FACHVERANSTALTUNG IM RAHMEN DER MITGLIEDERVERSAMMLUNG DER BAG KJS VOM 19.11.08 Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Bernzen: “ Ist § 13 SGB VIII noch aktuell – was bleibt von der Jugendsozialarbeit? 1. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Jugendhilfe und Arbeitsförderung/ Grundsicherung, 2. die Frage von Vorrang und Nachrang, 3. die Zuständigkeit der Jugendhilfe für das Klientel der Jugendsozialarbeit, 4. Federführung, Übergänge und Kooperationen und 5. die Rolle der freien Träger. 1. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Jugendhilfe und Arbeitsförderung/ Grundsicherung Jugendsozialarbeit und Arbeitsförderung haben unterschiedliche historische Wurzeln und dienen seit jeher der Lösung ganz unterschiedlicher sozialer Probleme. Die Jugendsozialarbeit stellt den Kern der Jugendhilfe nach der gesellschaftlichen Entwicklung der eigenständigen Lebensphase „Jugend“ dar. Das besondere dieser Lebensphase ist, seit dem sie sich etwa in der Mitte des vor vergangenen Jahrhunderts entwickelt hat, die Zuordnung einer eigenen Lebensphase zum Zwecke der Berufsausbildung zu Menschen, die physisch bereits erwachsen sind. Sie sind aber, weil sie sich noch in der Phase einer Ausbildung befinden, regelmäßig ökonomisch schwach oder ungesichert und bedürfen so besonderen Schutzes und besonderer Förderung. Sie sind zudem durch die Entwicklung eines eigenständigen Systems von Berufsausbildung in eine Situation gekommen, in der einerseits der Wechsel von der Schule in die Berufsausbildung und andererseits der Wechsel von der Berufsausbildung in das Arbeitsleben gelingen muss, um eine ökonomische Eigenständigkeit zu erreichen. Auf dieses Geschehen hatte die Jugendsozialarbeit dadurch reagiert, dass sie denjenigen jungen Menschen, die bei diesen Wechseln besondere Schwierigkeiten hatten, eine sozialpädagogische Begleitung und Unterstützung angeboten hat. Um diese Begleitung und Unterstützung möglichst einfach wirksam werden zu lassen, hatte die Jugendsozialarbeit ihre Leistung häufig mit Ausbildungs-, Beschäftigungs- und hohen Angeboten verbunden. Das System der Arbeitsförderung hat sich als System zur ökonomischen Sicherung von Menschen entwickelt, die arbeitsfähig sind, aber den es derzeit nicht möglich ist, eine Beschäftigung zu erlangen. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Aufgabenbeschreibung der Jugendsozialarbeit und der Arbeitsförderung in dem oben dargestellten Sinn hat es bis zur Einführung der sog. „Hartz-IV-Gesetze“ keine substantielle Konkurrenz zwischen der Arbeitsförderung und der Jugendsozialarbeit gegeben. Dieses hat sich erst geändert, als im Zuge der sog. „Hartz-IV-Reformen“ die Arbeitsförderung eine grundsätzliche Neuausrichtung unter der Überschrift „Fordern und Fördern“ erfahren hat. Kern dieser Neuausrichtung war eine substantielle Erweiterung der Aufgaben der Arbeitsförderung über die ökonomische Sicherung hinaus hin zu aktiven Bemühungen um die Eingliederung von Arbeitssuchenden in das Arbeitsleben und die Gesellschaft. Hiermit ergaben sich zugleich Überschneidungen im Aufgabenfeld der Arbeitsförderung und der Jugendsozialarbeit. Vor diesem Hintergrund wird z. Zt. vielfach beschrieben, dass die Träger der Jugendsozialarbeit aus traditionellen Tätigkeitsfeldern im Bereich der Jugendsozialarbeit zurück gedrängt werden und dass sich die Formen der öffentlichen Kofinanzierung der Jugendsozialarbeit von Zuwendungssystemen hin zu Austauschsystemen verändern. Zugleich gibt es in diesem Zusammenhang vielfältige Hinweise darauf, dass fachliche Standards, die in der Jugendsozialarbeit lange Zeit unbestritten waren, eine abnehmende Rolle spielen. 