In wie weit ist der Bildungserfolg vom Geschlecht abhängig?

Auszüge aus dem WZBrief Bildung Geschlecht und Bildungserfolg von Marcel Helbig:
„Noch in den 50er Jahren lagen in Deutschland die Jungen beim Abitur zahlenmäßig deutlich vorn. Heute hingegen erlangen Mädchen häufiger das Abitur als ihre männlichen Altersgenossen (vgl. Abbildung). Und das Abitur steht erst am Ende einer langen Bildungskette, bei der Begabung/Intelligenz, schulische Kompetenzen, Noten und Schulverläufe eine Rolle spielen. Im Durchschnitt haben Jungen niedrigere Lesekompetenzen und schlechtere Noten, sie gehen seltener aufs Gymnasium, häufiger auf Förder- und Hauptschulen – und sie verlassen häufiger die Schule ohne jeden Abschluss. Immer wieder ist deshalb von einer „Krise der Jungen“ zu lesen, im Englischen gar von einem „war against boys“.

Bei der Suche nach Gründen für dieses Phänomen werfe ich einen Blick zurück in die Schulgeschichte. Dabei fällt auf, dass sich die geschlechtertypischen Unterschiede in den Schulnoten über viele Jahrzehnte hinweg hartnäckig halten. …

Wovon hängt Bildungserfolg ab?
Sowohl die Kompetenz- als auch die Notenunterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind in den letzten Jahrzehnten erstaunlich stabil geblieben. Warum sind dann aber Mädchen heute deutlich häufiger unter den Abiturienten vertreten? Als Erklärung für die geringeren Schulerfolge der Jungen wird in der Öffentlichkeit am stärksten der Ansatz diskutiert, dass heute männliche Vorbilder fehlen – in der Schule wie im Familienleben, das durch die Zunahme von Alleinerziehenden-Familien geprägt ist. Mittlerweile haben viele Studien jedoch gezeigt: Das Geschlecht der Lehrkraft hat keinen Einfluss auf den Schulerfolg von Mädchen und Jungen. Auch spielt es keine Rolle, ob sie allein bei der Mutter oder allein beim Vater aufwachsen. Antworten sind offensichtlich weniger auf dieser Ebene zu suchen als vielmehr im Bereich der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und deren Wandel.

In den 1950er und 1960er Jahren hielten Eltern das Abitur für Mädchen für deutlich weniger erstrebenswert als für Jungen. Deshalb schickten sie ihre Töchter seltener aufs Gymnasium – obwohl diese keineswegs schlechtere Schulleistungen hatten als ihre Brüder. … Seit den 1970er Jahren kam es hier zu einem tiefgreifenden Wandel. Zwar stiegen auch die Bildungsaspirationen von und für Jungen an, bei den Mädchen war dieser Prozess jedoch deutlich stärker. …

Der allgemeine Aufbruch der Frauen nach einer eher repressiven und patriarchalen Nachkriegszeit führte auch zu neuen weiblichen Bildungsbiografien: Während es bislang für Frauen wenig äußere Gründe gegeben hatte, an höherer Bildung zu partizipieren – diese half ihnen höchstens, gut zu heiraten oder den Kindern bei ihren Schulaufgaben zu helfen –, wirkte sich der institutionelle Wandel jetzt auf die Einstellungen sowohl von Vätern und Müttern als auch von Töchtern selbst aus. Die Bildungsaspirationen für und von Mädchen wuchsen. Zudem expandierten der öffentliche Dienst und der Dienstleistungssektor. Dies führte zu einem breiteren Angebot von Arbeitsplätzen für weibliche Arbeitnehmer. … Die Frauenerwerbsquote stieg und mit ihr nahmen die gesellschaftlichen Erwartungen an die Verwertbarkeit weiblicher Bildung zu. Jetzt besuchten Mädchen häufiger Gymnasien und schlossen diese mit dem Abitur ab.

Wir haben es also eher mit einer Erfolgsgeschichte der Mädchen in der Schule als mit einer Misserfolgsgeschichte der Jungen zu tun. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erlauben es Mädchen heute, die Bildungsansprüche zu stellen, die ihren guten Noten entsprechen. … Auch Jungen steht dieser Weg offen: Sie müssten nur ihr Lernverhalten dem der Mädchen angleichen …“

http://bibliothek.wzb.eu/wzbrief-bildung/WZBriefBildung232013_helbig.pdf

Quelle: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: WZBrief Bildung

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