Verteilungsbericht: Soziale Schieflage in Deutschland ist Armutszeugnis

Europa ist im Jahr drei der Krise wieder beim Ausgangspunkt, der Bankenkrise, angekommen. Jede Zuspitzung der Krise verläuft nach dem gleichen Muster: Arbeitnehmer/-innen, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Rentner/-innen und Empfänger/-innen sozialer Transfers sowie die öffentliche Daseinsvorsorge würden zu Leidtragenden dieser Rettungsmaßnahmen. Und mit jeder „Hilfe“ wird die Kluft zwischen Arm und Reich größer. Damit verstärkt sich in Europa erneut, was eine der zentralen Ursachen der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise
war: Ungleichheit und ungerechte Verteilung von Einkommen und Reichtum.

Doch damit nicht genug: Fehlende Gerechtigkeit führt laut DGB zu einer kollektiven Verarmung der Bevölkerungsmehrheit: Immer weniger Menschen partizipieren am Reichtum ihrer Gesellschaften. Sie drohen vom Markt für qualitativ hochwertige Güter und Dienstleistungen ausgeschlossen zu werden. Es entstehen soziale Ghettos und immer mehr Märkte mit minderwertigeren Produkten. Es droht eine Ramschökonomie. Dem zweiten Arbeitsmarkt folgen zweit- und drittklassige Märkte für Güter und Dienstleistungen. Ein-Euro-Shops folgen Ein-Euro-Jobs. Im Umkehrschluss werden Investitionen in hochwertige, nachhaltige aber teure Produkte weniger rentabel, weil die Massenkaufkraft sinkt – mit fatalen Folgen für ein Hochtechnologieland wie Deutschland.

Die Verteilungsfrage ist deshalb nicht nur ein Schlüssel zur sozialen Kohärenz einer entwickelten Gesellschaft, sondern auch zur ökonomischen und ökologischen Modernisierung unserer Volkswirtschaften. Der vorliegende Verteilungsbericht 2011 zeigt die soziale Schieflage und zugleich die Handlungsfelder für eine gerechtere Politik.

