Gerechtes Aufwachsen ermöglichen. Katholische Jugendsozialarbeit auf dem 13. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag in Essen

KERSTIN GRIESE UND PROF. BUTTERWEGGE BEI DER BAG KJS AUF DEM DJHT Gesprächsrunde BAG KJS zur Jugendarmut und Fachforum zur aktuellen Bildungsdiskussion Streiflichter der Gesprächsrunde zum Thema Jugendarmut * JUGENDARMUT IST EIN NICHT ZU VERNACHLÄSSIGENDES PROBLEM. “ In der aktuellen Diskussion um Armut kommt der spezielle Blick auf Jugendliche zu kurz, wobei aktuelle Zahlen belegen, dass 24% der 15- bis 18-jährigen von Armut bedroht bzw. betroffen sind. Dieser Anteil liegt sogar weit über den Werten der derzeit vieldiskutierten Kinderarmut, die bei den unter 6jährigen bei 14,4% und bei den 6- bis 15-jährigen bei 16,4% liegt. Die hohe Zahl bei den Jugendlichen kann u.a. damit begründet werden, dass zum einen der Anteil der Jugendlichen aus Alleinerziehenden Haushalten in dieser Gruppe höher ist, als bei den unter 15-jährigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass häufig kein Unterhalt vom zweiten Elternteil für die Jugendlichen gezahlt wird. Der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss besteht nur bis zum 12. Lebensjahr. Der Großteil der von Armut betroffenen jungen Menschen erhält Transferleistungen. Diese sollen verhindern, dass Menschen die in eine Notlage geraten sind, die sie nicht aus eigener Kraft bewältigen können, keine gesicherte Existenz haben. Nicht nur das physische Überleben soll garantiert werden, sondern auch eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Praxiserfahrungen belegen hingegen, dass die den Jugendlichen zur Verfügung stehenden Mittel bei weitem nicht ausreichen, um am (gesellschaftlichen) Leben Teil zu haben. Bei der derzeitigen staatlichen Förderung wird armen Jugendlichen die Chance genommen Jugendliche zu sein, sich auszuprobieren. In der Schule fehlt Lernmaterial, Hefte, Stifte oder Bücher können nicht bezahlt werden. Ein geringer Obulus für ein Mittagessen wird häufig nicht entrichtet. Erfahrungen des Berliner Projekts „Manege“ in Trägerschaft der Orden „Salesianer Don Boscos“ und „Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel“ sowie des Jugendzirkuses Cabuwazi zeigen, das von Armut bedrohte und betroffene Jugendliche von derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen weiter ins Abseits gedrängt werden. Das Sozialticket des Berliner Nahverkehrs für 33,50 Euro wird in den seltensten Fällen bezahlt. Das Geld wird für andere Dinge benötigt. So ergibt sich ein Teufelskreis ‚Wunsch nach Teilhabe – Nutzung der Verkehrsmittel ohne Ticket – gerichtliches Verfahren – Sozialstunden oder Bau – gesellschaftliche Ausgrenzung – verstärkter Wunsch nach Teilhabe ….“ Zur Aufbesserung ihrer finanziellen Ressourcen gehen viele der Jugendlichen Besucher der „Manege“ Blutspenden, ebenso viele werden regelmäßig abgewiesen, da ihre körperlichen Voraussetzungen sowie der gesundheitliche Zustand eine Blutspende nicht zulassen. Die Rahmenbedingungen der Unterstützungssysteme müssen verändert werden. Eine Erhöhung des Regelsatzes zählt ebenso dazu wie das Bereitstellen von Sachleistungen, vor allem aber eines kontinuierlichen personalen Angebots. Kerstin Griese, Vorsitzende der Familien- und Jugendausschusses im Bundestag, stimmt der Kritik am Sparkurs in der Kinder- und Jugendhilfe zu. „Manche Sparaktion war ein gravierender Fehler. Infrastruktur für Kinder und Jugendliche ist ohne Personal sinnlos. In Zukunft wird es noch mehr darauf ankommen, dass tatsächlich genügend Menschen zur Verfügung stehen, die sich kompetent, einfühlsam und mit ausreichend Zeit um Kinder und Jugendliche, aber auch um diejenigen Eltern kümmern, die Unterstützung brauchen“, sagte die Velberter SPD-Politikerin. Der deutsche Sozialstaat sorge im internationalen Vergleich für beträchtliche materielle Umverteilung, stellt Griese fest. „Schmerzhafte Einschnitte in unser Sozialsystem waren dagegen dort zu verzeichnen, wo es um konkrete Hilfe für die Menschen geht, etwa wo durch Stelleneinsparungen Effizienzsteigerungen erzielt werden sollten.“ Hier müsse künftig massiv investiert werden. „Ein modernes Gemeinwesen, das seinen Zusammenhalt bewahren will, kommt ohne einen starken, zupackenden und gut ausgestatteten Sozialstaat nicht aus.“ Griese warnte davor, zwischen dem unverzichtbaren Ausbau der Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen sowie der klassischen Jugendarbeit einen Widerspruch zu konstruieren. „Beides muss zusammenlaufen. Notwendig ist deutlich mehr Jugendsozialarbeit in den Schulen, genauso wie wir auf außerschulische Angebote nicht verzichten können.