VIELE BEDARFSGEMEINSCHAFTEN BLEIBEN LANGE BEDÜRFTIG Welcher Teil der Bevölkerung in Deutschland hat Erfahrungen mit der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) gemacht? Wie viele Haushalte waren langfristig auf deren Leistungen angewiesen? Bei der Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) im Januar 2005 bezogen 3,33 Mio. Bedarfsgemeinschaften mit 6,12 Mio. Personen die neue Leistung. Nach dem bisherigen Höchststand im Mai 2006 mit 4,13 Mio. Bedarfsgemeinschaften und 7,44 Mio. Personen nahm die Zahl der Bedarfsgemeinschaften bis Dezember 2007 auf 3,62 Mio. mit 7,02 Mio. Personen ab. Durch Zu- und Abgänge im SGB II fand ein teilweiser Austausch der bedürftigen Haushalte statt. Diesen Turnover untersuchten Tobias Graf und Helmut Rudolph vom IAB genauer. Die Ergebnisse liegen im neuen IAB-Kurzbericht vor. Auszüge aus dem IAB-Kurzbericht zur Dynamik im SGB II: “ … BESTAND UND TURNOVER DER LEISTUNGSBEZIEHER IM SGB II Über die Zahl der Bedarfsgemeinschaften, die in dem jeweiligen Monat Leistungen der Grundsicherung erhalten haben, informiert die Bundesagentur für Arbeit (BA) regelmäßig in ihren Monatsberichten. … Die Bedarfsgemeinschaften werden nach dem Leistungsverlauf eingeteilt in solche, die – von Januar 2005 bis Dezember 2007 durchgehend Leistungen bezogen – im Januar 2005 Leistungen bezogen, aber innerhalb der drei Jahre aus dem Leistungsbezug abgingen oder diesen unterbrechen konnten – nach Januar 2005 neu oder wiederholt auf Unterstützung angewiesen waren, jedoch den Leistungsbezug vor Dezember 2007 verlassen konnten – nach Januar 2005 neu oder wiederholt auf Unterstützung angewiesen waren und bis Dezember 2007 im SGB II verblieben. Dem Langzeitbezug wurden alle Leistungsperioden von mindestens 12 Monaten Dauer ab dem Leistungsbeginn zugeordnet … Im Sockel verbleiben 1,5 Mio. Bedarfsgemeinschaften, die drei Jahre durchgängig bedürftig waren. Sie machen 40 Prozent des dreijährigen Durchschnitts aus. Bezogen auf den Anfangsbestand beträgt die Verbleibsrate 45 Prozent. Dagegen konnten 1,83 Mio. Bedarfsgemeinschaften, die im Januar 2005 erstmals Leistungen des SGB II in Anspruch nahmen, (zumindest zeitweise) ihre Hilfebedürftigkeit überwinden. Nach Januar 2005 beantragten 4,07 Mio. Bedarfsgemeinschaften neu oder wiederholt SGB-II-Leistungen. Davon konnten 1,95 Mio. den Leistungsbezug bis Dezember 2007 wieder beenden. Der Großteil des Leistungsbezugs in der Grundsicherung entfällt auf Bedarfsgemeinschaften, die mindestens ein Jahr Leistungen beziehen. Das heißt auch, dass die Fluktuation überwiegend nach kurzer Bezugsdauer stattfindet – sei es, dass die Bedürftigkeit kurzfristig überwunden … Im Dezember 2007 bezogen demnach über 2,7 Mio. Bedarfsgemeinschaften ununterbrochen seit mindestens 12 Monaten Leistungen nach dem SGB II das sind 75 Prozent des Monatsbestands. Gegenüber Dezember 2006 ist die Zahl dieser Langzeitbezieher nur unwesentlich um 7.000 Bedarfsgemeinschaften gesunken, während sich die Zahl der Bedarfsgemeinschaften insgesamt um 150.000 verringerte. Die Abnahme ist also auf geringere Neuzugänge und den Abgang von Kurzzeitbeziehern zurückzuführen. Zu der genannten Zahl der Langzeitbezieher vom Dezember 2007 kamen weitere 332.000 Bedarfsgemeinschaften hinzu, die seit Januar 2005 in mehreren Leistungsperioden zusammen mindestens 