Bundesjugendkuratorium fordert differenzierte Sichtweise im Integrationsdiskurs

PLURALITÄT IST NORMALITÄT FÜR KINDER UND JUGENDLICHE. Das Bundesjugendkuratorium hat im Februar 2005 eine Stellungnahme zu Migration, Integration und Jugendhilfe verabschiedet unter dem Titel „Die Zukunft der Städte ist multiethnisch und interkulturell“. Mit diesem Titel wurde zum Ausdruck gebracht, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte schon heute einen großen Anteil an der nachwachsenden Generation stellen. Deutschland ist ein Einwanderungsland und muss die Einwanderung gestalten. Die Stellungnahme des BJK hat die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik sowie die Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere auf der kommunalen Ebene, formuliert und begründet. Weder die Situationsanalyse noch die Empfehlungen müssen wiederholt werden, weil sie an Aktualität und Geltung nichts eingebüßt haben. Das BJK will keine neue Analyse vorlegen, sondern auf vernachlässigte Aspekte in der Diskussion hinweisen und falsche Akzentsetzungen kritisieren. Es will einen Beitrag leisten zum Wandel der Perspektive, wie die Einwanderungssituation gestaltet werden soll. Dabei geht es vor allem darum, Kinder und Jugendliche als individuelle Persönlichkeiten zu betrachten, die viele Eigenschaften und verschiedene Zugehörigkeiten haben. Zu verändern hat sich also die Haltung, mit der man sich in Alltagssituationen begegnet, insbesondere aber in konflikthaften Auseinandersetzungen. Dies gilt insbesondere für die öffentlichen Institutionen, d.h. für Kindertageseinrichtungen, für Schulen, für die Kinderund Jugendarbeit und die Ausbildungsstätten. Die Veränderung des Blicks auf MigrantInnen ist aus Sicht des BJK ein zentraler Beitrag zur Integration. Auszüge aus der Stellungnahme: “ SOZIALE UNGLEICHHEIT EBENSO WIE KULTURELLE DIFFERENZ IN DEN BLICK NEHMEN Die deutsche Gesellschaft hat in den letzten drei Jahrzehnten langsam die Einwanderung als wichtigen und nicht mehr zu leugnenden Faktor gesellschaftlichen Wandels entdeckt und Schritt für Schritt zur Kenntnis genommen. „Die“ MigrantInnen werden dabei häufig als grundsätzlich kulturell verschieden von „den“ Deutschen wahrgenommen. Die Betonung der nicht-deutschen nationalen Zugehörigkeit durch einen Teil von ihnen vervollständigt die Wahrnehmung von Verschiedenheit. Verfestigt sich dieser Prozess der wechselseitigen Definition, dann gehen die Übereinstimmungen zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen ebenso verloren wie die Differenzen innerhalb der beiden Gruppen. Allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, seien sie mit oder ohne Migrationsgeschichte, muss deutlich werden, dass ein gesellschaftlicher Konsens ihre aktive Mitwirkung benötigt. Er verlangt nicht, individuelle kulturelle Selbstdefinitionen zu negieren. Viele aktuelle politische Problemanalysen vernachlässigen, dass die Bedeutung von „Migrationshintergund“ oder „Staatsangehörigkeit“ für die Existenz von sozialen Problemen häufig nachrangig ist und heben diese Kategorien immer noch als Erklärung in den Vordergrund. Damit wiederholt sich ein in der Migrationsgeschichte oft beobachtetes Schema. Soziales wird beständig in Kategorien der kulturellen Differenz beschrieben. In Wirklichkeit verliert der „Migrationshintergrund“ aber an Erklärungskraft. … Die Hervorhebung der kulturellen Differenz hat weniger eine analytische Qualität, sie ist vielmehr eine formierende Definition und hat eine entlastende Funktion. Die Spaltung der Gesellschaft in zwei Kollektive mit und ohne Migrationsgeschichte leistet einen erheblichen Beitrag zur Beibehaltung von Gegensätzen. … Für eine belastbare empirische Basis für politische Entscheidungen ist ein forschungsbezogenes „Cultural Mainstreaming“ im Sinne der Berücksichtigung kultureller Pluralität auf allen Ebenen der Gesellschaft erforderlich. Die Lebenswirklichkeit von MigrantInnengruppen muss sich in den Forschungsvorhaben widerspiegeln. Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte sind hierzu gemäß ihrem Anteil an der jeweiligen Altersgruppe in die repräsentativen Studien zu integrieren und nicht als „Problemgruppen“ auszuschließen. Derartige Ausgrenzungen stehen dem Vorhaben entgegen, eine alterssensitive Berichterstattung über die Lebenslagen und Lebensdeutungen von allen Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Ein gesichertes empirisches Wissen über Kinder und Jugendliche, u.a. auch im Bereich der Armutsberichterstattung, als Grundlage politischer Interventionen bedarf zudem einer adäquaten Stichprobe als einer Grundvoraussetzung dafür, dass verschiedene MigrantInnengruppen separat in ihren gegebenenfalls spezifischen Besonderheiten erforscht werden können und über ihre Repräsentanz in Forschungsbefunden erst in den politischen Entscheidungsprozessen wahrgenommen werden können. Entscheidend dabei ist es, in Forschungsvorhaben, Ergebnissen und Interpretationen die Ambivalenzen und die Verschränkung zwischen Sozialem und Kulturellem deutlich herauszuarbeiten und vorschnellen Kategorisierungen und politischen Lösungsvorschlägen entgegenzuwirken. … Wahrscheinlich wird es in Zukunft zu dem Phänomen kommen, dass Familien mit Migrationsgeschichte auf Grund der Häufung protektiver Faktoren (Migration als das Projekt von aktiven, veränderungswilligen Personen, Zugang zu sozialer Unterstützung in einem lebendigen Verwandtschaftssystem, Zusammenhalt gegen eine teilweise als abweisend wahrgenommene Umwelt) Benachteiligung besser verarbeiten als beispielsweise einheimische Familien in ähnlicher Lage. Immer wieder nur auf die Probleme der Migrationsgeschichte hinzuweisen und öffentliche Ausgaben zu deren Beseitigung zu verlangen, kann dann leicht Ethnozentrismus und Rassismus stärken. Die Benachteiligung im Hinblick auf Bildung, Lebenschancen und Teilhabemöglichkeiten ist für Einheimische und Zugewanderte gleichermaßen ein zu verringerndes Übel. Deshalb soll eine Kinder- und Jugendhilfe ausgebaut werden, die alle benachteiligten Kinder und Jugendlichen und ihre Familien fördert und Bildungsmotivation stärkt. ABBAU DES „GENERALISIERTEN STEREOTYPS“ Die vielfach wiederholte und pauschale Forderung, MigrantInnenkinder müssten intensiver gefördert werden, hat die Herausbildung eines stabilen Stereotyps gefördert: MigrantInnenkinder gelten häufig von vornherein als „Problem“. Die diffuse Verwendung dieses Begriffs ermöglicht vielfältige negative Assoziationen, ohne dass man sich festlegen muss, was im Einzelnen gemeint ist. … Die gedankenlose Verwendung und die Instrumentalisierung von Stereotypen gefährdet Integration. Während die offen-aggressive, rassistische Kommunikationsform direkt erkannt und verurteilt werden kann, ist die latent-diskriminierende weiter verbreitet und zugleich schwerer offen zu legen und zu bearbeiten. Hierzu gehört auch die Gleichsetzung des Merkmals „mit Migrationsgeschichte“ mit „Hilfsbedürftigkeit“. Mit dieser Gleichsetzung wollen sich viele der so Kategorisierten nicht identifizieren, und gut gemeinte Hilfsangebote im Sinne positiver Diskriminierung treffen häufig nicht auf Zustimmung durch die AdressatInnen. Am wichtigsten ist deshalb eine deutliche „Ent-Kategorisierung“, indem „Probleme“ und „Missstände“ nicht mehr mit Gruppenmerkmalen („AusländerIn zu sein“) erklärt werden. Dass solche Analysen zutreffender sind, wird am „Sprachproblem“ deutlich. In der Schule sind alle benachteiligt, die in ihrer Familie nicht die in der Schule verlangte und notwendige Sprachfertigkeit erworben haben. Ob dies am Soziolekt, am Dialekt oder an der Zweisprachigkeit liegt, ist zunächst nicht bedeutsam, gewinnt aber Bedeutung bei der Sprachförderung. Diese muss nämlich individualisiert sein, und zwar in der Weise, dass die Muttersprache nicht diskreditiert wird und die Geförderten die Förderung zwanglos (im eigenen Interesse) akzeptieren können. Diese Art der Sprachförderung soll frühzeitig,… beginnen, …. Sie soll kontinuierlich über die gesamte Schulzeit hinweg fortgeführt werden. … AUSGRENZUNG VERHINDERN – PARTIZIPATION STÄRKEN In jedem Land wird zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten unterschieden, die Differenz zwischen Staatsbürgern und Ausländern ist ein Strukturmerkmal. Im Einwanderungsprozess wird dies vielfältig offenbar und macht seine Konflikthaftigkeit aus, weil die Ungleichbehandlung der Eingewanderten von diesen als ungerechtfertigt betrachtet wird. Nationalismus und Rassismus wollen an der Ungleichbehandlung festhalten. Wenn man dagegen den Einwanderungsprozess akzeptiert, dann haben die Eingewanderten allmählich und spätestens mit der Einbürgerung alle staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Insbesondere angesichts