In einem auf Berufs- und Wirtschaftspädagogik online veröffentlichten Aufsatz geht es um die Bedeutung der individuellen Kompetenzentwicklung am Übergang Schule – Beruf: „Ausgangspunkt des Beitrags ist der Befund, dass Jugendliche und junge Erwachsene, die nach Pisa zur Risikogruppe gerechnet werden können, weitere Kompetenzen benötigen, um an das Regelsystem der beruflichen Bildung anschließen zu können. Jedoch werden die zum Teil wenig entwickelten Kenntnisse im Bereich der Grundbildung in den Maßnahmen des Übergangssystems weder systematisch diagnostiziert noch gefördert, da zum einen davon ausgegangen wird, dass diese Kenntnisse im Lesen und Schreiben nicht ressourcenorientiert zu fördern sind. Zum anderen sind die Verfahren zur Kompetenzfeststellung für Bildungsträger sowie für Schulen zu zeitaufwendig und nicht zu finanzieren. Die Unterrichtsgestaltung sowie deren Umsetzung durch das pädagogische Personal setzen daher weder umfassend an den Kenntnisständen, noch an den Bedürfnissen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen an, um einen subjektiv passenden Übergang zu ermöglichen. (…) Anhand qualitativer Daten aus dem Projekt Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften, Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule – Beruf, wird herausgearbeitet, über welche Kenntnisstände die Lernenden im Bereich der Grundbildung verfügen und wie eine Kompetenzerweiterung ermöglicht werden kann.“
Das Qualifikations- und Anforderungsniveau an junge Erwachsene steigt stetig
Auszüge aus dem Aufsatz „Grundbildung am Übergang Schule – Beruf und die Bedeutung der individuellen Komptenzentwicklung“ von Eva Anslinger (Universität Bremen) und Eva Quante-Brandt (Akademie für Arbeit und Politik):
„Die Veränderungen der Arbeitsgesellschaft von einer Industrie- und Produktionsgesellschaft zu einer Dienst- und Wissensgesellschaft wirken sich umfassend auf das System der beruflichen Bildung aus. Das Qualifikations- und Anforderungsniveau an junge Erwachsene steigt stetig, so dass Jugendlichen, die nach Pisa zur so genannten Risikogruppe gezählt werden, der Übergang zu einer Berufsausbildung trotz des prognostizierten Fachkräftemangels weiter erschwert bleibt.
Kennzeichen der Risikogruppe sind u. a. gering entwickelte und altersgerechte Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik und den damit zusammenhängenden geringeren Kompetenzen zum Transfer von Kenntnisständen. Ebenso wird vielfach das wenig entwickelte Potenzial an sozialer Kompetenz angemerkt. Gründe werden in den sozialen Lebenslagen gesehen, die vielfach von Armut im umfassenden Sinne geprägt sind. Die Schüler und Schülerinnen ohne Schulabschlüsse bzw. mit Hauptschulabschluss verfügen über schlechte Einmündungsvoraussetzungen in das duale System. Einerseits wirken Vorurteilsstrukturen der Betriebe bezüglich der Kompetenzen der jungen Erwachsenen, aber andererseits ist auch festzustellen, dass den Jugendlichen z. T. formale Grundlagen fehlen, um in das duale System in seiner gegenwärtigen Verfasstheit einmünden zu können. Diese Diskrepanz hat sich nicht zuletzt deshalb auch verschärft, weil die Neuordnung der Ausbildungsberufe nicht genügend mit kontinuierlichen Nachlernprozessen für junge Erwachsene begleitet wird.“
Katalog zur „Ausbildungsreife“ sieht neben formalen Schulabschlüssen weitere Kompetenzen
„Damit der formale Schulabschluss nicht das alleinige Einmündungskriterium für das duale System bleibt, haben sich unter der Federführung der Bundesagentur für Arbeit die Bündnispartner auf einen Katalog zur „Ausbildungsreife“ verständigt. In diesem werden Indikatoren benannt, die die Ausbildungsfähigkeit junger Erwachsener qualitativ beschreiben. Interessant an dieser Herangehensweise ist die Trennung formaler Schulabschlüsse von Kompetenzen im Bereich Lesen, Schreiben und Mathematik, was insbesondere für Migrantinnen und Migranten sowie für die Risikogruppe generell eine Integrationswirkung in das duale System haben kann. Eine genauere Betrachtung des umfangreichen Kataloges zeigt, dass das beschriebene Niveau in den Basiskompetenzen der Grundbildung nicht unterhalb der formalen Schulabschlüsse liegt. (…)