12 Monate Unterstützung erhalten hatten. Gemessen an der kumulierten Bezugsdauer können Ende 2007 84 Prozent der Bedarfsgemeinschaften als Langzeitbezieher gelten. … Der Unterschied von Langzeitbezug in der laufenden Leistungsperiode und von kumuliertem Langzeitbezug in einem längeren Beobachtungsfenster macht darauf aufmerksam, dass Bedürftigkeit häufig nicht dauerhaft überwunden wird. Wechselnde Einkommen und wiederholte Arbeitslosigkeit führen zu kontinuierlichen und diskontinuierlichen Verlaufsmustern von Einkommensarmut, die bereits aus der Sozialhilfe der 80er und 90er Jahre bekannt sind … In der Grundsicherung wurden nach Beendigung einer Leistungsperiode bisher etwa 40 Prozent der Personen innerhalb von 12 Monaten wieder bedürftig. … REICHWEITE DES SGB II Da der Bestand der Leistungsbezieher stark vom Langzeitbezug geprägt ist, muss nach der Reichweite des SGB II in der Bevölkerung in Deutschland gefragt werden. Wie viele Haushalte(~Bedarfsgemeinschaften) und wie viele Personen haben seit Januar 2005 Leistungen des SGB II in Anspruch genommen? Nach den 6,12 Mio. Personen, die im Januar 2005 Leistungen erhielten, kamen innerhalb der folgenden drei Jahre weitere 5,48 Mio. Personen (darunter ca.0,4 Mio. Neugeborene) hinzu, so dass bis Dezember 2007 11,6 Mio. verschiedene Personen (darunter 8,87 Mio. erwerbsfähige Hilfebedürftige) in 7,03 Mio. verschiedenen Bedarfsgemeinschaften zeitweise Unterstützung erhielten. … Die Reichweite steigt in dem Maße an, wie Leistungsempfänger die Bedürftigkeit überwinden konnten und nicht erneut bedürftig wurden und Personen erstmalig Leistungen beantragten. Allmählich flacht der Zuwachs ab und erfasst weniger neue Bedarfsgemeinschaften. Bei nur langsam abnehmender Bedürftigkeit bedeutet das, dass Personen und Bedarfsgemeinschaften erneut Leistungen beziehen, so dass Zeiten von kumuliertem Leistungsbezug zunehmen. … Aus dem Verhältnis von Betroffenen zum Durchschnitt und dem Anteil der ganzjährigen Leistungsbezieher zum Durchschnitt werden das Ausmaß der Fluktuation bzw. der Umfang von verfestigtem Leistungsbezug deutlich. In den drei Kalenderjahren hat das Verhältnis von Betroffenen zum Jahresdurchschnitt durchgängig abgenommen und der Anteil der ganzjährigen Leistungsbezieher zugenommen. Das heißt, die Fluktuation hat sich verringert, längerer Leistungsbezug hat relativ zugenommen. Absolut ist der ganzjährige Leistungsbezug zwischen 2006 und 2007 nahezu gleichgeblieben, obwohl die Anzahl der Hilfebedürftigen zurückgegangen ist. Die Abnahme ist auf verringerte Zugänge und schnellere Beendigung der Hilfebedürftigkeit bei kurzer Dauer zurückzuführen. Dehnt man die Kennzahlen auf den gesamten Zeitraum der drei Jahre aus, steigt die Zahl der Betroffenen … Anzahl und Anteil der dauerhaften Leistungsbezieher der drei Jahre sinken zwar, bilden aber mit 39 Prozent der Bedarfsgemeinschaften und 44 Prozent der Personen einen großen Block der permanent Bedürftigen. Das Verhältnis von Leistungsbeziehern eines Monats zu der potenziell antragsberechtigten Bevölkerung (Haushalte mit erwerbsfähigem Antragsteller unter 65 Jahren) wird „Bedürftigkeitsquote“ genannt und wird regelmäßig von der BA-Statistik in Berichten ausgewiesen. Mit dem Verhältnis der Betroffenen eines Zeitraums zur anspruchsberechtigen Bevölkerung wird die Reichweite