2. Die Frage von Vorrang und Nachrang Die oben beschriebene Situation ist in Sonderheit deshalb von besonderem Gewicht, weil der Zugriff der Arbeitsverwaltung auf eine Vielzahl von Aufgaben, die bisher und traditionell der Jugendsozialarbeit zugeordnet waren, mit dem Hinweis auf die Vorrang- und Nachrang-Regelungen innerhalb der Bestimmungen des Sozialgesetzbuches begründetet wird. Diese Bestimmungen folgen im Ergebnis dem Grundgedanken, dass die Sozialversicherungssysteme Vorrang vor den steuerfinanzierten Leistungssystemen des SGB VIII und des SGB XII haben. Konkretisiert wird dieser Gedanke in § 10 Abs. 3 SGB VIII. Danach haben SGB VIII-Leistungen grundsätzlich Vorrang vor SGB II-Leistungen. Dieses gilt aber nicht bei Leistungen nach den §§ 3 Abs. 2 und 14 bis 16 SGB II. Dieses bedeutet im Ergebnis, dass wesentliche Teile der Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben für junge Menschen nach dem SGB II als vorrangige Leistungen zu der Jugendsozialarbeit nach dem SGB VIII anzusehen ist. Voraussetzung für eine Anwendung der Vorrang- und Nachrang-Regelungen ist jedoch, dass drei Voraussetzungen vorliegen. Zum einen muss es eine Identität der Anspruchsinhaber geben. Diese fehlt beispielsweise dann, wenn einerseits junge Menschen, andererseits ihre Sorgeberechtigten z. B. bei den Hilfen zur Erziehung anspruchsberechtigt sind. Zum zweiten muss es eine Kongruenz der Hilfeziele geben. Die Förderung der Gesundheit, der Arbeitsaufnahme und der Erziehung sind jeweils inkongruente Hilfeziele. Bei der Anwendung von Vorrang- und Nachrang-Regelungen ist also stets zu prüfen, was das Hilfeziel der jeweils einzelnen Maßnahme ist. Es ist in diesem Sinne wahrscheinlich, dass Maßnahmen, die der Erziehung dienen und die entsprechend nach dem SGB VIII zu bewilligen sind und Maßnahmen, die der Arbeitsförderung dienen, nicht identische Hilfeziele haben. Schließlich ist erforderlich, dass das Leistungsgeschehen kongruent ist. In diesem Sinne ist zu beachten, dass stationäre, teilstationäre und ambulante Hilfeformen inkongruent sind. 3. Die Zuständigkeit der Jugendhilfe für das Klientel der Jugendsozialarbeit Zunächst ist zu beachten, dass die Zuständigkeit der Jugendhilfe gem. § 2 SGB VIII sich nicht verändert hat. Entsprechend gehören die Leistungen der Jugendsozialarbeit nach Abs. 2 Nr. 1 der genannten Vorschrift auch weiter zum Leistungsspektrum der Jugendhilfe. Dieses ist auch durch die sog. „Hartz- IV-Reform“ nicht verändert worden. Verändert hat sich allerdings der Bedarf des Klientels der Jugendsozialarbeit wegen der nach dem SGB II und dem SGB III vorgesehen Leistungen. Der Arbeitsförderungsbedarf wird nun regelmäßig direkt und nicht mehr als Annex zu den Erziehungsleistungen nach dem SGB VIII gedeckt. Der Bedarf an Erziehungsunterstützung kann jedoch weiter bestehen und ist im Einzelfall zu identifizieren. Hieran fehlt es häufig. In dem bisherigen System eher einrichtungsbezogener Finanzierung der Jugendsozialarbeit ist auf diesen Umstand relativ wenig Aufmerksamkeit gelegt worden. Nun aber dürfte eine sinnvolle Hilfebewilligung für Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII regelmäßig voraussetzen, dass