MEHR UNGLEICHHEIT TROTZ WACHSTUM? In Deutschland haben die Einkommensunterschiede und der Anteil der armen Menschen an der Bevölkerung in den vergangen Jahren deutlich schneller zugenommen als in den meisten anderen OECD-Ländern. Der Anteil der Menschen, die in relativer Armut leben – d.h. mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens auskommen müssen – liegt mittlerweile knapp über dem OECD-Schnitt, während die Armutsquote Anfang der 90er Jahre noch rund ein Viertel geringer war als im OECD-Mittel. Dies geht aus der Studie ‚Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?‘ hervor, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) am Dienstag (21.10.2008) in Paris vorgestellt hat. Für die Zunahme von Einkommensunterschieden und relativer Armut sind mehrere Faktoren verantwortlich. In Deutschland hat Arbeitslosigkeit mehr als in den meisten anderen OECD-Ländern zur gestiegenen Einkommensungleichheit beigetragen. Allein von 1995 bis 2005 ist der Anteil der Personen in einem Erwerbslosenhaushalt von 15,2 auf 19,4 Prozent gestiegen und damit auf den höchsten Wert innerhalb der OECD. Neben der Arbeitslosigkeit hat auch eine deutliche Spreizung der Erwerbseinkommen zu mehr Einkommensungleichheit geführt. Vor allem bei den Männern sind die hohen Einkommen deutlich schneller gewachsen als die niederen. So sind bei den vollzeitbeschäftigten Männern die Einkommen der obersten 10 Prozent seit 1980 rund eineinhalb Mal so schnell gestiegen wie die der untersten 10 Prozent. Bei Kindern, die nur bei einem Erziehungsberechtigten leben, weist Deutschland nach Japan, Irland, USA, Kanada und Polen die fünfthöchste Armutsquote auf. Nimmt man alle Haushalte mit Kindern, liegt Deutschland dagegen auf Platz neun der 30 OECD Länder. In Haushalten ohne Kinder ist das Armutsrisiko in Deutschland dagegen geringer als im OECD-Schnitt. Anders die Situation in den nordischen Ländern: Hier haben Haushalte mit Kindern ein geringeres Armutsrisiko als Haushalte ohne Kinder. Dies gilt sogar auch bei einem Vergleich zwischen Alleinerziehenden und Singles. Trotz eines insgesamt deutlich gestiegenen Armutsrisikos waren in Deutschland im Beobachtungszeitraum die meisten Betroffenen diesem Schicksal nur für einen überschaubaren Zeitraum ausgesetzt. So leben nur knapp über zwei Prozent der Bevölkerung länger als drei Jahre in Armut. Im OECD-Mittel sind es fünf Prozent. Für Singles, Alleinerziehende und ältere Menschen ist das Risiko für Langzeitarmut allerdings in Deutschland wie in den anderen OECD-Ländern doppelt so hoch wie im Bevölkerungsschnitt. Auszüge aus der Zusammenfassung der Studie: “ Fragt man den Durchschnittsbürger nach den größten Problemen, vor denen die Welt heute steht, dürften „Ungleichheit und Armut“ unter den Antworten wahrscheinlich mit an erster Stelle stehen. In weiten Teilen der Bevölkerung herrscht Besorgnis darüber, dass das Wirtschaftswachstum nicht allen gleichermaßen zugute kommt. … Gehen die Menschen also recht in der Annahme, dass „die Reichen reicher geworden sind und die Armen ärmer“? Wie so häufig bei einfachen Fragen lässt sich hierauf schwer eine einfache Antwort finden. Gewiss, die reichsten Länder der Welt sind noch reicher geworden, und in einigen der ärmsten Länder verlief die Entwicklung relativ ungünstig. Andererseits ermöglichte es das rasche Einkommenswachstum in China und Indien Millionen von Menschen, der Armut zu entkommen. Ob angesichts der Entwicklung von Einkommensungleichheit und Armut in der Welt nun Pessimismus oder Optimismus angebracht ist, läuft somit auf die Frage hinaus, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Beides trifft zu. … Die Untersuchung