Laut zwei Rechtsgutachten zum Hartz-IV-Regelsatz soll dieser nicht versfassungsgemäß sein. Die Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte in einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Soziale Sicherheit“ Gutachten von Johannes Münder, Rechtswissenschaftler an der Technischen Universiät Berlin, und der Verteilungsforscherin Irene Becker. Beide Gutachten behandeln mehrere strittige Punkte. Im Ergebnis steht fest: Die neuen Regeln zur Bestimmung des Hartz-IV-Regelsatzes verstoßen gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Einer der wichtigsten Kritikpunkte ist die Vergleichsgruppe, die zur Regelsatzberechnung herangezogen wurde. Da die verdeckte Armut nicht herausgerechnet sei, ist die Vergleichsgruppe falsch abgegrenzt. In der Referenzgruppe sind auch „Aufstocker“ enthalten und Personen mit einem „Zuverdienst“ zu Sozialleistungen durch Aufwandsentschädigungen. Außerdem bemängeln die Wisschenschaftler das „Bildungs- und Teilhabepaket“ als verfassungswidrig. Kinder und Jugendliche, die in strukturschwachen Regionen lebten, wo es keine Bildungsangebote gäbe, gingen leer aus.
Berechnungswege sind nicht nachvollziebar oder entsprechen nicht den tatsächlichen Gegebenheiten
Laut Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung „identifizieren die Wissenschaftler zehn Aspekte, die das neue Verfahren verfassungsrechtlich problematisch machen. Die wichtigsten Punkte:
- Die Vergleichsgruppe ist falsch abgegrenzt, weil die verdeckte Armut nicht herausgerechnet wurde. Als Maßstab zur Regelsatzberechnung sollen Haushalte dienen, die zwar ein geringes Einkommen haben, aber nicht solche, deren Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen – etwa weil sie die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht ausschöpfen. Dazu wäre es nötig, diese in „verdeckter Armut“ lebenden Haushalte aus der Referenzgruppe herauszunehmen. Obwohl geeignete statistische Verfahren zur Verfügung stehen, sei dies aber nicht geschehen, stellen Münder und Becker fest. Damit ergeben sich systematisch zu niedrige Regelsätze.
- Aufwandsentschädigung: Sehr geringe Erwerbseinkommen verzerren Daten. Wer im Wesentlichen von Sozialleistungen lebt und bis zu 73 Euro netto im Monat verdient, müsste dem Gutachten zufolge ebenfalls aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden. Denn dieser Betrag sei nicht als frei verfügbares Einkommen, sondern als Kompensation für Aufwendungen zu interpretieren, die durch eine Erwerbsarbeit entstehen. Hier verheddere sich der Gesetzgeber in Widersprüche, indem er den Betrag von 73 Euro, den er Erwerbsfähigen im Gegensatz zu Erwerbsunfähigen zubilligt, bei der Regelsatzermittlung ignoriert, so Münder. Unter anderem seien die Gebote der Systemklarheit, der Folgerichtigkeit und der Normenklarheit verletzt.
- Wie hoch der Finanzbedarf für langlebige Gebrauchsgüter ist, lässt sich aus der verwendeten Statistik nicht ablesen. Für die EVS zeichnen die Haushalte in der Stichprobe drei Monate lang auf, wofür sie Geld ausgeben. Daraus ergibt sich ein relativ verlässliches Bild der täglichen Ausgaben. Allerdings würden einmalige, nur in großen Abständen erfolgende Anschaffungen wie Fahrräder, Kühlschränke oder Fernseher nicht hinreichend erfasst, so Münder. Daher sei unsicher, ob das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum mit der verwendeten Berechnungsmethode sichergestellt sei. Die Verteilungsforscherin Becker schlägt vor, Bedürftigen anstelle von Pauschalbeträgen einmalige Leistungen für größere Gebrauchsgüter zu gewähren.
