Auszüge aus dem Rechtsgutachten für die Gestaltung von Mindeslohnausnahmen von Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, LL.M. (EUI), Zentrum für europäische Rechtspolitik (ZERP) des Fachbereichs Rechtswissenschaft, Universität Bremen:
“ … Vorgeschlagene Ausnahmegruppen
Die Frage ist, ob eine verfassungsrechtlich relevante und ggf. verfassungsrechtlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung im Hinblick auf die vorgeschlagenen Ausnahmegruppen gegeben ist.
Die steuerrechtlich nach § 3 Ziff. 26 EStG privilegierte Tätigkeit im Ehrenamt soll nach der Vereinbarung im Koalitionsvertrag nicht mindestlohnrelevant sein, da es in der Regel bei dieser Tätigkeit am Charakter der weisungsgebundenen Beschäftigung gegen Entgelt mangele.
Diese Differenzierung stellt keine verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung dar, da es ehrenamtlich Tätigen regelmäßig an der Erwerbsabsicht mangelt. Dass ehrenamtlich Tätige nicht mit einem Mindestlohn zu vergüten sind, setzt aber jeweils voraus, dass es sich tatsächlich um eine ehrenamtliche Tätigkeit handelt. Der Gesetzgeber muss hier sicherstellen, dass, wenn das Ehrenamt ein verdecktes Arbeitsverhältnis ist, der Mindestlohn greift. Hier wird der Gesetzgeber sehr genau zu definieren haben, für welche Fallgestaltungen die Aufwandsentschädigung im Ehrenamt ein funktionales Äquivalent für ein Arbeitsentgelt darstellt. … Arbeitsmarktpolitisch ist zu verhindern, dass das Ehrenamt zu einem neuen Niedrigstlohn-sektor verkommt. Der Gesetzgeber kann im Hinblick auf die Beschäftigtengruppe der Ehrenamtlichen durchaus mit Typisierungen arbeiten. Eine Regelung kann sich an den steuerrechtlichen Voraussetzungen des § 3 Ziff. 26 EStG orientieren. Sie muss aber besonderes Gewicht darauf legen, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die entgeltfrei erbracht wird. …
## Auszubildende Auch was die Situation der Auszubildenden betrifft, unterscheidet sich diese Beschäftigtengruppe dadurch, dass hier nicht die Arbeitsleistung und ihre Vergütung im Vordergrund steht, sondern der Erwerb der „für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten“ (§ 1 Abs. 3 BBiG). Insofern liegt bei der Herausnahme der Auszubildenden keine Ungleichbehandlung mit anderen Arbeitnehmer/-innen vor, denn in diesem Fall handelt es sich nicht um ein Arbeits-, sondern um ein Auszubildendenverhältnis. Anders stellt sich dies einerseits dar, wenn Auszubildende neben ihrem Ausbildungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis eingehen. Dieses ist ein nach den Mindestlohnvorschriften zu vergütendes Arbeitsverhältnis. In diesem Sinne wird der Gesetzgeber sicherzustellen haben, dass Nebentätigkeiten, auch wenn sie von Auszubildenden ausgeführt werden, dem Mindestlohn unterfallen. Das gilt auch für eine nach § 17 Abs. 3 BBiG zu zahlende Vergütung, die auf eine die vereinbarte regelmäßige tägliche Ausbildungszeit hinausgehende Beschäftigung zurückgeht.
## Praktikant/-innen Auch für die Praktikant/-innen, die ein im Rahmen des Studiums, der Berufsausbildung oder des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule verpflichtendes Berufspraktikum ableisten, steht auf Basis der jeweiligen Ausbildungsordnung der Ausbildungscharakter im Vordergrund. Auch hier liegt kein Arbeitsverhältnis und damit keine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vor. Das ist anders bei Praktikant/-innen, die kein ausbildungsrelevantes Pflichtpraktikum ableisten. … Diese Praktikant/-innen sind schutzbedürftig und nach Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG in den Berechtigtenkreis des Mindestlohnes einzubeziehen.
Ob der Mindestlohngesetzgeber junge Menschen oder Berufsanfänger/-innen aus dem Berechtigtenkreis des Mindestlohngesetzes zu Zwecken der Ausbildungsförderung herausnehmen darf, ist unionsrechtlich am Verbot der (mittelbaren) Altersdiskriminierung zu messen.
In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, dass die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass solche Ungleichbehandlungen „keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind“. Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 lit.) a können solche Ungleichbehandlungen u. a. „die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, […] um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen“, betreffen.
Der EuGH ist in der Anwendung dieser Kriterien sehr streng. So verbietet er in der Mangold-Entscheidung Differenzierungsweisen, die einzig am Alter ansetzen, als unverhältnismäßig (EuGH, Urteil vom 22. 11. 2005 – C-144/04, Mangold, Rdn. 65)und verlangt stattdessen vom Gesetzgeber den Nachweis, „dass die Festlegung einer Altersgrenze als solche unabhängig von anderen Erwägungen im Zusammenhang mit der Struktur des jeweiligen Arbeitsmarktes und der persönlichen Situation des Betroffenen zur Erreichung des Zieles […] objektiv erforderlich ist. […] Die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bedeutet nämlich, dass bei Ausnahmen von einem Individualrecht die Erfordernisse des Gleichbehandlungsgrundsatzes so weit wie möglich mit denen des angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden müssen“ (EuGH, Urteil vom 22. 11. 2005 – C-144/04, Rdn. 65).
Dem nationalen Gesetzgeber ist darum die unmittelbare Anknüpfung an Altersstufen wie auch die mittelbare Altersdiskriminierung von Berufsanfänger/-innen bei der Ausnahmengestaltung zum Mindestlohn unionsrechtlich nur gestattet, wenn Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit im Einzelnen nachgewiesen werden können. …
Angesichts der Zweifel bereits an der Geeignetheit dieser Differenzierungskriterien, wie sie angesichts der Praxis in anderen Mitgliedstaaten der EU zu Tage treten, kann die Herausnahme von Jugendlichen und Berufsanfänger/-innen nicht die unionsrechtli-chen Anforderungen erfüllen. … „
Das Rechtsgutachten wurde erstellt im Auftrag des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Den Text des Gutachtens in vollem Textumfang entnehmen Sie bitte dem Anhang.
Quelle: WSI – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung; DGB
Dokumente: VerfassungsvoelkerundeuroparechtlicherRahmenfuerdieGestaltungvonMindestlohnausnahmen.pdf