Zweierlei Aspekte an dem Katalog sind kritisch zu betrachten: Erstens suggeriert der Reifungsbegriff einen natürlichen Prozess der Herausbildung dieser Fähigkeiten, obwohl allseits bekannt ist, dass die Wirkungen der sozialen Lebenslage eindeutig die Entwicklung von Kompetenzen beeinflussen und ein gesteuerter Bildungsprozess erforderlich ist, damit junge Erwachsene den Kriterien der Ausbildungsfähigkeit entsprechen können. Zweitens bleibt unklar, wie diese Kompetenzen in den unterschiedlichen Aufgabenfeldern festgestellt werden, stützt sich diese lediglich auf das Erfahrungswissen der Akteure. Es ist zu befürchten, dass der Katalog zur Ausbildungsreife aufgrund der Unschärfe nur die Selektion am Übergang Schule – Beruf weiter befördert. Dies wird im folgenden Beitrag deutlich werden, wenn der Frage nachgegangen wird, ob aufwendig, nach Qualitätsstandards konzipierte Kompetenzfeststellungsverfahren in den Nachqualifizierungsmaßnahmen Anwendung finden.“
Wohl 15 – 20% der Bewerber/-innen werden mangels ausreichender Lese- und Schreibkompetenz nicht in das Ausbildungssystem aufgenommen
„Die politischen Forderungen zur besseren Integration der Risikogruppe werden verbunden mit der besseren Entwicklung und Unterstützung von Sprach- und Literalitätsfähigkeiten. Damit kommt einer systematischen Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeiten in der allgemein bildenden Schule eine zentrale Bedeutung zu, die auch für den Übergang von der Schule in den Beruf zentral ist. GRUNDMANN (2007) vertritt die These, dass 15% der Ausbildungsstellenbewerber und -bewerberinnen mangels ausreichender Lese- und Schreibkompetenz von den Ausbildungsbetrieben nicht in das Ausbildungssystem aufgenommen werden. Diese These deckt sich mit dem Befund der BIBB-Übergangsstudie, in der eine Gruppe von 20% identifiziert werden konnte, die zwar in das Übergangssystem einmündet, aber im Verlauf von 36 Monaten nicht den Sprung in das Ausbildungssystem schafft. (…)
Um die Lese- und Schreibkompetenzen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen am Übergang Schule – Beruf einschätzen zu können, wurden im Rahmen des Projekts „Literalitätsentwicklung von Arbeitskräften, Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf“ Jugendliche und junge Erwachsene nach subjektiven Einschätzungen ihrer eigenen Literalitätskompetenzen qualitativ befragt. Gleichzeitig wurden die Einschätzungen von Lehrkräften in den Bildungsgängen den Aussagen der Lernenden gegenübergestellt. (…) In das Sample wurden drei unterschiedliche Institutionen aufgenommen, die Maßnahmen des Übergangssystems durchführen. Dabei wurden ein national agierender, anerkannter Weiterbildungsträger, ein regionaler Bildungsträger und eine Berufsschule des Landes Bremen berücksichtigt. In der qualitativ angelegten Befragung wurden 31 Lernende (16 weibliche und 15 männliche) unterschiedlicher berufsorientierender und –vorbereitender Bildungsgänge leitfadengestützt interviewt. Der Migrationsanteil liegt bei ca. einem Drittel (32%). Neben den Lernenden wurden 16 Lehrende derselben Ausbildungsgänge befragt und in die Analyse einbezogen. (…)
Kompetenzfeststellung und Literalitätsförderung am Übergang
Schule – Beruf
Kompetenzfeststellungsverfahren sollen jungen Erwachsenen am Übergang Schule – Beruf eine umfassende Orientierung hinsichtlich ihrer Könnensstände sowie hinsichtlich ihrer Eignung zu einem bestimmten Berufsfeld ermöglichen. (…)
Kompetenzfeststellungen werden in den drei untersuchten Bildungsgängen sehr unterschiedlich ein- und umgesetzt. Diese reichen von selbst entwickelten Verfahren von einzelnen Lehrkräften über trägerinterne Verfahren bis zu standardisierten Verfahren, die jedoch meist durch einen externen Träger durchgeführt werden. Getestet werden soziale Kompetenzen, Rechtschreibfähigkeiten oder berufsfachliche Kompetenzen. Im Fokus stehen meist soziale und schulische Kompetenzen.