des SGB II bezeichnet. Die Reichweite des SGB II beträgt in den ersten drei Jahren seiner Gültigkeit etwa 18 Prozent für die Bevölkerung unter 65 Jahren und 16 Prozent für Personen im Erwerbsalter zwischen 15 und 64 Jahren. Die Reichweite im dreijährigen Zeitraum ist also eineinhalb- bis zweimal so groß wie im Dezember 2007 (Bedürftigkeitsquote), weil viele Haushalte und Personen zwischenzeitlich die Grundsicherung in Anspruch genommen haben, die am Ende des Zeitraums keine Zahlungen mehr erhielten. Die Reichweite ist als Obergrenze für den Umfang zu sehen, in dem die Bevölkerung bisher direkte Erfahrungen mit dem System der Grundsicherung des SGB II gemacht hat. Für Bedarfsgemeinschaften liegt der Anteil mit ca. 22 Prozent besonders hoch, weil Bedarfsgemeinschaften sich durch Aus- und Umzug häufiger neu formieren. Es sind deshalb Obergrenzen, weil das Potenzial im Nenner die Jahrgänge nicht enthält, die im Beobachtungszeitraum die Altersgrenze von 65 Jahren überschritten haben oder durch Fortzüge nicht mehr erfasst werden. … DYNAMIK DES LEISTUNGSBEZUGS – ZUGANGSKOHORTE UND VERBLEIBSRATEN … Es werden vier Typen vo Bedarfsgemeinschaften unterschieden: – Alleinstehende, – Alleinerziehende mit Kind(ern) unter 18 Jahren, – Paare ohne Kind und – Paare mit Kind(ern) unter 18 Jahren. Nach einer Rechtsänderung von 2006 werden auch volljährige Kinder unter 25 Jahren der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugeordnet. Damit die Ergebnisse zeitlich vergleichbar bleiben, werden hier Bedarfsgemeinschaften mit Kindern über 18 Jahren nicht in die Auswertung einbezogen. … Konnte 2006 gegenüber 2005 zunächst eine beschleunigte Beendigung der Bedürftigkeit festgestellt werden, zeigten sich für alle betrachteten Kohorten in 2007 gegenüber 2006 nahezu unveränderte Verbleibskurven. Paare ohne Kinder können die Bedürftigkeit erwartungsgemäß am schnellsten überwinden. Nach drei Jahren blieben aber immer noch 26 Prozent der Kohorte aus 2005 durchgehend auf Leistungen angewiesen. Während Alleinstehende bereits bei relativ geringem Einkommen keinen Leistungsanspruch mehr haben, müssen Paare wegen des höheren Bedarfs ein höheres Einkommen erzielen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass in der Regel zwei Personen verpflichtet sind, für ihren Einkommensbeitrag zu sorgen. Die Ausstiegschancen sind nach 36 Monaten zwar etwa gleich günstig, dies ist aber vermutlich auf das SGB-II-Änderungsgesetz im Jahr 2006 zurückzuführen. Alleinerziehende verbleiben … am längsten im Leistungsbezug. Nach einem Jahr nehmen noch etwa zwei Drittel, nach drei Jahren noch knapp die Hälfte von ihnen (45 %) durchgehend Leistungen in Anspruch. Alleinerziehende sind eine besondere Gruppe mit erhöhtem Armutsrisiko, für die aufgrund der Betreuung der Kinder eine Arbeitsaufnahme schwieriger und nach den rechtlichen Vorgaben häufig nicht oder nur in eingeschränktem Umfang zumutbar ist. Sie können sich von der Arbeitsuche freistellen lassen, wenn die Betreuung kleiner Kinder im Hort oder Kindergarten nicht gewährleistet ist. Paare mit Kind(ern) haben den größten Bedarf zur Versorgung ihres Haushalts. Gegenüber Alleinerziehenden haben sie jedoch größere Spielräume, Erwerbstätigkeit und Betreuungsaufgaben zu organisieren. Entsprechend beenden sie die Bedürftigkeit schneller als