Auszüge aus den Zentralen Ergebnissen der Verteilungsberichts des DGB:
## Die Lohnquote, also der prozentuale Anteil des Arbeitnehmerentgeltes am Volkseinkommen, sank im letzten Jahr um 1,7 Prozentpunkte auf nunmehr 66,5 %. Damit setzte sie, nach einem konjunkturell bedingten Hoch im Jahr 2009, ihren langfristig abwärtsgerichteten Trend im ersten Nachkrisenjahr wieder fort. Nach vorläufiger Datenlage blieb die Lohnquote im 1. Halbjahr 2011 mit 66,7 % nahezu unverändert. An der Sache ändert dies hingegen wenig. Seit vielen Jahren und insbesondere verstärkt seit der Jahrtausendwende entwickelte sich die Lohnquote zu Lasten der Arbeitnehmer/-innen und offenbart somit die stetig ungleichere Entlohnung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital.
## …
## Die Löhne und Gehälter kommen seit etlichen Jahren einfach nicht vom Fleck. Auch wenn im Jahr 2010 die nominalen Bruttolöhne und -gehälter um 2,2 % gewachsen sind, relativiert sich der vergleichsweise starke Zuwachs im letzten Jahr wieder, wenn man die schwache Entwicklung in den Krisenjahren betrachtet. Lohnstagnation und Kurzarbeit prägen in der Krise vielerorts das Bild. Auch wenn einige Arbeitgeber ihre Belegschaft durch vorgezogene Lohnerhöhungen am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben lassen, hinken die gesamtwirtschaftlichen Löhne und Gehälter der ökonomischen Entwicklung hinterher. Hingegen ist eine vergleichsweise positive Entwicklung der Löhne und Gehälter für das 1. Halbjahr 2011 festzustellen (+3,6 %). Doch spielen bei dieser Entwicklung ebenfalls noch krisenbedingte Aufholeffekte der Jahre 2008/09 mit.
## …
## Auch mehr als 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung sind die innerdeutschen Lohndifferenzen nicht komplett beseitigt. Das durchschnittliche Tarifniveau ostdeutscher Beschäftigten belief sich im letzten Jahr auf 96,6 % des westdeutschen Niveaus. Diese Diskrepanz vergrößert sich bei der Betrachtung der effektiven Löhne und Gehälter. Hier erzielten die Arbeitnehmer/-innen in den neuen Bundesländern durchschnittlich 83 % der westdeutschen Verdienste. Zudem gibt es von Branche zu Branche erhebliche Unterschiede. Während bspw. in der öffentlichen Verwaltung die Verdienste nahezu angeglichen sind, gibt es im Verarbeitenden Gewerbe oder im Gastgewerbe erhebliche Aufholpotentiale.
## …
## Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Das Vermögen konzentriert sich in immer weniger Händen. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über 61%. Das wohlhabendste Prozent über 23% des gesamten Nettovermögens. Auf der anderen Seite der Vermögensspirale sieht das Bild ganz anders aus. 70% der Erwachsenen besitzen gerade einmal 9% des Gesamtnettovermögens. 27% der Bevölkerung verfügen über kein Vermögen oder haben gar Schulden. Forciert wurde diese zunehmende ungleichere Verteilung der Vermögen auch durch zahlreiche Rechtsänderungen, die die Akkumulation von Vermögen gegenüber Arbeitseinkommen steuerlich privilegiert.
## Bedenklich ist dies vor dem Hintergrund, dass sich der zu verteilende Kuchen insgesamt vergrößert hat. Das Vermögensvolumen hierzulande hat sich in den letzten Jahren von 6,5 Billionen Euro (2002) auf 8 Billionen Euro (2007) vergrößert. Durchschnittlich darf ein Erwachsener in der Bundesrepublik ein Vermögen im Wert von rd. 88.000 Euro sein Eigen nennen. Betrachtet man den Medianwert, so ergibt sich lediglich ein Vermögen von 15.300 Euro.
## Nicht nur die Vermögen, auch die Einkommen nehmen kontinuierlich unterschiedliche Entwicklungen an. So konnten die Einkommen der stärksten Einkommensbezieher in den Jahren von 2004-2009 um jahresdurchschnittlich 3,7% zulegen, die Einkommen der Einkommensschwachen hingegen nur um 0,9%. Diese Entwicklung war in dem Konjunkturzyklus von 1997-2003 noch ausgeglichener.
## Die Vermögens- und Einkommensumverteilung birgt Gefahren für die heimische Wirtschaft. Während finanziell Schwächere nahezu ihre gesamten Mittel für die täglichen Ausgaben benötigen, werden Einkommen der finanziell Bessergestellten in Ersparnisse umgeleitet und somit der Konsumnachfrage entzogen. Dies bremst Wachstum und Beschäftigung gleichermaßen.
## Deutschland hat kein Problem zu hoher Arbeitskosten. Bei der Betrachtung der absoluten Arbeitskosten liegt Deutschland zwar im oberen europäischen Mittelfeld. Die Tendenz ist aber abwärtsgerichtet und gleicht sich sukzessive dem europäischen Durchschnitt an. Seit 2000 stiegen die Arbeitskosten hierzulande nur um jahresdurchschnittlich 1,9% und somit wesentlich langsamer als im restlichen Europa.
## Bezieht man in die Analyse die nationalen Arbeitsproduktivitäten ein, was einer sachgerechten Beurteilung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitskosten.