- Die Einstufung bestimmter Konsumausgaben der Vergleichsgruppe als „nicht regelsatzrelevant“ führt zu einer Unterschätzung des Existenzminimums. Verfassungsrechtlich problematisch ist nach Überzeugung der Wissenschaftler auch eine fundamentale methodische Inkonsistenz beim neuen Verfahren: Das Statistik-Modell geht von durchschnittlichen Ausgaben aus, nicht vom individuellen Ausgabeverhalten. Zugleich greift der Gesetzgeber mit normativen Begründungen in das statistisch ermittelte Ergebnis ein, indem er bestimmte Positionen für „nicht regelsatzrelevant“ erklärt. Das gilt nicht nur für Alkohol und Tabak, sondern etwa auch für Gartengeräte, chemische Reinigung oder Hundefutter. Damit kommt es zu einer Vermischung des Statistik-Verfahrens und des früher üblichen Warenkorbmodells, bei dem die Höhe der Sozialhilfe komplett auf normativen Setzungen fußte. (…)
- Der herunter gerechnete Mobilitätsbedarf Bedürftiger ist nicht nachvollziehbar. Einzelnen Schritten bei der Bedarfsermittlung attestieren die Untersuchungen handwerkliche Mängel. Besonders fragwürdig scheint Münder und Becker die Berechnung des Mobilitätsbedarfs: Hier gehen statistisch ermittelte Ausgaben für Benzin nicht in die Rechnung ein, weil das Existenzminimum auch ohne Auto oder Motorrad erreicht werde. Selbst wenn man diese Sicht akzeptiert, müsste aber eine realistische Betrachtung berücksichtigen, dass die Referenzgruppe bei Wegfall der KFZ-Nutzung höhere Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel gehabt hätte. Allein durch die Missachtung dieses Punkts falle der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz um knapp sechs Euro zu niedrig aus.
- Die kulturelle Teilhabe Minderjähriger ist nicht für alle Kinder sichergestellt. Anstelle der per EVS ermittelten Beträge für Vereinsmitgliedschaften oder Ähnliches gesteht der Gesetzgeber Minderjährigen eine zweckgebundene Pauschale von 10 Euro im Monat für Mitgliedsbeiträge von Sportvereinen, Musikunterricht oder Freizeiten zu. Diese ist nicht Bestandteil der monetären Regelleistung, sondern des sogenannten Bildungspakets. Verfassungsrechtlich problematisch sind daran laut Münder vor allem zwei Aspekte: Zum einen kollidiert der eng umrissene Verwendungszweck mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit – Kinder können ganz andere soziale und kulturelle Interessen haben. Zum anderen gehen Kinder leer aus, in deren Wohnumfeld keine entsprechenden Sport- oder Musikangebote existieren. Sie haben unter der Streichung der entsprechenden Position bei der Regelsatzberechnung zu leiden, können die vorgesehene Kompensation aber nicht in Anspruch nehmen.“
Zusammenfassende Bewertung des Bedarfsbemessungsverfahrens von Dr. Irene Becker:
„Die Ergebnisse der Analyse des reformierten Bedarfsbemessungsverfahrens
unter methodischen Gesichtspunkten lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe stellt eine geeignete Datenbasis dar, um den Bedarf, der mit regelmäßigen Ausgaben verbunden ist, zu messen.
- Die Bezugnahme auf vier Referenzhaushaltstypen – Einpersonenhaushalte zur Ermittlung von Erwachsenenbedarfen, drei Gruppen von Paarhaushalten mit einem Kind zur Ermittlung von altersspezifischen Kindesbedarfen – führt nicht zu einem in sich geschlossenen Zahlenwerk. Demzufolge ist die Berücksichtigung aller erforderlichen Komponenten, insbesondere der Haushaltsgemeinkosten von Familien, nicht gewährleistet. Vor diesem Hintergrund wäre die Bezugnahme auf nur einen Referenzhaushaltstyp gegenüber dem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales angewandten Verfahren methodisch stringenter. Zudem ist die Bemessung des Bedarfs weiterer Erwachsener in der Bedarfsgemeinschaft nicht fundiert und die Unterschiede, die das SGB II und SGB XII hinsichtlich der Regelbedarfsstufe 3 macht, sind nicht nachvollziehbar.
