Sanktionen sind ein fester Bestandteil unseres Rechtssystems und werden im Grundsatz von den meisten Menschen akzeptiert. Es entspricht einer weit verbreiteten Rechtsauffassung in der Bevölkerung, dass Regelverletzungen und Gesetzesverstöße nicht folgenlos sind, sondern geahndet werden. Sanktionen zielen auf eine Verhaltenssteuerung: Einerseits sollen sie einen Anreiz zu regelkonformem Verhalten bieten und zugleich Abweichungen davon durch die Androhung von Strafen verhindern. Auf breite gesellschaftliche Akzeptanz treffen sie dann, wenn Regeln und Gesetze in Übereinstimmung mit den Werten und Orientierungen in einer Gesellschaft stehen und sich das Sanktionsmaß in einem angemessenen Verhältnis zu dem Grad der Rechtsverletzung befindet.
Sanktionen, die bei Versäumnissen und Pflichtverletzungen gegenüber Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherungsleistungen (SGB II) verhängt werden, sind immer wieder Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Ausgangspunkt und Auslöser für Kritik sind zumeist die hohe Anzahl der Sanktionen. Sie lag 2012 bei mehr als einer Million und hat in den letzten Jahren zugenommen. Vor allem die härteren Sanktionsregelungen für junge Leistungsbezieherinnen und -bezieher unter 25 Jahren stoßen auf Ablehnung und auf rechtliche Bedenken.
Befürworterinnen und Befürworter argumentieren mit einem „berechtigten staatlichen Interesse“ an der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und verweisen auf die Pflicht der Leistungsempfängerinnen und -empfänger, an der Beendigung des Leistungsbezugs und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt aktiv mitzuwirken. Kritikerinnen und Kritiker stellen das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum ins Zentrum ihrer Argumentation und lehnen Sanktionsmaßnahmen als Angriff auf die Würde des Menschen ab. Die Notwendigkeit von Sanktionen wird angezweifelt, ihre Wirksamkeit in Frage gestellt und die konkrete Ausgestaltung und die Sanktionspraxis kritisiert.
In der Studie stellen die Autoren, Dr. Oliver Ehrentraut und Dr. Reinhard Schüssler, und die Autorinnen, Dr. Anna-Marleen Plume und Sabrina Schmutz von der Prognos AG Basel, die gesetzlichen Regelungen dar, fassen bisherige Untersuchungsergebnisse zusammen und zeigen unterschiedliche Positionen und Handlungsoptionen auf. Sie geben einen Überblick über den Umfang und die Entwicklung der Sanktionen im Bereich der Grundsicherung, über unterschiedliche Positionen und Standpunkte, über die zentralen Argumente in der juristischen Debatte sowie über die Wirkungen von Sanktionen und die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse. Diese Übersichtsstudie bietet eine fundierte Bestandsaufnahme der vorliegenden Untersuchungen, Debatten, Positionen. Sie zeigt Forschungslücken auf und gibt Anregungen und Hinweise für eine zukünftige „Reform der Arbeitsmarktreform“.
Auszüge aus der Expertise „Sanktionen im SGB II“ – Wirkungsweise von Sanktionen:
“ … Intendierte Effekte
Das Ziel von Sanktionen ist es, durch ihre disziplinierende und motivierende Komponente zum Wiedereinstieg in eine Beschäftigung beizutragen und damit die Dauer des Leistungsbezuges zu verkürzen. …
Befunde für unter 25-Jährige
Jüngere Leistungsbezieher und -bezieherinnen werden in Deutschland härter sanktioniert als Leistungsbezieher, die bereits über 25 Jahre alt sind. Dahinter steht die Überlegung, dass Arbeitslosigkeit gerade in jungen Jahren schwerwiegende negative Folgen für das weitere Berufsleben hat und damit nicht nur zu individuellen Einkommensverlusten, sondern auch zu gesellschaftlichen Kosten führen kann. …
Eine Studie von Nivorozhkin und Wolff (2012), … , zeigt eine Unwirksamkeit der Sonderregelungen. Weder kurz- noch langfristig hilft das striktere Sanktionierungsregime, die jungen Leistungsbezieher (hier nur männliche Leistungsbezieher) schneller wieder in Arbeit zu bringen. Langfristig (bis zu drei Jahre nach der Sanktionierung) hat das striktere Vorgehen sogar negative Effekte. So sinkt nicht nur das Einkommen, sondern es steigt auch die Abhängigkeit von Grundsicherungsleistungen – letztendlich das Gegenteil der erhofften Ziele. Die Autoren interpretieren diese Ergebnisse in der Weise, dass viele Jüngere nicht in eine reguläre Beschäftigung, sondern in Ein-Euro-Jobs oder in Maßnahmen der Arbeitsagentur gehen, die nicht ihren Bedürfnissen entsprechen und einer Weiterqualifizierung sowie einer nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt eher entgegenstehen.