Politische Schlussfolgerungen

Aus den Ergebnissen dieses Berichts lässt sich schlussfolgern, dass die verteilungspolitische Schieflage in Deutschland keineswegs beseitigt ist, sondern in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Für eines der wohlhabendsten Länder der Welt ist dies ein Armutszeugnis. Im öffentlichen Diskurs um verteilungspolitische Fragen muss umgedacht und mit einer angemessenen, adäquaten Wirtschaftspolitik konsequent gegengesteuert werden. Die fortwährende Umverteilung der gesamtwirtschaftlichen Einkommen zulasten der abhängig Beschäftigten muss beendet werden. Eine gleichmäßige Verteilung der Einkommen und Vermögen ist nicht nur aus Gerechtigkeitsaspekten, sondern auch aus ökonomischer Sicht mehr als notwendig. ## …
## Flankierend zu den Branchenmindestlöhnen braucht Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro die Stunde als unterste Haltelinie. Dieser ist ein probates Mittel gegen Dumpinglöhne und Armut. Löhne unterhalb dieser Schwelle sind nicht existenzsichernd. Der Niedriglohnsektor nimmt hierzulande besorgniserregende Ausmaße an. Immer mehr Menschen sind trotz Arbeit arm. 1,24 Millionen Arbeitnehmer/-innen müssen ihr Einkommen durch ergänzende staatliche Transferzahlungen aufstocken, über 324.000 von ihnen sind Vollzeitbeschäftigte. Einige Firmen halten Lohndrückerei für ein Geschäftsmodell. Dieser gefährlichen Entwicklung muss ein Riegel vorgeschoben werden. Es kann nicht sein, dass die Lohndrückerei von den Steuerzahlern durch mehrere Milliarden Euro jährlich finanziert wird.
## Die Mehrheit der Bevölkerung begrüßt die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Zudem würde dieser mehrere Milliarden Euro in die Kassen der Sozialversicherungssysteme spülen. Die öffentliche Hand könnte durch geringere Transferleistungen an die sogenannten Aufstocker Milliarden sparen. Gelder, die für andere staatliche oder kommunale Aufgaben wie in den Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur, in Bildungssysteme oder in Investitionen in erneuerbare Energie gesteckt werden könnten.
## …
## An vielen älteren Arbeitnehmer/-innen und Geringqualifizierten geht die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt komplett vorbei. Davon abgesehen sind 3 Millionen Arbeitslose immer noch 3 Millionen zuviel. Auf der „Schnellstraße zur Vollbeschäftigung“, wie vom ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Brüderle behauptet, befindet sich Deutschland noch lange nicht. Die Spaltung des Arbeitsmarktes muss endlich überwunden werden. Nur reguläre, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung führt auch zu einem nachhaltigen Aufschwung. Ein Großteil der neu besetzten Stellen ist allerdings prekäerer Natur. Geringfügige Beschäftigung, (ungewollte) Teilzeitarbeit und Leiharbeit sind seit einigen Jahren auf dem Vormarsch. Zunehmend ersetzen diese atypischen Beschäftigungsformen reguläre Normalarbeitsverhältnisse.
## Die aktuellen Rekordzuwächse in der Leiharbeit zeigt, wie wichtig es ist, die Branche rechtlich neu zu regeln. In der Vergangenheit gab es aus der Leiharbeit viele Negativmeldungen über den hohen Lohnabstand zur Stammbelegschaft. Leiharbeiter erhalten oftmals 30-50% weniger Entgelt als Stammbeschäftigte – bei gleicher Tätigkeit. Das muss sich ändern. Deshalb brauchen wir: Gleichen Lohn für gleiche Arbeit vom ersten Tag an (Equal Pay). Auch andere Lohnbestandteile wie Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie Zuschläge, fallen fürn Leiharbeiter/-innen vielfach niedriger aus. Zudem leben sie in ständiger Sorge um ihren Arbeitsplatz. Sie können kaum über die nächsten Monate hinaus planen. Leiharbeit ist ein flexibles Instrument zur Überbrückung von Auftragsspitzen, und nicht für den dauerhaften Einsatz gedacht.
## Deutschland hat kein Problem zu hoher Arbeitskosten. Das oftmals von arbeitgebernahen vorgetragene Totschlagargument preislicher Wettbewerbsnachteile durch zu hohe Arbeitskosten zieht nicht mehr. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Ökonomie hat sich auf Kosten der Arbeitnehmer/-innen kontinuierlich verbessert. Der von Deutschland ausgehende Lohnkostensenkungswettlauf zwischen den Ländern der Europäischen Union muss beendet werden. Denn dieser birgt Gefahren für die Stabilität der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.
Sollten sich die Einkommen künftig ebenso unterschiedliche entwickeln wie in den vergangenen Jahren, bleiben Wachstumspotentiale ungenutzt und damit auch der Wohlstand für alle aus. Deutschland wirtschaftet dann unter seinen Möglichkeiten. Die Arbeitnehmer/-innen haben den Aufschwung erwirtschaftet. Jetzt ist es von entscheidender strategischer Bedeutung, dass sie daran auch durch steigende Löhne und Einkommen teilhaben. Die Reduzierung von Einkommensungleichheiten ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch der volkswirtschaftlichen Vernunft.
Es bleibt dabei, dass große Vermögen stärker zur Finanzierung gesamtwirtschaftlicher Aufgaben herangezogen werden müssen. Durch zunehmende Ungleichheit steht der Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf dem Spiel. Die wachsende Spaltung unserer Gesellschaft in Reiche und Arme, Beschäftigte und Arbeitslose, Gesunde und Kranke darf sich Deutschland als sozialer Rechtsstaat nicht leisten. Der soziale Zusammenhalt der Bundesrepublik muss bewahrt werden: Eine Gesellschaft, in der alle Bürger am erwirtschafteten Erfolg partizipieren, in der alle Rechte und Pflichten haben, in der Vor- und Nachteile gemeinsam getragen werden, und eine Gesellschaft in der Lasten und Aufgaben gerecht verteilt sind. … „

Den Verteilungsbericht 2011 in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.

www.dgb.de

Quelle: DGB

Dokumente: DGB_Verteilungsbericht_2011.pdf

Ähnliche Artikel

Skip to content