Reformen am Arbeitsmarkt: Die berufliche Integrationsförderung zwischen Anspruch und Realität

BENACHTEILIGUNG – EIN INDIVIDUELLES DEFIZIT, ABER AUCH EIN SYSTEMPROBLEM Ein großer Teil Jugendlicher hat Probleme, den Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung zu bewältigen. Um diese jungen Menschen am Übergang Schule-Beruf zu unterstützen, ist in den vergangenen fast 30 Jahren ein komplexes Unterstützungssystem entstanden. Im Laufe der Zeit hat dieses System verschiedene sozial- und berufspädagogische, didaktische Grundsätze hervorgebracht. Der Beitrag von Dietmar Heisler (Universität Erfurt) untersucht die Frage, wohin sich diese Förderstruktur entwickelt hat? Vor allem die arbeitsmarktpolitischen Reformen der vergangenen Jahre haben hier die pädagogische Arbeit erheblich verändert. Auszüge aus dem Beitrag: “ … Um Jugendliche an der sog. ersten Schwelle, d. h. am Übergang von Schule in eine Berufsausbildung zu unterstützen, werden durch die Agentur für Arbeit verschiedene Maßnahmen zur Berufsorientierung und Berufsvorbereitung vorgehalten. Dazu zählten bis 2004 im Bereich der Berufsvorbereitung (BvB) die sog. Grundausbildungslehrgänge (G Lehrgänge), die Lehrgänge zur Verbesserung beruflicher Bildungs- und Eingliederungschancen (BBE-Lehrgänge) und die tip-Lehrgänge (testen-informieren-probieren). Die Förderlehrgänge F1-F4 richteten sich an junge Menschen mit Behinderungen … . Es wurde … versucht, die von der Arbeitsagentur geförderte Berufsvorbereitung durch die Einführung des „Neuen Fachkonzepts“ zu vereinfachen, jedoch ist festzustellen, dass die Komplexität des beruflichen Übergangssystems, dass sich in erster Linie an noch nicht Ausbildungsreife, benachteiligte Jugendliche richtet, im Zuge der Arbeitsmarktreformen erheblich zugenommen hat. … Insgesamt ist die Fülle an Maßnahmen nicht nur für die Jugendlichen schwer zu überblicken, die bei ihrer Berufswahl und dem Übergang in eine Berufsausbildung unterstützt werden sollen. Bei genauerer Betrachtung ist festzustellen, dass das beschriebene Übergangssystem bislang weit davon entfernt ist, eine kohärente Förderstruktur aufzuweisen. Verschärft wird dies durch die regionale Spezifik der Maßnahmekataloge. … Die zusätzlichen, vom BMWi oder vom BMBF geförderten Modellprogramme … haben diese Unschärfe zusätzlich erhöht. Aufgrund dieser Ausdifferenzierung der Maßnahmeangebote, ihren Organisationsformen und ihren mehrdimensionalen Zielstellungen entsteht eine neue hohe Diffusität der Maßnahmelandschaft, die als „Neuer Maßnahmedschungel“ bezeichnet werden kann. … In den vergangenen Jahren war die Arbeitsmarktförderung Gegenstand verschiedener Reformen. … Reformen, mit denen eine Deregulierung, Flexibilisierung und Ökonomisierung sozialer Hilfen einher ging, werden aufgrund ihrer Effekte für die Arbeitsmarktförderung bis heute kritisch betrachtet … Die Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik an Effektivität und Wirtschaftlichkeit wirft die Frage auf, ob die Förderangebote im Einzelfall passend sind. Es ist zu befürchten, dass – vor allem bei Jugendlichen mit individuellem Förderbedarf – die Integration in den ersten Arbeitsmarkt oder in die kostengünstigste Fördermaßnahme im Vordergrund stehen. Welche Konsequenzen hatten die Reformen für die berufliche Integrationsförderung? … Der pädagogische Anspruch der beruflichen Integrationsförderung und ihr Grundverständnis haben sich erheblich verändert. … Es kam zur Ökonomisierung und unzulässigen inhaltlichen Verkürzung der Förderansätze … . In erster Linie bedeutet es die stringente Orientierung aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen an den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Effektivität. Des Weiteren hatte es einen Perspektivwechsel auf den Hilfebedürftigen zur Folge. Er wird als grundsätzlich eigenverantwortliches und rational handelndes Subjekt gesehen. Es wird kritisiert, dass