Zur Entwicklung einer eigenständigen Jungen- und Männerpolitik berief Ministerin Schröder 2010 einen Beirat Jungenpolitik ein. Die Arbeit des Beirats Jungenpolitik ist Teil einer lebenslauforientierten Gleichstellungspolitik, welche Unterschiede in den Lebensläufen von Frauen und Männern, von Jungen und Mädchen zum Ausgang hat und berücksichtigt, in welcher Weise deren Lebenslagen und die Geschlechterrollen in der Gesellschaft aufeinander bezogen sind. Ziel ist eine Jungenpolitik, die sich an den Lebenswirklichkeiten von Jungen ohne einseitige, negative oder klischeehafte Zuschreibungen orientiert. In diesem Sinne hat sich der Beirat damit befasst, wie Jungen aufwachsen und wie sie leben wollen. Der Beirat sieht seine Aufgabe darin, dem Politikfeld Jungenpolitik erste Konturen zu geben.
Aktuell hat der Beirat Jungenpolitik seinen Bericht „Jungen und ihre Lebenswelten“ veröffentlicht. Darin werden neben Hintergrundinformationen und Analysen zu den Lebenswelten von Jungen auch politische Handlungsempfehlungen formuliert.
Auszüge aus dem Bericht des Beirats Jungenpolitik:
“ … Wandel der Geschlechterverhältnisse – Herausforderung für die Identitätsbildung
… Jungen und (junge) Männer sind als Folge des Wandels der Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten sowie struktureller Veränderungen der Wirtschaft und der Arbeitswelt mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Diese betreffen tradierte Muster von Männlichkeit, die sich nur noch partiell als geeignet erweisen, auf aktuelle Anforderungen zu reagieren, und z. T. Probleme erzeugen, z. B. in Partnerschaften. Männliche Jugendliche können sich im Zuge ihrer Identitätsentwicklung nicht bruchlos an den Leitbildern ihrer Väter und Großväter orientieren. Sie formulieren ihre Wünsche und treffen ihre Entscheidungen hinsichtlich des weiteren Lebenswegs vor dem Hintergrund konkurrierender Männlichkeitsbilder. Die Figur des männlichen Familienernährers ist zwar immer noch präsent … hinzu gekommen ist aber das Bild eines fürsorglichen Vaters. Zudem haben sich Wirtschaft und Arbeitsmarkt in eine Richtung entwickelt, die die ökonomische Basis des Ernährermodells brüchig werden lässt. Tradierte Männlichkeitsmuster stehen stark in der gesellschaftlichen Kritik und verlieren an Gewicht, neue Männlichkeitsentwürfe sind jedoch nur vage umrissen, und sie stoßen noch nicht auf eine allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz. In diesem Sinne haben männliche Jugendliche heute Herausforderungen zu bewältigen, die sich von denen vorheriger Generationen unterscheiden.
… Jungen sind sich des Wandels und der damit verbundenen Herausforderungen bewusst sind; ihnen fehlt es aber oft an konkreten Vorstellungen, wie sich ein Leben jenseits der tradierten Muster führen lässt. Sie wissen auch um gängige Geschlechterklischees, haben also ein reflexives Geschlechterwissen. Sie sehen Geschlecht als eine soziale Rolle, die sich im Wandel befindet. Sie haben ein Gespür für Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis und wissen um Privilegien und Benachteiligungen bei beiden Geschlechtern. So sehen sie durchaus kritisch, dass Jungen mehr Freiheiten zugestanden werden als Mädchen und dass typische Frauenberufe schlechter entlohnt werden als typische Männerberufe. Dies habe u. a. zur Folge, dass Berufe im Erziehungs- und Pflegebereich feminisiert sind und auch dann nicht von Männern ergriffen werden, wenn sie Interesse daran haben. …
Die einschlägigen Diskurse zum Geschlechterverhältnis sind ihnen nicht unbekannt. So verweisen sie auf das Fehlen männlicher Bezugspersonen in vielen Lebensbereichen. Allerdings vermeiden sie pauschalisierende Urteile darüber, ob es besser ist, von Frauen oder Männern umgeben zu sein. …
Berufswahl- und Familienplanung
Daten aus Sinus-Studien zeigen, dass Jungen und Mädchen bei den für sie infrage kommenden Berufen und Ausbildungswegen mehrheitlich an tradierten Geschlechterbildern orientierte Präferenzen erkennen lassen. Jungen äußern Berufswünsche im technisch-technologischen Bereich, Mädchen in den Dienstleistungsberufen, hier insbesondere in der Gastronomie und in Pflege- und sozialen Berufen, sowie im Bereich von Erziehung und Bildung. Männlichkeit ist (noch immer) eng mit Erwerbsorientierung verknüpft, und die Berufswahl bietet den Jungen eine Möglichkeit, ihre „Männlichkeit“ unter Beweis zu stellen. Dementsprechend liegt es nahe, dass Jungen darauf achten, dass der Beruf entweder hinsichtlich des Inhalts oder aber durch andere, gesellschaftlich mit Männlichkeit assoziierte Attribute wie Karriereoptionen, hohes Einkommen oder Prestige männlich konnotiert ist.
