BILDUNG FÖRDERN. TEILHABE ERMÖGLICHEN Nur 14 Prozent der Kinder von Eltern mit Hauptschulabschluss schaffen den Sprung auf das Gymnasium, bei Kindern von Abiturienten liegt die Quote bei 68 Prozent. Und Kinder aus bildungsfernen Haushalten haben es auf dem Gymnasium schwerer, jedes dritte von ihnen scheitert dort. Hat mindestens ein Elternteil das Abitur, liegt die Abbrecherquote bei nur mehr 20 Prozent. Das zeigen Studien auf der Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). Eine zentrale Erkenntnis ist, dass die Grundlagen für den späteren Bildungsweg sehr früh gelegt werden: Prof. Dr. Katharina Spieß (SOEP/Freie Universität Berlin) hat unter anderem nachgewiesen, dass eine zunehmende Dauer des Besuchs einer Kindertageseinrichtung die Wahrscheinlichkeit senkt, dass Kinder später die Hauptschule besuchen. Ebenso sind Bildung und kulturelle Aktivität der Eltern wichtigere Faktoren für den späteren Bildungserfolg der Kinder als das Haushaltseinkommen. … Auch im späteren Berufsleben setzt sich nach Analysen des Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) der Zusammenhang von Bildungsarmut und Arbeitslosigkeit fort. Junge Erwachsene ohne Berufsausbildung haben nicht nur sehr häufig gering qualifizierte Eltern, sondern zumeist auch Mitschüler und Freunde, die keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern wie Freunde arbeitslos sind, ist damit sehr hoch. Als Folge stehen ihnen bei der Arbeitsplatzsuche deutlich weniger Informationen über das Wann, Wo und Wie des Sich-Bewerbens zur Verfügung. Sie haben in den Betrieben seltener einen Leumund und eine persönliche Fürsprache durch bereits Beschäftigte. … Der Zwischenruf der Leibniz-Gemeinschaft befasst sich u.a. mit Fragen der ungleichen Bildungschancen, der Orientierung an Kompetenzdefiziten, der Forderung nach Erhöhung der Durchlässigkeit und nach dem Mehr an gesellschaftlicher Inklusion durch Weiterbildung. Auszüge aus zwei Beiträgen des aktuellen Zwischenrufs: „NICHT UNBEDINGT KOMPETENZDEFIZITE. Warum führt Bildungsarmut zum Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt? Von Prof. Dr. Heike Solga (WZB) Die Beschäftigungschancen jener Frauen und Männer, die ohne abgeschlossene Berufsausbildung sind, haben sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verschlechtert … in Deutschland … ist heute ein Viertel dieser Menschen arbeitslos … . Zudem hat heute jeder zweite Langzeitarbeitslose keine abgeschlossene Berufsausbildung. Der starke Zusammenhang von Bildungsarmut und fehlenden Lebenschancen ist damit unübersehbar geworden. Die Politik hat darauf mit vielfältigen Interventionen reagiert. … Um gering Qualifizierten zu helfen, sind nachträgliche Bildungsangebote und arbeitsmarktpolitische Qualifizierungsmaßnahmen ohne Zweifel zu unterstützen. Auch vermehrte Interventionen noch während der Schulzeit, die Verbesserung der frühkindlichen Förderung sowie Reformen in der deutschen Schule sind sinnvoll. Gleichwohl verbergen sich hinter dem starken Zusammenhang von Bildungsarmut und Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt mehr als nur Kompetenzdefizite. So spielt die Situation auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle. Gibt es mehr Arbeitskräfte als Arbeitsplätze, dann sind gering qualifizierte Personen den höher Qualifizierten in der Konkurrenz um das knappe Gut „Arbeitsplätze“ unterlegen – und dies selbst dann, wenn es um Abeitsplätze mit niedrigem Anforderungsniveau geht. Das heißt, nicht das absolute Kompetenzniveau von Menschen, sondern das relative Niveau im Vergleich zu anderen ist auf dem Arbeitsmarkt von Bedeutung. Dieser Prozess wird in der Arbeitsmarktforschung als Verdrängungsmechanismus