der aktuellen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bzw. ihrer Perspektive auf den Hilfebedürftigen, die Leitfigur des permanent rational handelnden „homo oeconomicus“ zugrunde liegt. Der passive, auf seine individuellen Vorteile bedachte Hilfesuchende, der sich lieber auf seiner „sozialen Hängematte“ ausruht, soll durch Sanktionen, Eingliederungsvereinbarungen usw. dazu veranlasst werden, sich aktiv an seiner Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu beteiligen. Dies erfolgt dadurch, dass (1.) soziale Dienstleistungen rigide auf Integration in Arbeit ausgerichtet werden, (2.) der Aufwand, um soziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, erhöht wird und (3.) die Hürden, um überhaupt Leistungen zu bekommen, erhöht werden. Dabei gerät aus dem Blick, dass Arbeitslosigkeit und Benachteiligung kein absichtlich herbeigeführter Zustand ist, sondern in einem engen Bedingungsgefüge aus individuellen Voraussetzungen und strukturellen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes entsteht. Ökonomisierung meint auch die Gratwanderung zwischen Standardisierung und Individualisierung von Hilfsangeboten. Im Fachkonzept der Berufsvorbereitung ist dieser Widerspruch deutlich erkennbar: Einerseits gibt es ein standardisiertes Konzept, dass alle Jugendlichen durchlaufen. Andererseits sollen die darin enthaltenen Förderangebote den Bedürfnissen und Voraussetzungen jedes einzelnen Jugendlichen entsprechen. … ARNOLD/ BÖHNISCH/ SCHRÖER (2005) kritisieren, dass für die berufliche Integrationsförderung eine subjektbezogene Sichtweise auf Benachteiligung typisch ist. Kritisch ist daran, dass soziale Problemkonstellationen in ein Fähigkeits- bzw. Unfähigkeitsproblem übersetzt werden. Dies ist die Folge eines ursachenbezogenen Benachteiligtenbegriffs: „man ist nicht benachteiligt, weil man arbeitslos ist, sondern man ist arbeitslos, weil man benachteiligt ist.“. Benachteiligte Jugendliche gelten nicht zuletzt deshalb als problematische Jugendliche mit Verhaltensstörungen, psychischen Problemen, retardierten Entwicklungsständen und „fehlender Ausbildungsreife“. In dieser Sichtweise wird den Jugendlichen die Fähigkeit abgesprochen, gesellschaftlich gestellte Anforderungen erfüllen zu können. Das gilt z.B. für die Berufswahl. Die schlechten sozio-ökonomischen und sozio-ökologischen Rahmenbedingungen des Aufwachsens führen in dieser Sichtweise dazu, dass den Jugendlichen Persönlichkeitsmerkmale anhaften, die sie zu Benachteiligten machen. Um die zuschreibenden und auch diskriminierenden Facetten dieses Benachteiligtenbegriffes zu umgehen, wurden in der Vergangenheit immer wieder Begriffe zur Beschreibung der Zielgruppe der beruflichen Integrationsförderung formuliert: Jugendliche mit besonderem Förderbedarf, Jugendliche mit Vermittlungshemmnissen, individuellen Förderbedarfen usw. Die dahinter liegende Sicht auf Benachteiligte hat sich damit jedoch kaum verändert. … Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der beruflichen Integrationsförderung eine Sichtweise existiert, in der Benachteiligung die Folge individueller Defizite und Probleme ist, die eng an soziale Herkunft und biografische Erfahrungen gekoppelt sind. Daraus resultieren Verhaltensformen, die als deviante, abweichende Verhaltensformen betrachtet werden. Maßnahme- und Ausbildungsabbrüche können als eine solche deviante Verhaltensform betrachtet werden. Die Abbruchrisiken für benachteiligte Jugendliche, die als noch nicht Ausbildungsreif gelten, sind besonders hoch. Darin liegt die Begründung dafür, dass ein Ausbildungsabbruch, als biografische Erfahrung, ein Merkmal für soziale Benachteiligung ist. … Damit stellen die Probleme und Defizite junger Menschen die zentralen Abbruchursachen dar. Mit einem subjektbezogenen, defizitorientierten Blick auf Jugendliche, in dem sie als ausbildungsunreif und berufswahlunfähig gelten, wird dies als