Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund

EVALUATION DES PROJEKTS ‚FÖRDERUNTERRICHT‘ DER STIFTUNG MERCATOR Heute findet sich nahezu in jeder bildungspolitischen Rede der Hinweis darauf, dass in Deutschlands Bildungseinrichtungen mehr für die Gruppe der Kinder aus Migrantenfamilien getan werden müsse. Gezielte Maßnahmen wurden zwischenzeitlich eingerichtet. Für viele Heranwachsende mit Migrationshintergrund kommen diese Initiativen allerdings zu spät, da sie bei Kindern und Grundschülern ansetzen und Schülerinnen und Schüler höherer Klassen gar nicht oder kaum erreichen. An dieser Stelle setzt das Projekt der Stiftung Mercator mit seiner doppelten Zielsetzung an: Durch den außerschulischen Förderunterricht an bis zu 35 Standorten, der im Rahmen dieses Projekts angeboten wird, erhalten viele Schülerinnen und Schüler die Förderung, die ihnen schulische Erfolge ermöglicht. Zugleich bietet das Projekt an den unterschiedlichen Standorten zahlreichen Studierenden eine Gelegenheit, sich in ihrem künftigen Beruf zu erproben. Zur Überprüfung des Förderansatzes hat die Stiftung eine Evaluation in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse liegen nun vor. Auszüge aus der Erhebung: “ AUSGANGSPUNKT FÜR DIE EVALUATION Gut eine Million Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund besuchen zurzeit die allgemeinen Schulen in Deutschland. Internationale Schulleistungsstudien wie PISA … sowie nationale Statistiken zu Bildungsabschlüssen zeigen, dass diese Schülerinnen und Schüler gegenüber solchen ohne Migrationshintergrund sowohl hinsichtlich ihrer schulischen Leistungen als auch ihrer Bildungsabschlüsse, ihrer späteren Ausbildungsquote und ihrer möglichen Berufsabschlüsse benachteiligt sind. Im Bildungsbereich sind die Defizite der deutschen Integrationspolitik somit eklatant. Fehlende mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse erschweren das Erreichen höherer Bildungsabschlüsse und vermindern Zukunftsaussichten. Genau hier setzt das Projekt „Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“ der Stiftung Mercator an. Das Projekt begann im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen und wurde im Jahr 2004 bundesweit ausgeschrieben und an 35 Standorten etabliert. Das Konzept beruht auf einem bereits vor mehr als 30 Jahren an der Universität Essen entwickelten und durchgeführten Projekt. In außerschulischem Förderunterricht werden circa 6.500 Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund der Klassenstufen fünf bis zehn (Sekundarstufe I) durch circa 1.500 Studierende zwei bis vier Stunden in der Woche unterrichtet. Dabei verfolgt das Projekt zwei Ziele: Zum einen sollen die sprachlichen und fachlichen Fähigkeiten der Förderschüler erhöht und so ein Beitrag zur Verbesserung ihrer Bildungschancen geleistet werden zum anderen sollen den als Förderlehrer eingesetzten Lehramtsstudierenden intensive Praxiserfahrungen im Umgang mit heterogenen Gruppen geboten werden, um sie so besser auf ihre berufliche Zukunft vorzubereiten. Somit sollen nicht nur die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sondern auch die den Förderunterricht erteilenden Studierenden von dem Förderprojekt profitieren. Über eine Laufzeit von drei Jahren, von Januar 2006 bis Dezember 2008, wurde das Projekt vom europäischen forum für migrationsstudien (efms) wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Ziel der Evaluation war es, Transparenz zu schaffen, Fördererfolge zu identifizieren und Empfehlungen für eine weitere Optimierung des Projekts herauszuarbeiten. Im Einzelnen stellten sich im Rahmen der Evaluation folgende Fragen: – Welche Merkmale haben die Schüler, die am Förderunterricht teilnehmen? Welche Motive haben sie? – Welche Merkmale haben die Studierenden, die als Förderlehrer am Projekt teilnehmen? Welche Motive haben sie? – Welche Struktur hat der Förderunterricht? Welche Fördermodelle gibt es? – Welchen Erfolg hat der Förderunterricht bei Schülern und Studierenden? – Welche Erfolgsbedingungen lassen sich identifizieren? WIE WURDEN DIESE FRAGEN UNTERSUCHT? METHODE UND DATEN DER EVALUATION Im Rahmen der Evaluation wurde eine Reihe von Daten erhoben. Quantitative Daten wurden u. a. zu folgenden Aspekten des Projekts erhoben: – Anzahl, Merkmale und Motive der am Projekt beteiligten Schüler und Studierenden – Unterstützung der Förderschüler durch ihr persönliches Umfeld – Durchführung des Förderunterrichts – sprachliche und fachliche Entwicklung der Förderschüler und Notenentwicklung der Förderschüler im Vergleich zu einer Kontrollgruppe – persönliche Weiterentwicklung der Förderlehrer