bezeichnet, der – in Zeiten einer angespannten Arbeitsmarktsituation – eine kaskadenartige Abwärtsmobilität auf dem Arbeitsmarkt in Gang setzt. Mit mehr als 3 Millionen Arbeitslosen ist eine derartige Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt mit Sicherheit gegeben. * Falsches Netzwerk, fehlende Fürsprache Doch „Bildung“ ist mehr als absolute oder relative Kompetenz. Mit dem Bildungsabschluss verbinden sich Bildungsbiografien und damit auch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen. Der Großteil der jungen Erwachsenen, die ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung bleiben, kommt von Haupt- und Förderschulen. Da zudem der Zusammenhang von besuchten Sekundarschultyp und sozialer Herkunft in Deutschland besonders hoch ist, werden diese beiden Schultypen vor allem von Kindern aus Familien mit niedrigem sozialen Status besucht. Das heißt, junge Erwachsene ohne Berufsausbildung haben nicht nur sehr häufig gering qualifizierte Eltern, sondern zumeist auch Mitschüler und Freunde, die keine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern wie Freunde arbeitslos sind, ist damit sehr hoch. Als Folge stehen ihnen bei der Arbeitsplatzsuche deutlich weniger Informationen über das Wann, Wo und Wie des Sich-Bewerbens zur Verfügung. Sie haben weniger Informationen über freie Arbeitsplätze und über das Anforderungsprofil sie haben in den Betrieben seltener einen Leumund und eine persönliche Fürsprache durch bereits Beschäftigte, die ihre Bewerbung unterstützen. Doch gerade für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist dies bei der Arbeitsplatzsuche wichtig. Zum einen zeigen Betriebsbefragungen, dass Betriebe bei der Einstellung von bei gering Qualifizierten „Empfehlungen durch andere“ (insbesondere durch Eltern) für besonders wichtig halten. Zum anderen geben ihre fehlenden oder niedrigen Bildungsabschlüsse nur Auskunft darüber, was sie nicht können, nicht allerdings, was sie (doch) können. Die höhere Arbeitslosigkeit im Netzwerk gering qualifizierter Personen trägt also dazu bei, dass Bildungsarmut häufig zum Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt führt. * Der Eindruck zählt Neben diesen eher „harten“ Faktoren … spielen auch „weiche“ Faktoren eine wichtige Rolle für die Arbeitsmarktchancen gering qualifizierter Personen. Dazu gehört, für wie kompetent sie von anderen gehalten werden und wie kompetent sie sich selber einschätzen. Die Sicht anderer beeinflusst, ob sie überhaupt für beschäftigungsfähig gehalten werden ihre eigene Einschätzung hingegen, ob sie sich überhaupt bewerben. … Oft halten sich junge ausbildungslose Erwachsene selbst für zu wenig kompetent. Das sehen dann auch Personalverantwortliche so. Häufiger als sind diese der Meinung, dass diese Jugendlichen nicht über die notwendigen Kompetenzen für eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz verfügen. Es fehle ihnen an „Beschäftigungsfähigkeit“. Lieber werden Ausbildungs- und Arbeitsplätze nicht besetzt, anstatt gering qualifizierte Jugendliche und junge Erwachsene einzustellen. Der internationale Vergleich zeigt allerdings, dass ein fehlender höherer Sekundarschulabschluss … nicht hundertprozentig Auskunft über das Kompetenzniveau dieser Personen gibt. Z.B. ist die Lesekompetenz von gering qualifizierten Personen in den Ländern sehr unterschiedlich ist. In Deutschland verfügen sie über eine deutlich höhere Lesekompetenz als in den USA oder Polen. … der Zusammenhang von Bildungsniveau und Lesekompetenz ist nicht allen Ländern gleich groß. In Deutschland ist er offenkundig schwächer als in den USA oder Kanada. Das heißt, in Deutschland gibt es deutlich häufiger Personen, die