… Fragen von Berufswahl und Familienplanung werden von Jungen wenig bis gar nicht verknüpft gedacht. Der Einschluss von fürsorgenden Familienaspekten in den eigenen Lebensentwurf hat bei den Jungen – im Unterschied zu den Mädchen – (noch) nicht zur Konsequenz, dass sie eine generative Lebensperspektive, verstanden als Fürsorge für die nächste Generation, in die eigene Lebensplanung integrieren. Die Ungleichzeitigkeit, mit der Jungen und Mädchen Generativität in den Blick nehmen, verweist auf das Beharrungsvermögen tradierter gesellschaftlicher Rollenbilder. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die von Jungen heute vertretenen Geschlechterbilder eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Haltungen aufweisen. Eine Haltung, die eine Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern explizit befürwortet, findet sich allerdings nur selten. …
Bedeutung sozialer Beziehungen
Das Thema Freundschaften hat eine hohe Relevanz für Jungen. Es gibt ein starkes Bedürfnis, verlässliche und vertrauenswürdige Freunde zu haben. Dem steht nicht entgegen, dass Freundschaftsbeziehungen von Jungen in hohem Maße Elemente von Wettbewerb beinhalten. Freundschaften unter Jungen basieren vor allem auf gemeinsamen Aktivitäten und sind häufig in Peergroup-Zusammenhänge eingelassen. Sie beinhalten ein großes Sozialisations- und Bildungspotenzial und können als ein Experimentierfeld mit Blick auf künftige Lebensphasen verstanden werden. …
Schule als Lernort
Die Schule bestimmt einen großen Teil des Lebens von Jugendlichen und ist deshalb ein zentrales Thema der Beiratsarbeit. Dass Jungen an Haupt- und Förderschulen überproportional und an Gymnasien unterproportional vertreten sind sowie der Umstand, dass die Schülerinnen im Durchschnitt die Schule mit besseren Noten abschließen als die Schüler, hat in den letzten Jahren eine Diskussion über eine vermeintliche Bildungsbenachteiligung der Jungen ausgelöst. Die These, die sog. Feminisierung des Lehramts, also der Umstand, dass ca. 70 Prozent der Lehrkräfte an den Schulen Frauen sind, sei an sich für die schlechteren Leistungen von Jungen verantwortlich, hat sich in empirischen Studien nicht bestätigt. …
Die Schule ist nicht nur ein Lernort im engen Sinne, sondern auch ein Ort, an dem Männlichkeit ausgehandelt wird: zwischen den Schülern und Schülerinnen und in Interaktion mit Lehrern und Lehrerinnen. Die männliche Peer-Kultur ist in deutlich geringerem Maße als die weibliche mit den an Disziplin orientierten Verhaltensanforderungen der Schule kompatibel. Es gibt einen geschlechtstypischen Erwartungsdruck auf Jungen, sich zum System Schule in eine distanzierte Position zu setzen. Inwieweit die männliche Peer-Kultur den Anforderungen der Schule und damit schulischem Erfolg entgegensteht, variiert allerdings nach Schulform sowie nach sozialem Milieu und ethnischer Zugehörigkeit. …
Gestaltung von Freiheit
In ihrer Freizeit suchen Jungen nach geeigneten, nichtkommerziellen Orten, an denen sie ihren Interessen gemeinsam mit ihren Peers nachgehen können. Diese Suche erweist sich nicht selten als schwierig. Kostenfreie Jugendräume stehen oft entweder nicht ausreichend zur Verfügung oder sie entsprechen nicht den Erwartungen der Jungen. Partizipation und Autonomie sind in diesem Kontext Schlüsselbegriffe, welche die Bedürfnisse von Jungen kennzeichnen. Dies kommt auch in der Beschreibung freiwilligen Engagements in z. B. kirchlichen Einrichtungen zum Ausdruck.
