Forschritt auf dem Weg zur Zweiklassengesellschaft: Jugendlichen im SGB II das Geld kürzen

JUGENDLICHE UNTER GENERALVERDACHT DES ABKASSIERENS In dem werktäglich erscheinenden Informationsdienst ‚Rundblick Nord Report‘ bringt ein Beitrag die Realität der pädagogischen Förderung benachteiligter Jugendlicher in den Jugendwerkstätten Niedersachsens und Wunschdenken einer strikten Reglementierung der finanziellen Förderung Jugendlicher ALG II-Empfänger durcheinander. Junge Menschen werden unter Generalverdacht des Abkassierens gestellt. Der Rundblick-Beitrag erweckt den Eindruck, die junge Menschen seien wesentlich interessiert für’s ‚Party‘ machen, als an ihrer beruflichen Zukunft zu arbeiten. Die stellv. Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft für Jugendsozialarbeit Niedersachsen, Petra von Bargen, widerspricht den Aussagen des Nord Report-Beitrags in einem Leserbrief. Der ‚Rundblick Nord Report‘ veröffentlichte den Leserbrief nicht im Wortlaut, sondern verfasste dazu einen eigenen Beitrag. Dieser wurde am Donnerstag, 23.10.08, abgedruckt. Der Vorwurf, der im Rundblick-Artikel mitschwingt, Jugendliche im ALG II-Bezug werden lebenslang von den Steuerzahler ausgehalten, regt vielleicht noch weitere Fachkräfte der Jugendsozialarbeit zum Widerspruch an. Auszüge aus den Rundblick Beiträgen sowie dem Leserbrief: “ Rundblick Nord Report vom 17.10.08 IN DER SOZIALEN HÄNGEMATTE In vielen Jugendwerkstätten in Niedersachsen ist Frustration eingekehrt. Ein Grund dafür ist eher erfreulich: Vielerorts gibt es so viele Lehrstellen, dass immer mehr Jugendliche, die eigentlich Förderbedarf hätten, in einen Ausbildungsplatz hineinrutschen. Insgesamt gibt es mittlerweile weniger Jugendliche, die so unversorgt und so schwach sind, dass sie den Weg über die Jugendwerkstätten machen müssen. Deshalb bekommen viele Werkstätten auch keine garantierten Maßnahmeplätze mehr. Der zweite Grund für eine inhaltlich nachhaltig begründete Frustration ist vom Gesetzgeber geschaffen worden und dürfte bekannt sein, ohne dass gegengesteuert wird: Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu Hartz IV haben sich erst einmal die Zuständigkeiten geändert. Jetzt sind die Arbeitsgemeinschaften von Kommunen und Arbeitsagentur sowie die Optionskommunen die Vertragspartner der Werkstätten. Damit sind die dort tätigen Jugendlichen jetzt allesamt Hartz IV-Empfänger geworden, d.h. sie erhalten ihr Geld automatisch jeden Monat, unabhängig davon, ob sie von den Maßnahmen in den Jugendwerkstätten Gebrauch machen oder nicht. … Vor der Hartz IV-Reform hatte das pädagogische Konzept funktioniert. Nach dem Grundsatz „Lohn gegen Arbeit“ waren die Jugendlichen in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen und zogen ihre Sechsmonats-Maßnahmen, manchmal mit Verlängerung, durch. Das psychologisch-pädagogische Moment, Jugendliche unter betrieblichen Beschäftigungsbedingungen zu motivieren und zu fördern, ging auf. Dieses Konzept ist jetzt zerstört die Jugendlichen haben das Gefühl, sie kommen für nichts und können genauso gut fürs Nichtstun kassieren. … Frank Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit, fordert, Hartz IV bei jungen Menschen zu kürzen auf das Niveau einer Ausbildungsvergütung, damit sie in eine Ausbildung gehen, anstatt mit ihrem automatisch fließenden Geld „Party zu machen“, ohne an Arbeit zu denken. … Die Wahrheit ist: Das jetzige System von Hartz IV für Jugendliche erzieht zur Abkassierdenke ohne die Notwendigkeit der Arbeit. Hartz IV für Jugendliche gehört sofort reformiert. Die Zeit dafür ist günstig, denn es gibt erstmals seit Jahrzehnten mehr Lehrstellen als Bewerber. Der Gesetzgeber muss jetzt handeln, damit aus dem Heer der Hartz IV-Jugendlichen nicht das lebenslange Prekariat wird, das die Steuerzahler unterhalten müssen. “ “ Leserbrief LAG JAW Niedersachsen ‚DES KÖNIGS NEUE KLEIDER?.‘ Nach dem Motto „des Königs neue Kleider“ skizziert die Verfasserin des Kommentars „In der sozialen Hängematte“ eine rosige Situation des Arbeitsmarktes für benachteiligte Jugendliche. Vermutlich hat sie sich diese erträumt, weil sie jeglicher Realität der Zielgruppe und der Rahmenbedingungen der Jugendberufshilfe entbehrt. Da geht vieles durcheinander, Zusammenhänge werden wild konstruiert, Jugendliche werden unter den Generalverdacht des „reinen Abkassierens“ gestellt. Und der Stammtisch-Appell soll wohl lauten: „Gebt den Jugendlichen weniger Geld, dann werden sie schon in die noch so vielen offenen Lehrstellen strömen, diese mit Bravour meistern, anschließend einen super Job erhalten, viele Steuern zahlen … usw.