einen geringen Bildungsabschluss haben, aber gleichwohl über hohe Lesekompetenzen verfügen, und umgekehrt Personen, die einen hohen Bildungsabschluss erlangt haben, aber nur geringe Lesekompetenzen besitzen. Dennoch wird gerade in Deutschland Schulentlassenen ohne Schulabschluss die notwendige „Ausbildungsreife“ abgesprochen, ebenso wie Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung zumeist für „nicht beschäftigungsfähig“ gehalten werden. … Jene, die keine Berufsausbildung oder kein Studium abgeschlossen haben, stellen heute eine Minderheit dar. Daher hält man diese Menschen eher für „nicht kompetent“ … . * Was wir brauchen Bildungsangebote zum Kompetenzerwerb allein reichen also nicht aus, um die Arbeitsmarktchancen von gering qualifizierten Personen zu verbessern. Vielmehr bedarf es auch ihrer aktiven Einbindung in Erwerbsarbeit – zum Beispiel durch öffentlich geförderte Arbeitsplätze. Ferner brauchen wir endlich ein Bildungssystem in Deutschland, in dem nicht vor allem nach sozialer Herkunft sortiert wird. Und dies nicht nur aus Gründen sozialer Gerechtigkeit, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen: Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland können wir es uns gar nicht mehr leisten, ein Fünftel eines Geburtsjahrgangs aufgrund von Bildungsarmut aus dem Arbeitsmarkt auszuschließen.“ “ „Wer hat, dem wird gegeben.“ Wider das Matthäus-Prinzip: Mehr gesellschaftliche Inklusion durch Weiterbildung von Dr. Peter Brandt, Matilde Grünhage-Monetti, Felicitas von Küchler, Monika Tröster (alle DIE) Weiterbildung sichert Lebenschancen – auch für sozial Benachteiligte. Sie können Bildungsabschlüsse nachholen und nachträglich Kompetenzen erwerben, die für den heutigen Arbeitsmarkt essentiell sind. Migranten können die Sprache der Mehrheitsgesellschaft lernen und Arbeitslose in Umschulungsmaßnahmen die so genannte Employability wiederherstellen. Weiterbildung leistet tatsächlich einen Beitrag zu mehr Teilhabe (Inklusion) wider den sozialen Ausschluss. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ein genauerer Blick in die Weiterbildungsforschung führt zu einem sperrigen Befund: An Weiterbildung nehmen am meisten jene teil, die ohnehin bereits in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert sind. … 2007 nahmen … 43 Prozent der Bevölkerung zwischen 19 und 64 Jahren an Weiterbildungen teil – allgemeinbildender oder beruflicher Art. Unter den Bevölkerungsgruppen, die inklusionskritische soziodemographische Merkmale aufweisen, liegen die Teilnahmequoten erheblich unter diesem Durchschnitt von 43 Prozent: Bei den Personen mit niedrigen Schulabschlüssen liegt sie bei 30 Prozent, bei den Nicht-Erwerbstätigen bei 29 Prozent, und von der Gruppe derjenigen, die keine Berufsausbildung abgeschlossen haben, nehmen nur 23 Prozent an Weiterbildung teil. Für die Weiterbildungsbeteiligung spielt auch der Migrationshintergrund eine Rolle: Während die Weiterbildungsquote bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund 44 Prozent beträgt, liegt sie bei Ausländern bei 39 und bei Deutschen mit Migrationshintergrund gar bei nur 34 Prozent. Die Beteiligungsquoten lassen sich auch in Chancen ausdrücken: Hierfür errechnet die Bildungsforschung Chancenwahrscheinlichkeiten. … Danach war die Chance, an beruflicher Weiterbildung teilzunehmen, für Hochschulabsolventen knapp acht mal so hoch wie für Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die hier als Referenzgruppe fungiert. Und schon für eine Lehre gilt: Wer eine abschließt, hat seine Teilnahmewahrscheinlichkeit an Weiterbildung bereits mehr als verdoppelt. … Das Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben“) ist