Folge einer nicht beendeten, falschen oder nicht stattgefundenen Berufswahl erklärt. Abbrüche sind so das Ergebnis eines defizitär verlaufenden Berufswahlprozesses. Dabei geraten zwei Dinge aus dem Blick. (1.) Berufswahl ist als ein individueller Entwicklungsprozess zu verstehen, der selbst bei der Einmündung in eine Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. (2.) Abbrüche können, ähnlich wie im dualen System, eine Krisenerscheinung der beruflichen Integrationsförderung darstellen und auch auf die strukturellen Schwächen dieses Systems hindeuten. Die beschriebene, häufig undifferenzierte Sicht, in der Abbrüche ein kritisches Ereignis und die Folge devianter Verhaltensformen sind, wird in der Literatur eher kritisch betrachtet. Sie gibt allein die Sichtweise der Ausbildenden wieder. Nur wenige Untersuchungen berücksichtigen dazu auch die Perspektive der Auszubildenden. Im dualen System gelten Ausbildungsabbrüche als eine zentrale Krisenerscheinung. Welche Bedeutung haben Abbrüche in der beruflichen Integrationsförderung? Die beschriebene individuumsbezogene, defizitorientierte Sicht auf Benachteiligung lässt sich in der Interpretation von Maßnahmeabbrüchen wiederfinden. Handlungsstrategien zur Abbruchprävention setzen in den meisten Fällen an der Vermeidung von Abbrüchen und der Bewältigung individueller Probleme und Defizite von Jugendlichen an, die zu Verhaltensformen führen, die einen Abbruch zur Folge haben können. … Die verschiedenen Maßnahmeangebote haben im Zuge der Arbeitsmarktreformen repressiven Charakter erhalten. Dazu führen (1.) die abzuschließenden Eingliederungsvereinbarungen (§ 15 SGB II) (2.) der Fördergrundsatz, Jugendlichen unter 25 Jahren ein Angebot zu unterbreiten (§ 3 Abs. 2 SGB II), das diese annehmen müssen. Sonst kann es zu Leistungskürzungen etc. kommen (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Schließlich haben (3.) die neuen Zumutbarkeitsregeln und der Grundsatz des Forderns diese Verbindlichkeit der Maßnahmeformen zusätzlich erhöht. Aus sozialpädagogischer Sicht stellen Maßnahmeabbrüche eine Sanktionsform für Fehlverhalten und Fehlzeiten der Jugendlichen dar. … In der hohen Repressivität der Maßnahmen liegt außerdem die Gefahr, dass dadurch Maßnahmekarrieren gefördert werden. Einigen Jugendlichen gelingt es nicht, nach einer besuchten Maßnahme in eine Ausbildung oder eine Beschäftigung einzumünden. Sie werden mit einer neuen Maßnahme versorgt. Wenn den Jugendlichen der Übergang in Ausbildung oder Arbeit nicht gelingt, haben sie kaum die Chance, diesen Prozess zu unterbrechen. Für sie liegt darin ein Dilemma, denn sie sind zur Teilnahme verpflichtet. Die Untersuchung zeigt diesbezüglich (1.) dass einige Jugendliche Sanktionen und Leistungskürzungen in Kauf nehmen, oder dass sie (2.) nach Anlässen suchen bzw. Anlässe erzeugen, eine Maßnahme zu beenden ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Einige Jugendliche ziehen sich aus dem Leistungsbezug sogar ganz zurück. … Aus Sicht der Sozialpädagogen hatte die Einführung des Neuen Fachkonzeptes ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf das Abbruchgeschehen in der Berufsvorbereitung. Aufgrund der Verkürzung der Förderzeit haben sich Abbrüche verstärkt in die Anfangszeit der Maßnahmen verlagert. … Ergebnisse der quantitativen Teilnehmerdaten der Untersuchung. Sie zeigen, dass die Abbrecher in der Berufsvorbereitung deutlich älter sind, als die Nichtabbrecher. Diese Befunde legen den Verdacht nahe, dass hier ein Passungsproblem zwischen Förderbedarfen bzw. Entwicklungsinteressen der Jugendlichen und dem Maßnahmeangebot besteht. Maßnahmen der Berufsvorbereitung zielen auf die Unterstützung der Berufswahl. Bei älteren Jugendlichen kann jedoch angenommen werden, dass sie ihre Berufswahl bereits abgeschlossen haben. Anders formuliert, die Berufsvorbereitung stellt Entwicklungsaufgaben bereit, deren Bewältigung für