(…) Die Kompetenzfeststellung dient als ein Selektionskriterium, um eine zielgerichtete Zuweisung zu Maßnahmen der aufnehmenden Institution sicherzustellen. Damit ist die Zielsetzung der Kompetenzfeststellung nicht auf Ressourcenorientierung ausgerichtet. Beim aufnehmenden Träger erfolgt dann keine systematische Kompetenzfeststellung mehr, und die Ergebnisse aus der Testung werden nicht an das Lehrpersonal weitergeleitet. Aus diesem Grund erfassen die befragten Lehrkräfte beim Weiterbildungsträger die Kompetenzen und soziografischen Hintergründe der Teilnehmenden ein weiteres Mal, meist über persönliche Gespräche (Eingangsgespräche). (…) Oder zur Erfassung der Literalität werden von einzelnen Lehrkräften eigens konzipierte Tests durchgeführt, die meist ein Diktat und das Lösen von Grundrechenaufgaben enthalten. (…)
In der schulisch durchgeführten Berufsorientierung an einer Berufsschule in Bremen werden bislang ebenfalls keine systematischen Kompetenzfeststellungen durchgeführt. Die Lehrkräfte sind auf ihre individuellen Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf die Kompetenzen von Lernenden am Übergang Schule-Beruf angewiesen. Auch in dieser Institution haben einige Lehrkräfte eigene Verfahren entwickelt, die maßgeblich auf die Erfassung schulischer Kompetenzen beschränkt sind. (…)
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass den befragten jungen Erwachsenen am Übergang Schule -Beruf nicht deutlich ist, was ein Kompetenzfeststellungsverfahren ist, welchem Zeck es dient und wie die Ergebnisse in den Förderprozess einfließen. Gleichzeitig gehen nur wenige der Befragten auf die konkreten Feststellungsverfahren in der Maßnahme ein. Die durchgeführten Einzelgespräche oder Selbst- und Fremdeinschätzungen werden meist nicht in den Kontext von Kompetenzfeststellung eingeordnet. Um Lernende in den Förderprozess einzubeziehen, müssen die standardisierten oder eigenen Verfahren so gestaltet und umgesetzt werden, dass Kompetenzfeststellung und die Inhalte der Fördermaßnahme – auch von den Lernenden – in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. (…)
Grundbildung am Übergang Schule – Beruf
Junge Erwachsene am Übergang Schule – Beruf, die auf Nachlernprozesse angewiesen sind, haben aufgrund negativer Schulerfahrungen, die häufig durch soziale Faktoren verstärkt werden, ihre Literalität nicht altersgemäß entwickeln können. Gleichzeitig sind „gute schulische Basiskenntnisse“ ein Kriterium für Ausbildungsreife, allerdings sind die Kriterien im Segment der sogenannten „Sprachbeherrschung“, unter die auch Rechtschreibung, Lesen und Mathematik fallen, nicht klar ausdifferenziert und reichen von einfachen Kenntnissen bis zu anspruchsvollen Niveaus weit über dem eines Hauptschulabschlusses hinaus. (…) Jugendliche und junge Erwachsene haben sich fragmentiertes Wissen angeeignet, das sie oft nicht in einen Zusammenhang mit aktuellen Anforderungen in der Ausbildungs- und Arbeitswelt bringen können. (…) Befinden sich die Lernenden noch am Übergang Schule-Beruf und streben das Nachholen eines Schulabschlusses an, werden die Probleme beim Schreiben einer Inhaltsangabe oder einer Stellungnahme im Rahmen von Klausuren deutlich. Dann ist ein Maßnahmeabbruch eine häufige Konsequenz. (…)
Die Analyse der qualitativen Interviews von Lehrkräften und jungen Erwachsenen am Übergang Schule-Beruf zeigt, dass eine systematische und individuelle Förderung notwendig ist, um eine Verbesserung der Grundbildung am Übergang Schule-Beruf zu ermöglichen.
Im Rahmen des Projekts „lea., Teilprojekt Prozessbegleitende Diagnostik am Übergang Schule-Beruf“, wurden zwei Förderprozesse im Bereich der Grundbildung angestoßen und Konzepte und Lernmaterialien zur Förderung der Zielgruppe erprobt. (…)
Da das Thema Grundbildung im jungen Erwachsenenalter ein sensibles Thema darstellt, war eine vertrauensvolle Lernatmosphäre Voraussetzung. Begünstigt wurden die Lernsituationen darüber hinaus über den engen und vertrauensvollen Kontakt zu den Lehrkräften. Die Lernziele der sehr heterogenen Zielgruppen sowie der daran anschließende Förderprozess wurden individuell mit den Lernenden geklärt. Handlungsleitend ist dabei, dass die Lernenden den Lernprozess mitbestimmen und auch selbst mitsteuern im Sinne eines emanzipatorischen Lernansatzes und somit Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen. Eine Binnendifferenzierung der Lernmaterialien wurde meist über die Aufgabenstellung hergestellt, so dass sowohl in der Gruppe als auch in Einzel- oder Partnerarbeit gelernt werden konnte.