Im Einklang mit diesen Ergebnissen stehen die Einschätzungen interviewter Fachkräfte aus der Vermittlung und dem Fallmanagement. … Die Sanktion infolge einer größeren Pflichtverletzung wird dagegen eher kritisch betrachtet. Es wird zwar nicht ausgeschlossen, dass sie helfen kann, den jungen Leistungsbezieher schneller (wieder) in Beschäftigung zu bringen, dabei wird aber in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen aus Nivorozhkin und Wolff (2012) darauf hingewiesen, dass die jungen Arbeitslosen vielfach in schlecht entlohnte, unsichere und unqualifizierte Beschäftigung gedrängt werden. Vor diesem Hintergrund … spricht sich die Mehrheit der Interviewten gegen gesonderte Sanktionsregelungen für jüngere arbeitslose Grundsicherungsempfänger aus.
Nicht-intendierte Effekte
Es gibt unerwünschte Auswirkungen der Sanktionsregelungen. So konnten negative Effekte auf die Qualität der Beschäftigung nach dem Leistungsbezug, konkret negative Effekte auf das Einkommen/die Entlohnung und auf die Stabilität der Beschäftigung, nachgewiesen werden. Daneben gibt es eine Reihe weiterer nicht-intendierter Effekte, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Dazu gehören beispielsweise Resignation bei den Betroffenen und der Kontaktverlust der Arbeitsvermittler zu den Leistungsbeziehern. … Daneben birgt die Einkommensreduktion die Gefahr von sozialer Isolation, gesundheitlichen Beeinträchtigungen, Kleinkriminalität, Schwarzarbeit, Verschuldung oder gar Obdachlosigkeit. …
Befunde für unter 25-Jährige
Spezifi sche Analysen und Erkenntnisse zu den nicht-intendierten Auswirkungen von verschärften Sanktionsregelungen für unter 25-jährige Leistungsbezieher und -bezieherinnen liegen kaum vor. Eine Ausnahme bildet ein qualitativexploratives Forschungsprojekt vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das die Sanktionsregelungen für jüngere arbeitslose Leistungsbezieher aus zwei Blickwinkeln betrachtet:
## 2. die Regelungen aus Sicht der Betroffenen selbst.
Durch Interviews mit Betroffen sind als nicht-intendierte Auswirkungen der Sanktionierung festzustellen: eine Reihe von Einschränkungen in den Lebensbedingungen und der Teilhabe durch die Einkommensreduktion. Die Ernährung ist dabei vor allem bei Alleinstehenden betroffen. Die Betroffenen schildern, dass eine gesunde und frische Kost mit einem sanktionierten Einkommen kaum mehr möglich ist. Lebensmittelgutscheine werden als entwürdigend empfunden. Auch der Lebensbereich des Wohnens ist primär bei alleinstehenden Sanktionierten und im Fall von wiederholten Pflichtverletzungen betroffen. So wurde über das Sperren der Energieversorgung und die Gefahr der Obdachlosigkeit gesprochen. Viele Interviewte thematisieren ihre Verschuldung, die durch die Sanktionierung verschärft wurde. Vereinzelt wird über die Möglichkeit der Kriminalität oder eine alternative Einkommensquelle aus Minijobs und Schwarzarbeit gesprochen. … „
Änderungsbedarf versus Fortbestehen
Und wie sieht das die Politik?
“ … Die Regierungsfraktionen der vergangenen Legislaturperiode von CDU/CSU und FDP befürworten den Einsatz von Sanktionen und sehen keinen Änderungsbedarf an den bestehenden Sanktionsregelungen. Die Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehen dagegen, trotz grundsätzlicher Befürwortung von Sanktionen als solchen, Änderungsbedarf, insbesondere bei den Regelungen für unter 25-Jährige. Ebenso wird das in der Praxis sowie bei den politischen Gremien und Verbänden gesehen.
Für eine grundsätzliche Ablehnung von Sanktionen und eine Abschaffung der Sanktionsregelungen spricht sich … Fraktion Die Linke … aus. Aufgrund der mangelnden Unterstützung für eine Verfassungsklage durch die anderen damaligen Oppositionsparteien, beschränkt sie sich in der aktuellen politischen Debatte jedoch auf die Durchsetzung von einschneidenden Änderungen an den bestehenden Regelungen.
Die Mehrheit der Gruppierungen vereint sich damit auf der Position der grundsätzlichen Akzeptanz von Sanktionen bei gleichzeitigem Änderungsbedarf bei der Ausgestaltung der Sanktionsregelungen im SGB II. „
Die Expertise „Sanktionen im SGB II. Verfassungsrechtliche Legitimität, ökonomische Wirkungsforschung und Handlungsoptionen“ von Oliver Ehrentraut, Anna-Marleen Plume, Sabrina Schmutz und Reinhard Schüssler im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in vollem Textumfang entnehmen Sie dem Anhang.
Quelle: WISO Diskurs März 2014 – Friedrich-Ebert-Stiftung
Dokumente: WISODiskurs_Sanktionen.pdf