- Die verwendeten Schlüssel zur personellen Zurechnung von Haushaltsausgaben sind noch akzeptabel. Sie sollten allerdings aus einem schichtspezifischen Blickwinkel und unter Berücksichtigung veränderter Lebens- und Konsumgewohnheiten überarbeitet werden. Dabei ist zu bedenken, dass es nicht um die Zuweisung von Nutzen geht, sondern um die Ermittlung von Zusatzkosten, die vom zweiten Erwachsenen bzw. vom Kind verursacht werden. Fixkosten müssten also dem ersten Erwachsenen in der Familie – dem »Haushaltsvorstand« – zugeordnet werden, auch wenn alle Familienmitglieder den Gegenstand nutzen. Zu konsistenten Ergebnissen führt dies freilich nur bei Bezugnahme auf nur einen Referenzhaushaltstyp (s. o. unter b).
- Die vorgenommene Bereinigung der Grundgesamtheiten der vier Haushaltsgruppen nur um die Haushalte mit Bezug von Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII, die keine anrechnungsfreien Einkommen(steile) bezogen haben, ist zur Vermeidung von Zirkelschlüssen nicht hinreichend. Erforderlich wäre eine weiter gehende Ausklammerung von Leistungsbeziehenden – zumindest der »Aufstocker« mit einem Erwerbseinkommen unter 100 Euro monatlich, da dieser Betrag gemäß § 11 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 5, Abs. 2 SGB II als Werbungskostenpauschale« interpretiert werden kann – sowie eine Herausnahme verdeckter Armut. Letzteres erfordert die Berechnung der SGB-II- bzw. Sozialhilfeschwelle für jeden Haushalt der Referenzgruppe, was mit den Daten der EVS durchaus möglich ist. Komplexere Anspruchprüfungen für die EVS-Haushalte – z. B. unter Berücksichtigung des Erwerbstätigenfreibetrags – sind nicht notwendig; denn das Bundesverfassungsgericht fordert lediglich, dass die Haushalte der Referenzgruppe statistisch zuverlässig über der Sozialhilfeschwelle leben (Rn. 169).
- Für eine methodisch und inhaltlich tragfähige Bedarfsberechnung wäre auch die Herausnahme von BAföG-Beziehenden, deren Ausgabeverhalten tendenziell zur Unterschätzung, sowie von Selbstständigen, deren Ausgabeverhalten möglicherweise zur Überschätzung des Bedarfs führt, erforderlich (atypische Teilgruppen). Dies ist nicht erfolgt.
- Die unterschiedlichen Quantilsdefinitionen – untere 15 % der bereinigten Gruppe der Einpersonenhaushalte, untere 20 % der bereinigten Gruppen der Familienhaushalte – führen dazu, dass die Referenzgruppen nicht vergleichbar sind. Das dem Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz zugrunde liegende Verfahren impliziert die Ausrichtung der Bedarfsbemessung der Erwachsenen an einer ärmeren Gruppe als bei der Bemessung der Kindesbedarfe.
- Die Frage der statistischen Signifikanz ist für die einzelnen Referenzgruppen unterschiedlich zu beantworten.
– Das Ergebnis der für Einpersonenhaushalte durchgeführten Berechnungen kann als signifikant bezeichnet werden. Einschränkend ist zu beachten, dass sowohl die Gruppe der regelleistungsrelevanten Güter als auch die der herausgenommenen Positionen ungesicherte Werte umfassen, beide Seiten des auf der Gruppenebene ansetzenden Bedarfsermittlungskonzepts also einen erheblichen statistischen Fehlerspielraum aufweisen. Dieses Problem wäre wesentlich reduziert, wenn langlebige Gebrauchsgüter, bei denen Nutzung und Kosten zeitlich weit auseinanderfallen, aus der Regelbedarfsberechnung herausgenommen und insoweit »einmalige« Leistungen vorgesehen würden.