Die Nutzung sog. neuer Medien der Informations- und Kommunikationstechnologie bestimmt die Freizeit in starkem Maße, ist aber nicht nur dort relevant. Das Internet wird von den Jungen als eine Möglichkeit des Zugangs zu lokal nicht vorhandenen Angeboten und Gruppen Gleichgesinnter, bspw. Jugendszenen, gesehen und Netzwerke wie Facebook als Orte der Kommunikation und des Informationsaustausches wahrgenommen, die auf die spezifischen Interessen Jugendlicher zugeschnitten sind. … Von hoher Relevanz für das Alltagsleben der Jungen ist auch Musik. Musikmachen wird als Medium zur Vermittlung von Themen bzw. Inhalten und Einstellungen genutzt. Zum Beispiel wird Hip-Hop als Form des Ausdrucks politischer Haltungen verstanden. Gerade für einen Teil der Jungen scheint die Hip-Hop-Kultur eine Möglichkeit darzustellen, in kreativer und inspirierter Weise die eigenen Gefühle ausdrücken zu können. Eine Jungenpolitik, die ihre Adressaten erreichen und einen Zugang zu deren Interessen und Bedürfnissen bekommen will, muss sich auf diese Kommunikations- und Ausdrucksformen einlassen.
Schlussfolgerungen für die Jungenpolitik
Angesichts der Diversität der Lebenslagen und Lebensentwürfe von Jungen muss Jungenpolitik differenzierte Ansätze entwickeln, um der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse und Interessen gerecht zu werden. Sie muss die verschiedenen Lebenswelten von Jungen und die daraus resultierenden Alltagsrealitäten zur Kenntnis nehmen. Dies erfordert eine Vielfalt von Maßnahmen, Programmen und Angeboten, deren Adressatenkreise nicht immer identisch sind. …
Um Jungen ein Leben jenseits von Geschlechterklischees und begrenzenden Männlichkeitsnormen zu ermöglichen, ist es von fundamentaler Bedeutung, stereotype Rollenbilder aufzubrechen, das verfügbare Rollenrepertoire zu erweitern und Prozesse der Individualisierung zu unterstützen. …
Nach Ansicht des Beirats sollten für die Jungenpolitik folgende Themen mit Priorität in Angriff genommen werden:
## Strukturelle Implementierung einer lebenswelt- und geschlechterbezogenen Perspektive in pädagogische Berufe. Verschiedene Institutionen von der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen- und -minister-, -senatorinnen- und -senatorenkonferenz der Länder (GFMK) über Industrie-, Handels- und Handwerkskammern bis zu den pädagogischen Berufsverbänden müssen hierin eingebunden werden.
## Darstellung der Geschlechter in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien. Verlage und zuständige Referate in den Kultusministerien sollten dafür gewonnen werden, auf die Repräsentation einer Geschlechtervielfalt in den Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien zu achten, sodass Geschlechterstereotype vermieden werden.
## Vermeidung medialer Bilder, die Geschlechterstereotype verstärken. Kooperationen mit allen relevanten Akteuren, bspw. dem Werberat oder den Rundfunkräten, sollten aufgebaut werden, um Einfluss auf die Darstellung der Geschlechter in den Medien zu nehmen im Sinne einer Vielfalt von Lebensentwürfen jenseits tradierter Geschlechterstereotype.
## Stärkung von Geschlechtervielfalt in der Berufsberatung. In Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit und den Arbeitgeberverbänden ist darauf hinzuwirken, dass sich die Berufsberatung an der existierenden Vielfalt der Lebenswelten orientiert, den Rat suchenden Jungen auch ein breites Spektrum an Berufen jenseits geschlechterstereotyper Zuschreibungen offeriert und einer einseitigen Fixierung auf typische Männerberufe entgegenwirkt.
## Mehr Verantwortungsübernahme von Männern. Damit Jungen (und Mädchen) Erfahrungen mit männlichen Bezugspersonen machen können, müssen Männer verstärkt zur Übernahme von Verantwortung für heranwachsende Menschen motiviert werden, in der Familie und in pädagogischen Institutionen. Die Politik muss hierfür die Rahmenbedingungen schaffen, z. B. mit Maßnahmen wie dem Bundesprogramm „Mehr Männer in Kitas“ oder durch finanzielle Anreize, die eine Inanspruchnahme von Elternzeit durch Väter attraktiv(er) machen.
## Vielfältigere Angebote der Jungenarbeit. Jungenarbeit muss mehr, als sie gegenwärtig angesichts z. T. drastischer Sparmaßnahmen der Kommunen in der Lage ist, eine Vielfalt von Angeboten bereithalten, die sich gemäß dem Prinzip der Lebensweltorientierung an der Heterogenität der Lebenslagen von Jungen und der Vielfalt ihrer Interessen orientiert.
## Ansprache von Jungen über geeignete Formate. Eine Jungenpolitik muss bereit sein, tradierte Pfade der Politikvermittlung zu verlassen und sich der Kommunikationsmedien zu bedienen, die im Alltag der Jugendlichen vorrangige Bedeutung haben. Sie muss die Adressaten selbst an der Erstellung entsprechender Formate und Inhalte beteiligen.
Quelle: BMFSFJ
Dokumente: Jungen_und_ihre_Lebenswelten_Bericht_Beirat_Jungenpolitik_1_.pdf