des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des Diskriminierungsverbots in der Verfassung haben diese an sich trivialen Überlegungen immer noch eine große faktische Bedeutung. … Für die Kinder- und Jugendhilfe wirken sich diese Vorgänge so aus, dass Stereotypen bei Kindern und Jugendlichen gefördert werden und dadurch das Zusammenleben der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigt wird. Integration wird bislang zu wenig im Zusammenhang mit partizipativer Integration verhandelt. Die bestehenden Strukturen der Jugendringe und Jugendverbände/-organisationen müssen die bereits begonnene Öffnung gegenüber Jugendlichen mit Migrationsgeschichte und MigrantInnen-Jugendselbstorganisationen fortsetzen. Dabei ist Offenheit auch für nicht organisierte Gruppen von Kindern und Jugendlichen angebracht. … REPRÄSENTANZ UND GLEICHHEIT Das BJK setzt in dieser Stellungnahme den Schwerpunkt auf die Art und Weise der öffentlichen Diskussion und des Umgangs im (pädagogischen) Alltag. Aus den dabei zu Grunde gelegten Prinzipien der Gleichheit und Anerkennung der Verschiedenheit ergeben sich auch konkrete Forderungen, die sich wie folgt zuspitzen lassen: 1. Soweit in förmlichen Regelungen noch die Ungleichbehandlung bestimmter Gruppen von Kindern und Jugendlichen besteht, soll sie beseitigt werden. Kinder und Jugendliche müssen insbesondere Zugang zu Bildung haben, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. 2. Sprachförderprogramme im Bildungsbereich haben in angemessener Weise die natürliche Mehrsprachigkeit, die heute nicht nur bei Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte wünschenswert ist, zu berücksichtigen und zu fördern. Dabei ist nicht das Merkmal „Migrationsgeschichte“, sondern der tatsächliche Förderbedarf der Kinder und Jugendlichen in sprachlicher und sozialer Hinsicht zu berücksichtigen. 3. Abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist im Rahmen der sozialen Bedingungen des Aufwachsens zu beurteilen und zu behandeln. 4. Kulturelle und damit auch religiöse Bedürfnisse von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte sind – solange diese sich mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen – als Teil ihrer kulturellen Selbstbestimmung ernst zu nehmen und als Beitrag zur kulturellen Vielfalt in Deutschland zu respektieren. Ebenfalls ernst zu nehmen ist ihr Bedürfnis sich darüber mit Gleichaltrigen auszutauschen. … Schule ist aufgefordert, dies im Sinne interkultureller Bildung als Querschnittsaufgabe des Bildungssystems für alle Beteiligten gewinnbringend in den schulischen Alltag einzubeziehen. 5. Junge Menschen mit Migrationsgeschichte müssen in allen Feldern gesellschaftlicher Teilhabe repräsentiert sein. Im Zugang zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen Schwellen der Inanspruchnahme abgebaut werden. Die Öffnung der verbandlichen Strukturen der Kinder- und Jugendarbeit für Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte muss weitergeführt werden. Ebenso müssen sie bei den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe angemessen vertreten sein. … 6. Auch in der Forschung und der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themenfeldes sollen junge Menschen mit Migrationsgeschichte angemessen beteiligt sein. Dies bedeutet zum einen, dass Personen mit Migrationsgeschichte auch auf der Seite der ForscherInnen aktiv und angemessen vertreten sind. Zum anderen sind Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte in Forschungsdesigns zu integrieren. Eine angemessene Integration umfasst sowohl ihre Repräsentation in den Stichproben der Studien gemäß ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung bzw. der jeweils untersuchten Population als auch die konsequente und differenzierte Auswertung und Interpretation der erhobenen Daten. Hierbei ist es erforderlich, dass Forschung der Komplexität der sozialen Wirklichkeit insofern Rechnung trägt, als die Daten nicht länger entweder in Migrations- oder in sozialen Kategorien analysiert und interpretiert werden. “ Die Stellungnahme in vollem Umfang entnehmen Sie bitte dem aufgeführten Link oder dem Anhang.

http://www.bundesjugendkuratorium.de
http://www.bundesjugendkuratorium.de/positionen.html

Quelle: Bundesjugendkuratorium (BJK)

Dokumente: bjk_2008_1_stellungnahme_migration.pdf

Ähnliche Artikel

Skip to content