– Das Ergebnis der für Kinder und Jugendliche durchgeführten Regelbedarfsberechnungen ist statistisch nicht signifikant. Diese Einschätzung beruht insbesondere auf den viel zu geringen Fallzahlen, die den speziellen Sonderauswertungen für die Bereiche Verkehr und Kommunikationsdienstleistungen (Basis: kleine Teilgruppen der jeweiligen Referenzgruppe) zugrunde liegen. Hinsichtlich der Bedarfsberechnung für Jugendliche von 14 bis unter 18 Jahren zeigt sich darüber hinaus aber auch eine vergleichsweise schwache Datenbasis für die Referenzgruppe insgesamt: Für die lediglich 115 Fälle basieren 60 (von 78) Positionen des regelleistungsrelevanten Konsums auf Fallzahlen unter 100 und unterliegen einem Fehlerspielraum von 10 % bis 20 % (34 Positionen) bzw. von mehr als 20 % (26 Positionen).
- Die Gesetzesbegründungen dafür, dass zahlreiche Güter und Dienstleistungen als „nicht regelbedarfsrelevant“ gewertet werden, sind zu einem erheblichen Teil nicht sachgerecht bzw. nicht stichhaltig. Die wegen normativer Vorentscheidungen notwendigen
Sonderauswertungen in den Bereichen Verkehr und Kommunikationsdienstleistungen haben zudem erhebliche Strukturverzerrungen zur Folge. Die Teilgruppen sind hier nicht repräsentativ für die jeweilige gesamte Referenzgruppe und die Zusammenführung der Durchschnittsausgaben von Teilgruppen mit Durchschnittsausgaben der Gesamtgruppe ist mit der empirisch-statistischen Methode unvereinbar, da immanente Beziehungen zwischen Gütergruppen unberücksichtigt bleiben. Schließlich impliziert die Reduzierung der anerkannten Güter in den Bereichen Verkehr und Kommunikationsdienstleistungen, dass die gesellschaftlich übliche Lebensweise »vorsätzlich« unberücksichtigt bleibt. Dies steht der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer zeit- und realitätsgerechten Erfassung der sozialen Wirklichkeit (Rn. 138) entgegen. Der im Urteil hervorgehobene Vorteil des Statistikmodells, dass die gesellschaftliche Dynamik insbesondere bei den Formen gesellschaftlicher Teilhabe quasi automatisch erfasst wird (Rn. 166), wird mit den Teilgruppenauswertungen zunichte gemacht. - Vor dem Hintergrund der Feststellungen des BVerfG ist auch die Summe der ausgeklammerten Beträge – d. h. die kumulierte Minderung des Lebensstandards von Leistungsbeziehenden gegenüber dem der Referenzgruppen – geprüft worden. Angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen Statistikmodell und gesetzgeberischem Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums hat das BVerfG betont, dass der Pauschbetrag so zu bestimmen ist, dass der Hilfebedürftige sein Verbrauchsverhalten so gestalten kann, »dass er mit dem Festbetrag auskommt « (Rn. 205). Für die Konsumausgaben (ohne Abteilung 4 »Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung «, ohne Rundfunk- und Fernsehgebühren, einschließlich Mitgliedsbeiträge an Organisationen ohne Erwerbszweck) insgesamt – wenn also bereits
vorab Beiträge für Hausrat- und Haftpflichtversicherungen u. Ä. ausgeklammert wurden – ergibt sich ein Abstand von 28 % bei Regelbedarfsstufe 1 und etwa 20 % bei Kindern und Jugendlichen. Da die Konsumausgaben – nach Abzug der Ausgaben für Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung – der unteren 15 % der Einpersonenhaushalte nur 61 % des entsprechenden Durchschnitts aller Einpersonenhaushalte betragen, hat eine Kürzung dieses geringen Basiswerts um nochmals etwa drei Zehntel zur Folge, dass die Betroffenen keine ausreichenden Spielräume haben, ihr Ausgabeverhalten so anzupassen, dass sie mit dem Festbetrag auskommen, ohne als Transferbeziehende aufzufallen. Ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe erscheint damit als nicht möglich. Nach eigener Einschätzung auf der Basis von schichtspezifischen Konsumniveaus und Ausgabenstrukturen sollte die
