ihn herauszufordern wagt. Das klingt in manchen Ohren sicher selbstverständlich, man muss aber davon ausgehen, dass diese Regeln nicht in allen Familien und in allen Kiezen vermittelt und gelernt werden. Die Norm braucht ein Netzwerk, das sie lebt und ihr zur Geltung verhilft. … “

http://www.boell.de/
http://www.migration-boell.de/downloads/integration/Bericht_ZWS7_1.pdf

Quelle: Heinrich Böll Stiftung

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