““ Ergebnisse aus der Podiumsdiskussion des Fachforums: * BILDUNG SCHÜTZT VOR ARMUT NICHT Das Fachforum ‚Bildung und Menschenwürde – christliche und sozialpolitische Forderungen katholischer Jugendsozialarbeit‘ der BAG KJS verknüpfte die Themen Bildung und Armut miteinander: “ Bildung ist keine politische Wunderwaffe im Kampf gegen Armut. Die momentane alternativ geführte Debatte, vom aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht unterstützt, um die Erhöhung der Transfer-/Sozialleistungen einerseits und um mehr Bildung andererseits, ist kontraproduktiv. Als Maßnahmen, die zur Armutsbekämpfung beitragen sollen, werden gesetzlicher Mindestlohn oder Steuererleichterungen diskutiert – ebenso wie Bemühungen um mehr Bildungsanstrengungen der Betroffenen. Eine Verbesserung der ‚Teilhabe- und Verwirklichungschancen‘ wird gefordert, die Politik bezeichnet ‚Bildung als Schlüssel für Teilhabe und Integration‘. Die Armutsproblematik wird auf Bildungsarmut reduziert. Niemand bezweifelt, dass Armut mehr ist, als wenig Geld zu haben. Aber ebenso ist Armut mehr als wenig Bildung zu haben. Es wird suggeriert, eine gute Schulbildung oder Berufsausbildung verhindere automatisch, dass jemand arm wird. Tatsächlich führen Bildungsdefizite häufig dazu, dass jüngere Menschen im heutigen Arbeitsmarkt nicht oder nur schlecht Fuß fassen. Die finanzielle Situation der Familie wirkt sich entscheidend auf die Bildungswege Jugendlicher aus. Armut in der Herkunftsfamilie zieht spätestens in der Sekundarstufe erhebliche Bildungsdefizite nach sich. Jedes Kind, jeder Jugendliche hat ein Recht auf Bildung, dass in Deutschland eklatant verletzt wird. Bereits im Kindesalter greifen im Bildungssystem Selektionsmechanismen und fördern die ’soziale Vererbung‘ von Bildungsdefiziten und Armutsrisiko. Eine Bildungshaltung, die vom System und nicht von den Menschen ausgeht, trägt nicht dazu bei das Problem zu lösen. An die Stelle des Rechts auf persönliche Selbstverwirklichung ist der Zwang zur ökonomischen Selbstverwertung getreten. Bildung darf nicht intrumentalisiert werden. Anstatt Arme und/oder Menschen mit Bildungsdefiziten auf ihre Bildungsanstrengungen zu vertrösten, sind grundlegende Änderungen im System und an der Haltung erforderlich. Eine fehlende, schlechte oder falsche Bildung kann Armut potenzieren und zementieren. Dabei handelt es sich nicht um die Ursache materieller Not. Bildung ist kein geeignetes Mittel gegen Armut ebenso wenig ein Garant für Erwerbstätigkeit und soziale Sicherung. Bildung kann durch soziale Diskriminierung entstandene Partizipationsdefizite junger Menschen mildern, allerdings verhindert sie keine materiellen Ungleichgewichte. Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen sind für benachteiligte Kinder und Jugendliche unentbehrlich, wenn es um ihre Entwicklung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit geht. Die Orientierung an den unzähligen Talenten und Fähigkeiten der jungen Menschen ist dabei handlungsleitend und nicht die Orientierung vom Bildungsystem her. Das System, auch und vor allem das Schulsystem, muss sich an den Lebensumständen der Kinder und Jugendlichen orientieren und zur Entfaltung der individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten beitragen. Die formale Chancengleichheit um deren Verwirklichkung sich die Politiker und Eliten bemühen, sorgt höchstens für Verfahrensgerechtigkeit. Für junge Menschen, deren Lebenslagen prekär sind, resultiert in den seltensten Fällen eine realistische Aufstiegsmöglichkeit. “ ABSCHLIEßENDE FORDERUNGEN AUS DEM PODIUM: – Das Recht auf Bildung ist als subjektiv einklagbares Recht in die Verfassung aufzunehmen. – ALG II-Regelsätze für Kinder und Jugendliche sind anders bzw. bedarfsgerecht auszugestalten. – In der Bildungsdebatte darf es nicht nur um Ganztagseinrichtungen gehen, sondern auch die Gemeinschaftschule nach skandinavischem Vorbild ist in die Diskussion einzubeziehen. – Die Bildungsverantwortung muss auf Bundesebene liegen. – Verstärkte Investitionen in eine Pädagogik für Benachteiligte sind erforderlich. – Das drei- bzw. viergliedrige Schulsystem ist aufzugeben. In 10 Jahren eine Schule für alle. – Bilinguale Schulen sind zu stärken. – Die Orientierung des Bildungssystems an dem ‚allgemeinen Kind‘ ist aufzugeben. Das Bildungssystem muss sich am einzelnen Menschen und dessen Ressourcen orientieren und diese fördern. – Unterstützungssysteme für Benachteiligte nicht durch Ausschreibung zerstören. Derzeitige Ausschreibungs- und Vergabepraxis von Maßnahmen der Arbeitsförderung aufgeben. – Lehrmittelfreiheit gewähren. – Kostenlose Mittagessen für Schülerinnen und Schüler. An dem Fachformum nahmen als Expertinnen und Experten teil: * Frau Mona Motakef (Essener Kolleg für Geschlechterforschung, Universität Essen-Duisburg) * Frau Marion Paar (Generalsekretärin IN VIA Deutschland, stellv. Vorsitzende BAG KJS) * Frau Sabine Wißdorf (Geschäftsführende Referentin der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz) * Herr Martin Gönnheimer (Projektleiter ‚Chancengleichheit durch mehr Bildungsgerechtigkeit‘, Deutscher Caritasverband) * Herr Prof. Christoph Butterwegge (Universität Köln) * Herr Christian Füller – Moderation (Journalist)

Quelle: BAG KJS MdB Kerstin Griese Prof. Butterwegge

Dokumente: Fachliche_Einfuehrung_Jugendarmut_Tischgespraech.ppt

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