Summe der Kürzungen auf maximal 15 % der Ausgaben des unteren Einkommensbereichs begrenzt werden, um die Funktionsweise des Statistikmodells nicht auszuhebeln und gesellschaftlichen Exklusionsprozessen ansatzweise entgegenzuwirken. - Die Höhe der Schulbedarfspauschale (100 Euro p. a.) kann als realistisch bezeichnet werden, während die der Teilhabepauschale (10 Euro monatlich) nicht sachgerecht begründet wurde und – unter Berücksichtigung von EVS-Ergebnissen – als zu gering erscheint. Zudem impliziert die Teilhabepauschale wegen ihrer Begrenzung auf ausgewählte Freizeitaktivitäten eine erhebliche Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen, die keinen Zugang zu entsprechender wohnortnaher Infrastruktur haben oder deren Fähigkeiten und Interessen weniger mit institutioneller Freizeitgestaltung als vielmehr mit anderen Dingen (z. B. Bücher, Computersoftware, Sportartikel, Zoobesuche, Stoffe, Nähzeug, Werkzeuge oder Spielwaren) entsprochen werden könnte.
- Hinsichtlich der neuen Dynamisierungsregeln sind zwei Aspekte zu berücksichtigen.
– Die Fortschreibung der Regelleistungen im Zeitraum bis zur Verfügbarkeit einer neuen EVS auf Basis des Mischindex, der die Preisentwicklung zu 70 % und die Entwicklung der Nettolöhne und Nettogehälter pro Beschäftigten zu 30 % berücksichtigt, entspricht einem sachgerechten Verfahren. Eine Realwerterhaltung wird damit freilich nicht unbedingt gewährleistet.
– Der veränderte Anpassungszeitpunkt und die Sonderregelung für die erste Anpassung nach Vorliegen der Ergebnisse einer neuen EVS sind nicht sachgerecht. Da die EVS sich generell auf ein Kalenderjahr bezieht, sollten auch die Basiszeiträume für die weitere Fortschreibung ein Kalenderjahr umfassen, so dass der Anpassungstermin auf den 1. April oder 1. Juli fallen würde. Die derzeitige Regelung – generelle Anpassung zum 1. Januar – impliziert demgegenüber Abweichungen von der Jahresabgrenzung der EVS und hat zur Folge, dass die Entwicklung der Regelleistungen dauerhaft hinter der Entwicklung,
die sich bei konsequenter Bezugnahme auf die kalenderjährliche Entwicklung ergeben würde, zurückbleibt. (…)“
Zusammenfassung des Gutachtens von Prof. Dr. Johannes Münder:
„Die Prüfung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24. 03. 2011 hat keine „paukenschlagartigen“ Ergebnisse gezeigt, jedoch eine Anzahl von Regelungen, die in unterschiedlicher Weise mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sind.
- Die Verwendung der EVS gem. § 28 SGB XII, § 1 RBEG bezüglich langlebiger Gebrauchsgüter liefert keine verlässlichen Ergebnisse über den Bedarf solcher Güter für das menschenwürdige Existenzminimum, die Verwendung der EVS für diesen Bereich ist nicht mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar.
- Der Nichtausschluss von Referenzhaushalten, die unter der Existenzsicherungsschwelle lagen, der bereits zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens (näherungsweise)
auf empirischer Grundlage möglich war, ist mit dem Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. - Die Einbeziehung von Personen, die ein zusätzliches Erwerbseinkommen von bis zu 73 Euro bezogen haben, in § 3 Abs. 2 Nr. 1 RBEG ist weder mit dem Gebot der Systemklarheit, der Normenklarheit und der Folgerichtigkeit nach Art. 3 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 3 GG noch mit dem Recht auf die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar.