Alleinerziehende. Nach 12 Monaten bleibt noch gut die Hälfte dieser Bedarfsgemeinschaften auf Leistungen angewiesen, nach drei Jahren sind es noch 30 Prozent. Dies gilt für die Zugangskohorte aus 2005 für die Zugangskohorte aus 2006 werden die 30 Prozent bereits nach 23 Monaten erreicht. Eine Beendigung des Leistungsbezugs ist jedoch in vielen Fällen nicht nachhaltig, es kommt zum wiederholten und kumulierten Leistungsbezug. … Weitgehend übereinstimmend erhöht sich der Anteil der Bedarfsgemeinschaften, die immer noch leistungsabhängig sind, in allen Konstellationen um 6 bis 10 Prozentpunkte durch jene, die wieder bedürftig geworden sind. Ein Vergleich der drei Jahre zeigt, dass die Überwindung der Bedürftigkeit sich bei allen Bedarfsgemeinschaftstypen in den Jahren 2006 und 2007 gegenüber dem Einführungsjahr der Grundsicherung 2005 beschleunigt hat. Gründe hierfür sind in der verbesserten Arbeitsmarktlage und der inzwischen besser eingespielten Vermittlungsaktivität der Träger zu sehen. Der leicht verlangsamte Abgang im Jahr 2007 gegenüber 2006 bei den Alleinstehenden hängt vermutlich noch mit dem SGB-II-Änderungsgesetz im Jahr 2006 zusammen, welches volljährige Personen unter 25 Jahren der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zurechnete, sofern diese im gleichen Haushalt wohnten. Hierdurch hatte sich der Abgangsprozess bei den Alleinstehenden im Jahr 2006 (vorübergehend) erheblich beschleunigt. Bei den Alleinerziehenden sowie in Paar-Haushalten ergeben sich im Jahr 2007 gegenüber dem Jahr 2006 keine wesentlichen Unterschiede … FAZIT In den drei Jahren seit Einführung des SGB II fand ein Umschlag unter den Leistungsempfängern statt, der jedoch nur einen Teil der Personen und Bedarfsgemeinschaften betraf. Viele Bedarfsgemeinschaften blieben dauerhaft auf die Grundsicherung angewiesen. … Fast 85 Prozent der Bedarfsgemeinschaften vom Dezember 2007 hatten seit Januar 2005 kumuliert 12 Monate und mehr Grundsicherungsleistungen bezogen. Der Langzeitbezug prägt den Bestand und damit die Ausgaben für die Grundsicherung. Wie in der Sozialhilfe und bei der Arbeitslosigkeit ist auch die Bezugsdauer der Leistungen aus der Grundsicherung sehr ungleich verteilt. Mehr als die Hälfte der Leistungsepisoden werden innerhalb eines Jahres beendet. Sie prägen die Fluktuation, schlagen sich aber nur kurzzeitig im Bestand nieder und prägen die SGB II-Ausgaben nur in geringem Umfang. Vor dem Hintergrund geänderter institutioneller Rahmenbedingungen zeichnet sich eine Strukturierung der Dynamik in kurze und lange, kontinuierliche und diskontinuierliche Leistungsperioden ab. … Jenseits der aktuell bedürftigen Haushalte hat das SGB II als Grundsicherungssystem in den ersten drei Jahren eine erhebliche Reichweite entfaltet. Etwa 18 Prozent der potenziell anspruchsberechtigten Bevölkerung hat bisher die Leistungen zumindest zeitweilig in Anspruch nehmen können und müssen. Das System wirkt weit über Langzeitarbeitslose hinaus und bildet eine Grundsicherung nicht nur für Arbeitsuchende, sondern für einen großen Teil der Bevölkerung im Erwerbsalter und ihre Kinder. … “ Den Bericht in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang oder aufgeführtem Link.
http://www.iab.de
http://www.iab.de/194/section.aspx/Publikation/k090306a02
Quelle: IAB
Dokumente: iab_kb_Dynamik_im_SGB_II.pdf