zeigt, dass sich einige Gesellschaftsgruppen besser behaupten konnten als andere. Personen, die im bzw. nahe am Rentenalter sind … , haben in den letzten zwanzig Jahren die größten Einkommenszuwächse verzeichnet, und in vielen Ländern war effektiv ein sehr rascher Rückgang der Altersarmut zu beobachten, so dass die Armutsquote in der Rentnerpopulation heute unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung des OECD-Raums liegt. Im Gegensatz dazu hat die Kinderarmut zugenommen und liegt nun über der durchschnittlichen Armutsquote der Gesamtbevölkerung. … Die Zunahme der Kinderarmut verdient mehr Aufmerksamkeit seitens der Politik, als sie in vielen Ländern derzeit erhält. Das Augenmerk muss stärker auf die kindliche Entwicklung gerichtet werden, um sicherzustellen, dass „kein Kind den Anschluss verpasst“ . Die gleichzeitige Erhöhung von Steuern und Ausgaben zur Bekämpfung der Ungleichheit kann nur eine temporäre Maßnahme sein. Die einzige nachhaltige Methode zur Verringerung der Ungleichheit ist, die tendenzielle Zunahme der Spreizung der Erwerbs- und Kapitaleinkommen zu stoppen. Insbesondere gilt es sicherzustellen, dass die Menschen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Lage sind und damit auch genug verdienen, um sich und ihre Familie vor Armut zu schützen. Konkret heißt dies, dass die Industriestaaten wesentlich größere Anstrengungen unternehmen müssen, um Menschen in Beschäftigung zu bringen anstatt auf Arbeitslosenunterstützung, Invaliditätsrenten oder Vorruhestandsleistungen zu setzen, ihre Arbeitsplatzbindung zu erhöhen und ihnen gute berufliche Aussichten zu bieten. … MERKMALE DER VERTEILUNG DER HAUSHALTSEINKOMMEN IN OECD-LÄNDERN – Unabhängig davon, wie die Ungleichheit gemessen wird, weisen einige Länder eine wesentlich ungleichere Einkommensverteilung auf als andere. Die Verwendung eines anderen Ungleichheitsmaßes hat kaum Auswirkungen auf die Länderrangliste. – Länder mit einer stärkeren Einkommensspreizung sind, mit einigen wenigen Ausnahmen, auch durch eine höhere relative Einkommensarmut gekennzeichnet. Dies gilt unabhängig davon, ob relative Einkommensarmut mit weniger als 40%, 50% oder 60% des Medianeinkommens gleichgesetzt wird. – Die Einkommensungleichheit ebenso wie die Armutsquote sind im Verlauf der letzten zwanzig Jahre gestiegen. Diese Zunahme ist ein recht weitverbreitetes Phänomen, das rund zwei Drittel aller Länder betrifft. Dabei kann von einem moderaten, aber deutlichen Anstieg gesprochen werden. Er ist allerdings wesentlich weniger dramatisch als in den Medien häufig dargestellt. – Die Einkommensungleichheit ist seit dem Jahr 2000 in Kanada, Deutschland, Norwegen, den Vereinigten Staaten, Italien und Finnland merklich gestiegen, während sie im Vereinigten Königreich, in Mexiko, Griechenland und Australien abgenommen hat. – Die Ungleichheit hat im Allgemeinen deshalb zugenommen, weil die wohlhabenden Haushalte im Vergleich zu den Angehörigen der Mittelschicht sowie den Haushalten im unteren Bereich der Verteilung einen besonders starken Einkommenszuwachs verzeichnen konnten. – Die Einkommensarmut ist in der älteren Generation weiter zurückgegangen, während die Armut unter jungen Erwachsenen und Familien mit Kindern zugenommen hat Ausschlaggebende Faktoren für Veränderungen von Einkommensungleichheit und Armut im Zeitverlauf – Veränderungen der Bevölkerungsstruktur sind eine der Ursachen des Anstiegs der Ungleichheit. Dies ist aber hauptsächlich auf die Zunahme der Zahl der Einpersonenhaushalte zurückzuführen und weniger auf die Bevölkerungsalterung an sich. – Die Ungleichverteilung der Erwerbseinkommen von Vollzeitkräften hat in den meisten