Auszüge aus dem Antrag „Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern – Lebenslagen umfassend abbilden“ der Grünen:
“ Als der Gesetzgeber 1999 die Vorgaben für die „Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ festlegte, hatte er ein klares Ziel vor Augen: Der Bericht soll die Ausmaße von Armut und Reichtum in der Gesellschaft zusammentragen und damit die Voraussetzung für eine effektive Armutsbekämpfung schaffen. Dieser Anforderung wird der 4. Armuts- und Reichtumsbericht nicht gerecht.
Seine Aussagekraft über die tatsächlichen Lebenslagen in Deutschland ist ungenügend, weil gleich mehrere Vorgaben für die Berichterstattung missachtet bzw. unzulänglich umgesetzt wurden: Der aktuelle Bericht gibt keinen hinreichenden Aufschluss über kollektive Lebenslagen und besondere Problemgruppen. Die Frage, in welcher Form und in welchem Umfang Arme selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln können, wird nicht behandelt. Der Bericht legt die Ursachen und Folgen von Armut und Reichtum nicht dar. Die vom Gesetzgeber verlangte Beteiligung von Organisationen und Verbände, die sich mit dem Thema befassen, fand eher in Form einer Unterrichtung statt. Erfahrungen aus der Praxis wurden nur unzureichend einbezogen. Und grundlegende gesellschaftliche Perspektiven und politische Instrumentarien zur Vermeidung und Bekämpfung von Armut fehlen im 4. Armuts- und Reichtumsbericht gänzlich.
Der Berichtstenor sorgt für eine verzerrte Darstellung der sozialen Wirklichkeit. So wird beispielsweise der absolute Rückgang der Arbeitslosenzahlen als Indikator für allgemein steigenden Wohlstand angeführt. Hier fehlt eine differenzierte Betrachtung. Denn die verbesserte Arbeitsmarktsituation kommt nicht bei allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen an. Ein beträchtlicher Teil der neuen Beschäftigungsverhältnisse ermöglicht keine stabile Existenzsicherung. Einzelne Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen mit Behinderungen sind zudem am Arbeitsmarkt strukturell benachteiligt. Bei ihnen ist das Armutsrisiko in den vergangenen Jahren stetig gestiegen und hat das Gefälle zwischen den Lebensverhältnissen massiv vergrößert.
Diese strukturellen Defizite werden im aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht nicht erwähnt. In dem neu eingeführten Lebensphasenmodell wird Armut als rein individuelles Problem beschrieben und die gesellschaftliche Analyse von Ursachen von Armut einzelner Bevölkerungsgruppen wie in den vorausgegangenen drei Armuts- und Reichtumsberichten ist aus der Berichterstattung herausgefallen. Und das, obwohl die Armutsrisikoquote bei Kindern bis 17 Jahre (16,5 Prozent), jungen Erwachsenen unter 25 (20,0 Prozent), Alleinerziehenden (40,1 Prozent) sowie Arbeitslosen (56,4 Prozent) besonders hoch ist und diese Bevölkerungsgruppen in besonderem Maße von Armut bedroht und/ oder betroffen
sind. …
Auch andere strukturelle Aspekte blendet der Bericht systematisch aus und das obwohl ihr unmittelbarer Armutsbezug bekannt ist. Im ersten Entwurf des Berichts vom September 2012 war ein verbesserter Rechtsschutz für ArbeitnehmerInnen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen in Aussicht gestellt. Diese Passage findet sich im aktuellen Bericht nicht wieder, obwohl durch wissenschaftliche Studien belegt ist, dass Beschäftigten in so genannten Minijobs in nicht unerheblichem Maße Rechte vorenthalten werden. …
Aus der ersten Entwurfsfassung wurde außerdem die Feststellung gestrichen, dass die Privatvermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt sind. Dabei sind die Zahlen eindeutig: Die obersten 10% der Deutschen besitzen heute zwei Drittel (66,6%) des gesamten Vermögens und nur das vermögendste Prozent der Deutschen nennt 35,5% des gesamten Vermögens sein Eigen. Im Zeitraum von 2002 bis 2007 ist der Anteil der obersten 10% gewachsen, während der Anteil der unteren 90% am Vermögen gesunken ist. 3,4 Millionen Haushalte in Deutschland haben heute mit einem Schuldenberg von insgesamt etwa 120 Milliarden Euro zu kämpfen. …
Obwohl noch nie in der Geschichte der Berichterstattung solch ein tiefer Graben zwischen arm und reich klaffte wie heute, fehlen aktuelle Daten zur Reichtums- und Vermögensentwicklung. Eine angemessene Beurteilung von Arm braucht aber den Bezugspunkt der Verteilung von Reichtum. …“
Die Grünen plädieren daher dafür, dass der Bundestag die Bundesregierung zur Überarbeitung der Berichtersttung auffordere:
“
a) eine Vergleichbarkeit der Berichte untereinander gewährleistet ist, die eine Beurteilung der Wirkungsweise und Effizienz der gewählten Instrumente zur Armutsbekämpfung ermöglicht und die Entwicklung von Armut und Reichtum im Zeitverlauf nachvollziehbar macht;
b) keine reine Sachstandsbeschreibungen vorgelegt, sondern aus den Befunden stets konkrete Handlungsempfehlungen abgeleitet werden;
## 2. Sozialverbände, WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen mit einem zeitlich angemessenen Vorlauf in die Berichterstellung einzubeziehen und ihre Impulse verbindlich in die Berichterstellung zu integrieren;
## 3. bei der Erhebung der Daten besonders benachteiligte und von Armut bedrohte Bevölkerungsgruppen und Gruppen mit besonders stark steigender Armut, … separat zu untersuchen, ihre spezifischen Lebensumstände zu analysieren und konkrete Handlungsempfehlungen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation vorzulegen;
## 4. die Berichterstattung um die Beschreibung und Analyse von extremer Armut, beispielsweise die Entwicklung der Zahl von Wohnungs- und Obdachlosen zu ergänzen; …
## 6. Armut als ein strukturelles gesellschaftliches Problem anzuerkennen, dessen Ausprägungen sich im Laufe der Zeit verändern, und dementsprechend auch potentielle Gefahrenlagen und perspektivisch armutsanfällige Personengruppen zu berücksichtigen; …
## 8. der Armutsgefährdung von Kindern und Jugendlichen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und bei den politischen Initiativen auf die eigenständige Sicherung von Kindern und Jugendlichen hinzuwirken;
## 9. die besonderen Lebenslagen armutsgefährdeter Jugendlicher zu untersuchen und alle Mittel auszuschöpfen, um eine Verfestigung von Armut im Übergang in die selbständige Lebensgestaltung zu verhindern;
## 10. die besonderen Armutsrisiken, die aus flexiblen Beschäftigungsverhältnissen erwachsen, umfassend zu erheben und ArbeitnehmerInnen durch eine Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen (bei Minijobs, Leiharbeit und Werkverträgen) konsequent zu schützen; …“
Quelle: Pressedienst des Deutschen Bundestages
Dokumente: Antrag_Ueberarbeitung_Armuts__und_Reichtumsbericht_1713911.pdf