einige Jugendliche belanglos ist. Durch eine Unterbrechung der Maßnahme, soll den Jugendlichen ein Anspruch auf eine angemessene Restförderzeit in BvB erhalten und neue Entwicklungschancen auf dem Weg in einen Beruf eröffnet werden. Diese „Strategie des gezielten Abbruchs“ eröffnet den betroffenen Jugendlichen jedoch nur selten zusätzliche Entwicklungschancen und Übergänge. Es besteht die Gefahr, dass damit der Grundstein für eine „Maßnahme-“ oder „Jugendhilfekarriere“ gelegt wird. Dadurch wird die Bewältigung spezifischer Problemstellungen der Jugendlichen, die immer auch Entwicklungsaufgaben darstellen, in die Verantwortung anderer Instanzen, wie der Herkunftsfamilie, oder in die Verantwortung des Jugendlichen selbst gelegt. Dort sind die zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben notwendigen Ressourcen jedoch kaum vorhanden. … Aus Sicht der Sozialpädagogen Ausbilder und Stützlehrer stellen Abbrüche ein kritisches Ereignis im Maßnahmeverlauf dar. Fehlendes Interesse, fehlende Konfliktfähigkeit, psychische Probleme und Motivationsprobleme der Jugendlichen sind in ihrer Sichtweise die zentralen Abbruchgründe. … Die Jugendlichen hingegen formulieren konkrete Ereignisse und Probleme, die ihrer Meinung nach die Abbruchursachen darstellen. In ihren Darstellungen resultieren diese aus ihrer konkreten Lebenssituation. Es zeigt sich, dass die Maßnahmen häufig in keinem konkreten Bezug zu den individuellen Wünschen, Interessen und Erwartungen der Jugendlichen stehen. Abbrüche sind so die Folge einer defizitären Form der Maßnahmezuweisung, bei der die individuellen Wünsche und Interessen der Jugendlichen, möglicherweise auch ihre Förderbedarfe kaum berücksichtigt werden. … Den Jugendlichen werden für die Bewältigung ihrer individuellen Probleme in den Maßnahmen zu geringe Ressourcen bereitgestellt. … ZUSAMMENFASSUNG … Benachteiligung kann als ein individuelles Defizit, aber auch als ein Systemproblem beschrieben werden. In der Praxis lassen sich beide Perspektiven kaum voneinander trennen. In der aus den Arbeitsmarktreformen resultierenden neuen Förderstruktur, werden Benachteiligungen, die im Fördersystem nicht bearbeitet werden können, immer zu individuellen Defiziten. Die Versorgungsdefizite des Berufsbildungssystems geraten dabei völlig aus dem Blick. Das zeigt sich insbesondere bei den Maßnahmeabbrechern. Viele von ihnen brechen Maßnahmen ab, weil sie ihnen nicht die gewünschten Entwicklungsperspektiven bieten. Diese Problematik wird verkannt, weil Abbrüche immer als ein individuelles Scheitern interpretiert werden, dem persönliche Defizite zu Grunde liegen. Vieles deutet aber darauf hin, dass hier Systemdefizite in persönliche Defizite übersetzt werden. Das ist aus berufspädagogischer Sicht in höchstem Maße fragwürdig. Eine wirkliche individuelle Förderung, die die Entwicklungswünsche der Jugendlichen aufnimmt, findet nicht mehr statt. Dort wo eine schnelle Integration in den Arbeits- oder Ausbildungsmarkt nicht gelingt, trägt das Individuum aufgrund der unterstellten persönlichen „Defizit“ dafür selbst die Verantwortung. “ Den Artikel im Volltext entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link. Er beruht zum großen Teil auf Ergebnissen Heislers Promotionsarbeit, die vor kurzem im Eusl Verlag veröffentlicht wurde. Titel: ‚Maßnahmeabbrüche in der beruflichen Integrationsförderung. Ursachen und Konsequenzen vorzeitiger Maßnahmebeendigungen in der Berufsvorbereitung (BvB) und außerbetrieblichen Berufsausbildung (BaE).‘ Heisler hat darin die Ursachen von Maßnahmeabbrüchen und ihre biografischen Konsequenzen aus Sicht der Jugendlichen untersucht und zur Sichtweise von Sozialpädagogen, Ausbildern und Stützlehrern kontrastiert.

http://www.bwpat.de
http://www.bwpat.de/ausgabe14/heisler_bwpat14.pdf

Quelle: Berufs- und Wirtschaftspädagogik online Nr. 14/ 2008, Dietmar Heisler

Ähnliche Artikel

Skip to content