OECD-Ländern zugenommen, was sich daraus erklärt, dass die Einkommen der Spitzenverdiener stärker gestiegen sind. Globalisierung, kompetenzabhängiger technologischer Wandel und Arbeitsmarktbestimmungen und -maßnahmen sind alles Faktoren, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben dürften. – Der Effekt von stärkeren Lohndisparitäten auf die Einkommensungleichheit wurde durch eine höhere Beschäftigung ausgeglichen. Unter den Personen mit geringerem Bildungsniveau sind die Beschäftigungsquoten jedoch gesunken, und der Anteil der Erwerbslosenhaushalte ist nach wie vor hoch. – Erwerbstätigkeit ist ein sehr wirksames Mittel, um Armut zu vermeiden. Für Erwerbslosenhaushalte ist die Armutsquote fast sechsmal höher als für Haushalte mit Erwerbstätigen. – Erwerbstätigkeit reicht als Schutz vor Armut jedoch nicht aus. … Zur Bekämpfung von Armut bei Erwerbstätigkeit sind häufig Lohnergänzungsleistungen zur Aufbesserung des Einkommens nötig. Erkenntnisse aus der Untersuchung weiter gefasster Messgrößen der Armut und Ungleichheit – Öffentliche Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit sind gleicher als die Einkommen verteilt, weshalb sich die Ungleichheit bei Einbeziehung dieser Faktoren in ein weiter gefasstes Konzept der wirtschaftlichen Ressourcen verringert, wobei es allerdings zu wenig Änderungen in der Länderrangliste kommt. – Bei Berücksichtigung der Verbrauchsteuern erhöht sich die Ungleichheit, jedoch nicht in gleichem Umfang, wie sie sich bei Einrechnung der öffentlichen Dienstleistungen verringert. … – Auf Personenebene besteht eine hohe Korrelation zwischen Einkommen und Nettovermögen. Einkommensschwache Personen verfügen über weniger Vermögen als der Rest der Bevölkerung ihr Nettovermögen beträgt in der Regel weniger als die Hälfte des nationalen Durchschnitts. – Das Ausmaß der materiellen Deprivation ist nicht nur in Ländern mit hoher relativer Einkommensarmut, sondern auch in solchen mit niedrigem Durchschnittseinkommen größer. Dies bedeutet, dass Maße der Einkommensarmut die materiellen Härten in diesen Ländern unterzeichnen. … – Der Eintritt in Armut ist hauptsächlich eine Folge familiärer und arbeitsplatzbezogener Ereignisse. Familiäre Ereignisse (z.B. Scheidung, Geburt eines Kindes usw.) spielen für von vorübergehender Armut Betroffene eine sehr große Rolle, während ein Rückgang der Transfereinkommen (z.B. auf Grund von Änderungen der Kriterien für den Leistungsanspruch) für Personen stärker ins Gewicht fällt, die zwei Jahre in Folge unter Armut leiden. … “ Der … Bericht lässt viele Fragen unbeantwortet. So wird z.B. nicht erörtert, ob eine Zunahme der Ungleichheit in Zukunft unvermeidlich ist. Es werden auch keine Antworten auf Fragen bezüglich der relativen Bedeutung verschiedener Ursachen des Anstiegs der Ungleichheit geliefert. … Der Bericht zeigt jedoch, dass die Ungleichheit in einigen Ländern weniger stark zugenommen hat als in anderen oder sogar gesunken ist. Er macht deutlich, dass der Grund für die Unterschiede zwischen den Ländern zumindest teilweise in einer unterschiedlichen staatlichen Politik zu sehen ist, sei es in Form einer effizienteren Umverteilung oder wirkungsvollerer Investitionen in die Fähigkeit der Bevölkerung, ihr eigenes Auskommen zu sichern. Die wichtigste Botschaft dieses Berichts für die Politik lautet, dass … kein Grund besteht, sich hilflos zu fühlen: Gute staatliche Politik kann etwas bewirken. Die Zusammenfassung im Volltext entnehmen Sie bitte dem Anhang. Die Studie in vollem Umfang ist in englischer Sprache als Buch erhältlich.
http://www.oecd.org
Quelle: Presseinformation OECD vom 21.10.2008
Dokumente: OECD_Zusammenfassung_2008.pdf