“ Unabhängig von der Diskussion, ob es pädagogisch (wohlgemerkt: pädagogisch) Sinn macht, dass Jugendliche weniger oder mehr Geld erhalten, um eine motivationsfördernde Wirkung zu erzielen, gibt es Jugendliche, die ohne pädagogische Unterstützung – z.B. durch die nachweislich sehr erfolgreich arbeitenden niedersächsischen Jugendwerkstätten – den Weg in Ausbildung und Arbeit nicht finden werden. Vielen jungen Menschen ist der Übergang von der Schule in die Ausbildung (1. Schwelle) als auch aus der Ausbildung in eine Beschäftigung (2. Schwelle) in den letzten Jahren nicht gelungen. Vor allem Bewerber/innen ohne Hauptschulabschluss sowie junge Migrant/innen sind besonders betroffen. Hinzu kommen junge Menschen, die nicht bei der Arbeitsverwaltung gemeldet sind. Diesen jungen Erwachsenen droht die dauerhafte Ausgliederung aus dem Arbeitsmarkt. Für den größten Teil dieser benachteiligten Jugendlichen spielt es dabei keine Rolle, ob grundsätzlich ein Ausbildungsplatz zur Verfügung steht. Sie sind aus ganz verschiedenen Gründen einfach noch nicht ausbildungsreif und müssen an Ausbildung und Arbeit herangeführt werden, zumindest wenn eine dauerhafte Integration in Ausbildung und Arbeit gelingen soll. Schnelle Vermittlung (ggf. mit finanziellem Druck) ohne ausreichende Begleitung führt aller Erfahrung nach zu Ausbildungs- und Arbeitsabbrüchen. Damit ist keinem, dem Jugendlichen und auch nicht der Allgemeinheit und dem Steuerzahler geholfen. In erster Linie sind nicht die ARGEN und Optionskommunen Vertragspartner der Jugendwerkstätten, sondern die Kommunen als Jugendhilfeträger und das Land Niedersachsen, das mit den Jugendwerkstätten den kommunalen Jugendhilfeansatz in Form der Jugendberufshilfe unterstützt. Hierdurch wird deutlich, dass die niedersächsischen Jugendwerkstätten grundsätzlich für alle Jugendlichen da sind, die persönliche, soziale und berufliche Unterstützung benötigen. Es spielt dabei zunächst keine Rolle, ob die Jugendlichen Hartz-IV-Empfänger sind oder nicht. Dass sogenannte sozial benachteiligte Jugendliche beruflich erfolgreich und langfristig in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt integrierbar sind, ist durch die überaus erfolgreiche Arbeit der niedersächsischen Jugendwerkstätten belegbar. Für einen solchen (auch volkswirtschaftlichen) Erfolg benötigt man jedoch in der Regel Geduld, Zeit, individuelle Begleitung und Angebote. Schnellschüsse für eine erfolgreiche Statistik und unter vermeintlich weniger finanziellem Aufwand waren dagegen auf die Dauer nie erfolgreich. Es spricht vieles dafür, dass die Jugendberufshilfe zukünftig einen weiteren Bedeutungszuwachs erfahren wird. Untersuchungen zeigen, dass schulische Probleme wie Schulversagen und -verweigerung, Jugendarbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und Armut zur Verschärfung von Marginalisierungsprozessen beitragen. Auch künftig dürfte daher eine erhebliche Anzahl junger Menschen individuelle Unterstützung bei der sozialen und beruflichen Integration dringend benötigen. Die unverhohlene Forderung, Jugendlichen das Geld zu streichen, kann daher nur eine Konsequenz haben: einen weiteren Fortschritt hin zu einer Zweiklassen-Gesellschaft. “ “ Rundblick Nord Report vom 23.10.08 LANDESARBEITSGEMEINSCHAFT: JUGENDBERUFSHILFE STÄRKEN Der Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Jugendsozialarbeit hat sich dafür ausgesprochen, die Jugendberufshilfe trotz nachweislicher Entspannung des Ausbildungsmarktes auch künftig zu unterstützen, wenn nicht gar auszubauen. Gleichzeitig verwahrte sich die LAG dagegen, die Hartz IV-Sätze für Jugendliche auf das Niveau einer Ausbildungsvergütung zu kürzen, wie es der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank Jürgen Weise, fordert. Der Arbeitsmarkt-Experte glaubt, dass junge Menschen dann eher in eine Ausbildung gehen, anstatt mit dem automatisch fließenden Geld „Party zu machen“. Das hält die LAG Jugendsozialarbeit für ein unrealistisches Bild und einen ebensolchen Ansatz. Unabhängig von der Fragestellung, ob Jugendliche durch mehr oder weniger Geld motiviert werden könnten, gebe es zahlreiche junge Menschen, die ohne die nachweislich sehr erfolgreich arbeitenden niedersächsischen Jugendwerkstätten nicht den Weg in Ausbildung und Arbeit finden würden, betonte die stellvertretende LAG-Vorsitzende Petra von Bargen … Der größte Teil dieser benachteiligten Jugendlichen sei aus verschiedenen Gründen nicht ausbildungsreif und müsse an Ausbildung bzw. Arbeit herangeführt werden, um dauerhaft dort gehalten zu werden. Eine schnelle Vermittlung, ggf. unter finanziellem Druck, ohne ausreichende Begleitung führe erfahrungsgemäß zum Ausstieg. Damit sei weder den Jugendlichen noch der Allgemeinheit bzw. dem Steuerzahler geholfen, meint von Bargen. Grundsätzlich seien die in erster Linie von den Kommunen und dem Land getragenen Jugendwerkstätten für alle jungen Leute da, die persönliche, soziale und berufliche Unterstützung benötigten. “

Quelle: Rundblick Nord Report vom 17.10.08 und 23.10.08 LAG JAW Niedersachsen

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