- Die Festlegung von Familienhaushalten nach § 4 Satz 2 Nr. 2 RBEG (unterstes Quintil) für die Ermittlung der Regelbedarfe von Kindern und Jugendlichen (bis unter 18 Jahre) liefert keine statistisch signifikanten Ergebnisse und ist deswegen nicht mit den Anforderungen
an die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar. - Die Bestimmung des Regelbedarfs von erwachsenen Personen in Haushalten mit Kindern (Familienhaushalten) nach dem Regelbedarf von Alleinstehenden auf der Basis der Ergebnisse der EVS für Einpersonenhaushalte ist mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
- Die nicht durchgehend tragfähige Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe führt dazu, dass §§ 5, 6 RBEG, § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB XII verfassungsrechtlich mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG insofern unvereinbar sind, als
– bei Jugendlichen im Alter von 14 bis unter 18 Jahren ein zu hoher Abzug wegen nicht regelbedarfsrelevanten Ausgaben für Alkohol- und Tabakkonsum vorgenommen wird;
– bei der Sonderauswertung für den Mobilitätsbedarf der Mobilitätsbedarf von Haushalten, die Ausgaben für Kraftstoff und Schmiermittel haben, nicht korrekt berücksichtigt wurde.
- Die Höhe der normativen Ausschlüsse von Ausgaben als nicht regelbedarfsrelevante Verbrauchsausgaben führt absolut und hinsichtlich der prozentualen Abschläge bezogen auf die untersten Einkommensgruppen dazu, dass der mit dem Statistikmodell und der
Pauschalierung der Bedarfe strukturell verbundene interne Ausgleich nicht mehr gewährleistet ist. Damit ist die Festlegung der regelbedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben in § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB XII, §§ 5, 6 RBEG mit der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar. - Solange eine nachvollziehbare Begründung nicht geliefert wird, muss davon ausgegangen werden, dass
– der Ausschluss verschiedener Positionen als nicht regelbedarfsrelevant (z. B. chemische Reinigung, Heimtextilien, auswärtige Verpflegung (…);
– die Erstreckung des Regelbedarfs von Einpersonenhaushalten auf Alleinerziehende sowie auf Paarerziehende mit Kindern die Koppelung der Regelbedarfsstufe 1 im Falle eines
minderjährigen Partners mit dessen Regelbedarf nach § 20 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB II, bzw. mit der Regelbedarfsstufe 4– der Unterschied hinsichtlich der Regelbedarfsstufe zwischen den über 25-jährigen Erwerbsfähigen nach dem SGB II (Regelbedarfsstufe 1) und den über 25-jährigen Nichterwerbsfähigen nach dem SGB XII (Regelbedarfsstufe 3)
mit Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar ist.
- § 28 Abs. 7 SGB II i.V. m. §29 SGB II bzw. §34 Abs. 7 SGB XII i.V. m. § 34 a SGB XII – die Realisierung der Teilhabe nur in der in § 28 Abs. 7 SGB II bzw. § 34 Abs. 7 SGB XII vorgeschriebenen Form, die Nichtexistenz einer gesetzlichen Sicherstellungsverpflichtung für die Leistungsträger in § 29 SGB II bzw. in § 34 a SGB XII i.V. m. dem Ausschluss entsprechender Leistungen aus dem Regelbedarf von Minderjährigen – ist für den davon betroffenen Personenkreis der Minderjährigen mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG und mit Art. 2 Abs. 1 GG nicht vereinbar.
- Die um sechs Monate verzögerte Anpassungsregelung gemäß § 7 Abs. 2 RBEG ist nicht geeignet, für die Zeiträume ab 1. Januar 2011 zeitnah das menschenwürdige Existenzminimum zu decken, diese Anpassungsregelung ist mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar.“
Johannes Münder: Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 – BGBl. I S. 453, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011
Irene Becker: Bewertung der Neuregelungen des SGB II. Methodische Gesichtspunkte der Bedarfsbemessung vor dem Hintergrund des „Hartz IV-Urteils“ des BVerfG, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung