Informell erworbene Kompetenzen anerkennen – Aber wie?

STUDIE DER BERTELSMANNSTIFTUNG ZU RAHMENBEDINGUNGEN DER ANERKENNUNG INFORMELL ERWORBENER KOMPETENZEN Die Autoren der Studie Brigitte Geldermann, Sabine Seidel und Eckart Severing befassen sich mit der Notwendigkeit und Anerkennung informellen Lernens. Dieses schließt nach Meinung der Autoren die Förderung des Kompetenzerwerbs ein, der sich außerhalb von institutionalisierten Bildungsveranstaltungen vollzieht. Weiterhin geben Sie Hinweise zu zertifizierenden Institutionen in Deutschland und zeigen bestehende Möglichkeiten der Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen auf. Danach werden bestehende Verfahren der Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen vorgestellt sowie Ansätze und Verfahren ausgewählter europäischer Länder wie Österreich, der Schweiz, Finnland, Frankreich und Großbritannien. Jürgen Döllmann – Referent für Jugendberufshilfe beim Deutschen Kolpingwerk – fasst die wichtigsten Inhalte der Veröffentlichung auszugsweise zusammen: “ 1) Notwendigkeit: „Wer im Arbeitsprozess, in der Freizeit … berufliche Qualifikationen und Kompetenzen erworben hat, wird sie an seinem Arbeitsplatz nutzen können. Den Zugang zu formalisierten Bildungsgängen öffnen sie ihm in der Regel nicht. Bei einem Wechsel des Arbeitgebers fallen ihr Nachweis und daher auch ihre Verwertung schwer.“ Nach Einschätzung der Autoren ist eine Zertifizierung im Sinne des Erwerbs von Berechtigungen im Bildungs- und Beschäftigungssystem in Deutschland allerdings bislang kaum vorgesehen. Als Gründe werden in der Studie zitiert: Die Nachfrage war bisher gering, da u.a. das formale Bildungssystem bis vor wenigen Jahren die relevanten Altersgruppen weitgehend absorbierte und das deutsche Bildungssystem stark auf die Erstausbildung im dualen System ausgerichtet sei. Da das duale System auch Erfahrungslernen in der betrieblichen Praxis einschließt, wird keine Notwendigkeit gesehen, dieses Lernen zusätzlich zu berücksichtigen. 2) Bestehende Möglichkeiten der Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen: In Deutschland ist eine Anerkennung informell erworbener Kompetenzen nur in dem eingeschränkten Sinne möglich, dass es um die formale Zulassung zur Prüfung geht. Im Arbeitsmarkt findet de facto eine Anerkennung z.B. der Berufserfahrung bei der Personalauswahl und Gehaltseinstufung statt. Standardisierte Verfahren kommen allerdings selten zum Einsatz. Die Möglichkeit, einen Berufsabschluss ohne Absolvierung des Ausbildungsgangs zu erlangen (Externenprüfung), liegt als Anteil bei allen Prüfungen bei ca. 7%. Bei den meisten Bildungs – und Kompetenzpässe, die in Deutschland teilweise Verbreitung gefunden haben, fehlen Transparenz und Systematik. 3) Verfahren der Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen: Bei Weiterbildungspässen und Kompetenzbilanzen wird die Fremdbewertung in der Regel durch eine Selbsteinschätzung eigener Kompetenzen ergänzt oder auch ersetzt. Im Mittelpunkt derartiger Verfahren steht weniger eine Anerkennung der erhobenen Kompetenzen im Sinne des Erwerbs von Berechtigungen im Bildungs- oder Berufssystem als vielmehr die Identifizierung und Sichtbarmachung von Kompetenzen, die Unterstützung bei beruflicher Orientierung sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins der Lernenden. Verfahren der Kompetenzerfassung haben oft eine Fremdbeurteilung als wesentliches methodisches Element. 4) Ergebnisse und Empfehlungen: Zur Dokumentation beruflicher Kompetenzen führen in Deutschland bisher fast ausschließlich der formale Bildungsweg und dessen Zertifizierung. Qualifikationsnachweise beruhen nach wie vor weitgehend auf formalisierten Bildungsgängen und Prüfungen, die jedoch angesichts sich schneller wandelnder Anforderungen in der Berufs- und Arbeitswelt als Basis für die Personalauswahl nur begrenzte Aussagekraft haben. Lernen, das sich unterhalb der formalisierten Bildung in offenen Kontexten vollzieht, wird nur in geringem Maße dokumentiert und sehr selten zertifiziert. Eine Reihe von Initiativen hat Verfahren einer Dokumentation und Zertifizierung informellen Lernens vorgelegt. Es fehlt ihnen allerdings an Bezug auf die im Arbeitsmarkt etablierten Standards des formalen Bildungsssystems. Der Vorsatz, informell erworbene Kompetenzen mit Zertifikaten der formalen Bildung zu validieren, führt zwei Welten zusammen, die sich in grundsätzlicher Weise unterscheiden. Daraus leitet sich die Forderung ab, standardisierte Dokumentationsverfahren bekannter zu machen und gegebenenfalls auf die Anforderungen der Arbeitgeber anzupassen. Weiterhin muss gerade in KMU durch Marketinginitiativen die Auseinandersetzung mit Kompetenzprofilen voran getrieben werden und es müssen Hinweise gegeben werden, wie Kompetenzpässe in die strategische Personalentwicklung eingebunden werden können. Länderstudien: Österreich und die Schweiz haben auf der Basis eines dem deutschen vergleichbaren Bildungssystems Ansätze der formalen Anerkennung informellen Lernens entwickelt. Finnland und das Vereinigte Königreich stehen für Systeme kompetenzbasierter Qualifikationsstandards. Frankreich hat eine langjährige Praxis der Kompetenzbilanzierung im Sinne einer Unterstützung der Beschäftigungsfähigkeit von Individuen. Österreich: Mit der 1997 eingeführten Berufsreifeprüfung ist dem im Berufsleben erworbenen Praxiswissen, ergänzt um Allgemeinbildung, rein schulischem Wissen formal gleichgestellt. Die Anerkennung informellen Lernens spielt eine untergeordnete Rolle. Die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsbereichen soll durch Maßnahmen der Zulassung zu einer Prüfung erhöht werden. Schweiz: Im neuen Berufsbildungsgesetz ist die Möglichkeit des Quereinstiegs durch Anerkennung von Bildungsleistungen in Form von Gleichwertigkeitsbeurteilungen geregelt. Ziel ist es, differenzierte Wege der beruflichen Bildung und Durchlässigkeit zu ermöglichen. Berufliche Qualifikationen können durch eine Gesamtprüfung, eine Verbindung von Teilprüfungen oder durch andere Qualifikationsverfahren nachgewiesen werden. Finnland: Kompetenzbasierte Qualifikationen sind Verfahren zum Erwerb beruflicher Abschlüsse und damit den Abschlüssen des formalen Bildungssystems gleichgestellt. Ziel des Systems ist es, im Berufsleben und anderen Umfeldern erworbene Kenntnisse und Kompetenzen sichtbar zu machen und anzuerkennen. Die Beschreibungen der Qualifikationen werden mit den Sozialpartnern festgelegt. Kompetenzbasierte Qualifikationen ( Fähigkeiten und Wissen unabhängig davon, wo sie erworben wurden) ist die am stärksten verbreitete Form der Validierung. Frankreich: In Frankreich existiert mit der Validierung auf Erfahrung basierender Erkenntnisse ein umfassendes, sich auf alle Bildungs- und Lernbereiche beziehendes Verfahren. Hier können auch im privaten oder im ehrenamtlichen Bereich erlangte Kompetenzen Berücksichtigung finden. In Zentren, in denen unterschiedliche staatliche Institutionen vertreten sind, werden in Einzel- oder Gruppensettings die beruflichen und persönlichen Interessen und Motive analysiert, Fähigkeiten und Kompetenzen identifiziert sowie die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten festgestellt. Zentraler Bestandteil in dem Prozess sind persönliche Gespräche, Tests, Arbeitsproben, Simulationen und Rollenspiele. Vereinigtes Königreich: Es existiert ein nationales Zertifizierungssystem, das landesweit sowohl für die Erstausbildung als auch für die Weiterbildung Gültigkeit besitzt. Im Fokus stehen dabei die Ergebnisse der Lernprozesse. Zugrunde gelegt wird ein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam entwickelter Anforderungskatalog. Es zertifiziert ausschließlich Kompetenzen, die zur Ausübung einer Tätigkeit als notwendig angesehen werden. Eine Zusammenstellung von Belegen der eigenen Fähigkeiten besteht u.a. aus schriftlichen Elementen, visuellen Elementen wie Fotografien und Internetseiten, Produkten wie Bildern oder Filmen und Beobachtungen in Diskussionen und Interviews. “ Die Studie (Herausgeber: Loebe H., Severing E.) ‚Rahmenbedingungen zur Anerkennung informell erworbener Kompetenzen‘ ist in der Reihe ‚Wirtschaft und Bildung‘ beim Bertelsmann Verlag Bielefeld erschienen. 265 Seiten, ISBN: 978-3-7639-3884-1, Preis: 24,90 Euro.

Quelle: Bertelsmann Verlag

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