in der Weiterbildung von bleibender Aktualität. … *Inklusionsfördernde Strategien Eine Bildungsforschung, die nach inklusionsfördernden Strategien fragt, muss mehrere Faktoren in den Blick nehmen: die Lernenden, Lernangebote, Lernwirkungen, Zugangsmöglichkeiten und ordnungspolitische Rahmenbedingungen. Anhand dreier Beispielgruppen (Langzeitarbeitslose, Analphabeten und Migranten) werden solche Forschungsfragen vorgestellt, deren Bearbeitung im Blick auf Inklusion Besserung verspricht: (1) Dauerhafte Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine Situation finanzieller Einschränkung, sondern auch der sozialen Marginalisierung und der Dialektik von Fremd- und Selbstentwertung mit gravierenden Folgen für die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensgestaltung. Langzeitarbeitslose gelten als schwer vermittelbar. …Gibt es überhaupt geeignete Weiterbildungsmöglichkeiten in ausreichender Anzahl? Und: Rein wissensbasierte Lernangebote können die Fähigkeiten der Betroffenen nicht wieder aktivieren. Wie genau müssen geeignete Lernarrangements aussehen? (2) In Deutschland gibt es Schätzungen zufolge vier Millionen funktionale Analphabeten, Menschen, die aufgrund unzureichender Schriftsprachkompetenz von Exklusion bedroht sind. Zwar halten Weiterbildungseinrichtungen, insbesondere Volkshochschulen, Angebote zur Alphabetisierung und Grundbildung vor. Um fundiert Empfehlungen zu erarbeiten, wie der Alphabetisierungsbereich professionalisiert werden kann, müsste aber mehr Datenmaterial vorliegen, Fakten über Teilnehmende, Anbieter, Angebote, Lehrende sowie institutionelle Rahmenbedingungen. … Um ein differenzierteres Ergebnis zur Angebots- und Nachfrageseite zu erhalten, wird vom DIE-Programm Inklusion eine quantitative Erhebung vorbereitet, die um qualitative Expertengespräche ergänzt wird. Auf der Grundlage … können Beratungskonzepte für Weiterbildungseinrichtungen erarbeitet werden. (3) In Deutschland leben und arbeiten gut 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund. … Viele beherrschen die deutsche Sprache unzureichend. In einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft aber sind kommunikative Kompetenzen in der Sprache der Mehrheitsgesellschaft eine zentrale berufliche Schlüsselqualifikation zur Inklusion. … Neben den Sprachkursangeboten für Neuzuwanderer dürfte aus Weiterbildungssicht ein Hauptaugenmerk demnach dem Arbeitsplatz gelten als einem zentralen sozialen Ort interkultureller Kommunikation. Aber noch fehlen empirisch fundierte Grundlagen, auf denen Weiterbildungsangebote zur Förderung der Zweitsprache am Arbeitsplatz aufbauen könnten. Offen ist: Welche sprachlichen Kompetenzen sind für eine langfristige und erfolgreiche berufliche und soziale Integration am Arbeitsplatz von Beschäftigten mit Migrationshintergrund erforderlich? Wie können diese Kompetenzen am besten vermittelt werden? Welche strukturellen Rahmenbedingungen sind dafür erforderlich? Gefördert von der VW Stiftung entwickelt das DIE Instrumente für Forschung und Praxis, um die kommunikativen Anforderungen am Arbeitsplatz präzise zu erfassen und dafür gezielt Schulungsangebote auszuarbeiten. … Inklusion durch Weiterbildung ist ein komplexer mehrdimensionaler Prozess, bei dem Bedingungen der Weiterbildungseinrichtungen und der (ordnungs-)politischen und finanziellen Rahmensetzungen auf ihre Wirkungen hin analysiert werden müssen. “ Der Zwischenruf kann über aufgeführtem Link der Homepage der Leibniz-Gemeinschaft runtergeladen werden.
http://bildungsklick.de/a/63764/zu-viele-menschen-werden-von-bildungschancen-ausgeschlossen/
Artikel
Quelle: Bildungklick Zwischenruf: Leibnitz-Gemeinschaft Heft 1/2008