eine solide Ermittlung des Hilfebedarfes im erzieherischen Sinne, die nicht selten auch Diagnostik genannt wird, durchgeführt wird. Ist mit einem soliden Verfahren dieser erzieherische Hilfebedarf ermittelt worden und lehnen es einzelne Träger der Jugendhilfe ab, diesen Bedarf zu decken, haben die jungen Menschen die Möglichkeit, die Deckung ihres Hilfebedarfes auch gerichtlich durchzusetzen. Hierbei werden sie nicht selten anwaltlicher Unterstützung bedürfen. Diese wird oft nur dann zu erlangen sein, wenn sich auch die Träger der Jugendsozialarbeit um eine Unterstützung der jungen Menschen, denen eine Deckung ihres Hilfebedarfes verweigert wird, bekümmern. 4. Federführung, Übergänge und Kooperationen Die oben aufgezeichnete Lösung für die jungen Menschen mit Bedarfen an Jugendsozialarbeit wirft nicht wenige Probleme auf, die die Folge der Zersplitterung des Sozialleistungsgeschehens in Deutschland sind. Es ist in dem gegliederten und zersplitterten deutschen Sozialleistungssystem nicht selten, dass eine parallele Hilfen geleistet werden. Dieses ist nicht nur nachteilig. Es hat auch Vorteile. Die Nachteile liegen darin, dass zum einen die öffentlichen Mittel teilweise unwirtschaftlich eingesetzt werden und zum anderen die verschiedenen Hilfeleistungssysteme sich z. T. behindern. Die Vorteile liegen darin, dass für den Hilfeempfänger Wahlmöglichkeiten bestehen und seine Würde auch dadurch gewahrt wird, dass er nicht an allen öffentlichen Stellen seine kompletten Lebensumstände offenbaren muss. Eine Lösung im Sinne einer einheitlichen Federführung für die Sozialleistungen ist bisher nur in wenigen Teilbereichen gefunden worden. Prominentes Beispiel für ein solchen Lösungsversuch ist das Rehabilitationsrecht des SGB IX. Bei der Anwendung von Instrumenten aus dem SGB IX für den Adressatenkreis von Jugendsozialarbeit ist zu beachten, dass die Jugendhilfe nur eingeschränkt Reha-Träger ist. Sind aber die Bestimmungen des SGB IX im Einzelfall anwendbar, kann eine Lösung auch dadurch gesucht werden, dass eine Deckung des Hilfebedarfes durch die Leistungsgewährung im Rahmen eines persönlichen Budgets gesucht wird. Hierauf hat der Hilfeempfänger im Einzelfall einen Anspruch. 5. Die Rolle der freien Träger In den zuwendungsfinanzierten Systemen waren die freien Träger wesentlicher Garant dafür, dass das Leistungsgeschehen in Pluralität sich ereignen konnte. Sie ermöglichten eine sinnvolle Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts für Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger auch deshalb, weil ihre Angebote, die unterschiedlichen weltanschaulichen Systemen verpflichtet waren, für die einzelnen Personen, die die Hilfe in Anspruch nahmen, mit ihren eigenen Interessen in Übereinstimmung zu bringen waren. Mit dem Wechsel zu den Austauschsystemen im Rahmen der Arbeitsförderung hat sich diese Situation verändert. Aus freien Trägern wurden Leistungserbringer. Diese schulden vertraglich vereinbarte Leistungen ihrem Auftraggeber. Auftraggeber in diesem Sinne können sowohl die Sozialleistungsträger nach dem SGB II und SGB III, wie auch Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger sein. Hier gibt es noch einen Raum für weitere Gestaltungen. Sicher ist aber, dass sich in den oben dargestellten veränderten Rahmenbedingungen auch die Rolle der freien Träger und Leistungsanbieter grundlegend verändert hat. “
Quelle: BAG KJS Christian Bernzen