Fazit und Ausblick
Kompetenzfeststellungsverfahren, die den Qualitätsstandards bei der Ermittlung von Ressourcen von Lernenden entsprechen, werden zurzeit in Maßnahmen des Übergangssystems nicht umfassend eingesetzt. Gründe hierfür sind hohe Kosten, ein hoher Bedarf an qualifiziertem Bildungspersonal sowie umfangreiche zeitliche Ressourcen, die von der jeweiligen Bildungsinstitution derzeit nicht zu tragen sind. Alternativ werden in den Institutionen eigene Verfahren entwickelt, bzw. die Lehrkräfte entwickeln individuelle Verfahren, die auf ihren Erfahrungen mit der Zielgruppe basieren. Eine strukturelle Einbindung in eine ressourcenorientierte Förderung sozialer, fachlicher oder überfachlicher Kompetenzen oder gar von Grundbildung erfolgt bislang jedoch nicht. Damit werden Chancen vergeben, innerhalb der ohnehin sehr kurzfristigen Maßnahmen teilnehmendenorientiert zu arbeiten und Lernerfolge zu erzielen. Die Förderung in den Maßnahmen orientiert sich meist am mittleren Leistungsniveau der jungen Erwachsenen. (…)
Die Struktur der Angebote, Inhalte und Ziele der Maßnahmen in Bezug auf Kompetenzfeststellungsverfahren und Grundbildung haben Auswirkungen auf die generelle Kompetenzerweiterung von Lernenden sowie in erweiterter Perspektive auf die Vermittlung in das Ausbildungssystem. Das bedeutet, dass über die derzeitigen Konzeptionen der Kompetenzfeststellungsverfahren die bereits erworbenen Fähig- und Fertigkeiten (vor allem im Lesen und Schreiben), aber auch die Probleme nicht ausreichend sichtbar gemacht werden und damit auch kein systematischer und ressourcenorientierter Förderprozess angestoßen werden kann. Berücksichtigt man vor dem Hintergrund der Schreibkenntnisse junger Erwachsener am Übergang Schule-Beruf die Dauer von Maßnahmen im Übergangssystem, die meist auf 10 -12 Monate angelegt sind, wird deutlich, dass auch eine qualitativ hochwertige und individuelle Förderung eine geringe Wirkung auf den Lernfortschritt haben muss. Ein Teil der Jugendlichen benötigt neben einer individuellen Förderung mehr Zeit, um die Schreibkenntnisse an den Hauptschulabschluss anschlussfähig zu machen, womit Chancen auf dem Ausbildungsmarkt eröffnet werden können.
Die Befragung von Lehrkräften und Lernenden hat gezeigt, dass die Themen Kompetenzfeststellung und Förderdiagnostik von Grundbildung bislang nicht so umgesetzt werden, wie es die im Rahmen des Benachteiligtenprogramms ausgearbeiteten Qualitätsstandards erfordern. (…) Derzeit wirken die eingesetzten Verfahren in ihrer Zielsetzung selektiv (Zuweisung in Maßnahmen) statt fördernd (curricular-didaktische Anstöße). Vor allem die Lehrkräfte wünschen sich zur Verbesserung der eigenen Arbeit sinnvolle Instrumente zur Feststellung von sozialen und fachlichen Kompetenzen, um einen passgenauen Förderprozess initiieren zu können. Aber auch die Lernenden sollten stärker in die Diagnostik und den Lernprozess einbezogen werden, um die Möglichkeit zu eröffnen, Selbstlernkompetenzen zu entwickeln und eigenverantwortlich den Lernprozess mit zu steuern.
Zur Umsetzung subjektorientierter Bildungsprozesse benötigen Lehrkräfte neben geeigneter Instrumente zur Feststellung von Kompetenzen und Fertigkeiten eine gezielte Aus- und Weiterbildung im Bereich der Grundbildung sowie in der Gestaltung von binnendifferenziertem Förderunterricht, der an den ermittelten Ressourcen der Lernenden unmittelbar ansetzt. Plädiert wird für einen umfassenden Einsatz von systematischen Kompetenzfeststellungsverfahren mit einer integrierten Förderdiagnostik von Grundbildung in Maßnahmen des Übergangssystems sowie für deren Integration in die erziehungswissenschaftliche Aus- und Weiterbildung aller in diesem System agierenden Professionen.“
Anslinger, E./Quante-Brandt, E. (2010): Grundbildung am Übergang Schule – Beruf und die Bedeutung der individuellen Kompetenzentwicklung. In: bwp@ Berufs- und Wirschaftspädagogik – online, Ausgabe 18, 1-19.