sowie Nutzen durch und Zufriedenheit mit dem Projekt Qualitative Daten wurden zu folgenden Aspekten erhoben: – verschiedene Fördermodellen – verschiedene Handlungsfelder des Förderunterrichts – Beziehungen innerhalb der Fördergruppen Für die Evaluation des Projekts „Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund“ wurde ein Untersuchungsdesign mit vier Erhebungswellen entwickelt und es wurden Erhebungen im Abstand von circa einem halben Jahr durchgeführt. In der vierten Erhebungswelle wurden sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben. Für alle an der Untersuchung beteiligten Förderschüler und Förderlehrer wurde eine Panel-Untersuchung, bei der die gleichen Personen mehrfach befragt werden, angestrebt, um Entwicklungen über einen Zeitraum von zwei Jahren nachvollziehen zu können. Allerdings wurden 70 % der 6.600 Förderschüler und 70 % der 1.500 Förderlehrer zwischen der ersten und zweiten Erhebungswelle neu in das Projekt aufgenommen. Zwischen der zweiten und der dritten Erhebungswelle kamen 36 % der 6.400 Förderschüler und 35 % der 1.150 Förderlehrer zum Projekt hinzu. Aufgrund dieser Fluktuation und der daraus resultierenden Panel-Mortalität konnte ein Längsschnittsvergleich nur für die Untersuchungsteilnehmer realisiert werden, die an allen drei Wellen teilnahmen. Dies gelang für 439 Förderschüler und 139 Förderlehrer. Die Mehrzahl der Daten aus den drei quantitativen Erhebungen beziehen sich also auf die zu dem jeweiligen Erhebungszeitpunkt im Förderprojekt befindlichen Förderschüler und Förderlehrer. Diese Untersuchungen werden als Querschnittsuntersuchungen bezeichnet. … Eine Vollerhebung wurde angestrebt und es wurden für sozialwissenschaftliche Untersuchungen vergleichsweise hohe Rücklaufquoten von 60 % erreicht. Die Querschnittsuntersuchungen wurden dem Längsschnittsvergleich gegenübergestellt und die Ergebnisse wurden miteinander verglichen. Diese bestätigen einander zum größten Teil und weisen sehr konstante Strukturen auf. … Zusätzliche qualitative Interviews wurden im Juni 2008 an vier Standorten durchgeführt. Insgesamt wurden 66 Interviews durchgeführt, im Einzelnen mit fünf Projektleitern und Standortkoordinatoren, 19 Förderlehrern, 24 Förderschülern, 13 Klassen- bzw. Fachlehrern, einer Referendarin (ehemalige Förderlehrerin), einem Universitätsdozenten und drei Mitarbeitern des Jugendmigrationsdienstes des Diakonischen Werks. Ziel dieser ergänzenden qualitativen Erhebungen war es, eine genauere Kenntnis der Strukturen vor Ort und der Wirkmechanismen für einen erfolgreichen Förderunterricht zu gewinnen. Unterschiedliche Fördermodelle, verschiedene Handlungsfelder des Projekts und die Bedeutung der Beziehungen innerhalb der Fördergruppen konnten so identifiziert werden. WER WIRD GEFÖRDERT? BASISDATEN ZU DEN FÖRDERSCHÜLERN Die große Mehrheit der Förderschüler ist zwischen 11 und 17 Jahre alt und besucht die fünfte bis einschließlich zehnte Klasse. In allen drei Erhebungswellen besucht jeweils ein Viertel der Schüler die Schulformen Hauptschule, Realschule oder Gesamtschule. Circa 15 % gehen auf ein Gymnasium. Der Anteil sonstiger Schulformen, zu denen etwa die Förderschule zählt, liegt bei 10 %. Das Geschlechterverhältnis der Förderschüler ist relativ ausgewogen. Der bereits in der ersten Erhebungswelle zu beobachtende leichte „Jungenüberschuss“ verstärkt sich in der zweiten Erhebungswelle noch geringfügig, ändert sich jedoch in der dritten Erhebungswelle. An dieser Erhebungswelle nehmen mehr Mädchen teil. Auch im Längsschnitt überwiegen die Mädchen leicht. 40–50 % der Förderschüler wurden im Ausland geboren. Der Migrationshintergrund der Kinder und Jugendlichen wird noch deutlicher, wenn der Herkunftskontext der Eltern betrachtet wird: Die befragten Kinder gaben zu 95 % an, dass mindestens eines ihrer beiden Elternteile im Ausland geboren sei. Damit weisen in Übereinstimmung mit den Projektzielen fast alle Kinder einen Migrationshintergrund auf. … Neben den großen Einwanderungsgruppen aus der Türkei, Kasachstan und Russland ist eine Vielzahl weiterer Herkunftsländer vertreten. Das Einwanderungsalter der Förderschüler, die nicht in Deutschland geboren sind, liegt dabei in rund der Hälfte der Fälle zwischen 11 und 16 Jahren. Die Aufenthaltsdauer beträgt in allen drei Erhebungswellen bei annähernd der Hälfte der eingewanderten Förderschüler weniger als vier Jahre, im Längsschnittsvergleich bei einem Drittel der Förderschüler weniger als drei Jahre. Das heißt, der Förderunterricht erreicht eine Gruppe, bei der aufgrund der relativ kurzen Aufenthaltsdauer ein starker Förderungsbedarf besteht. … Diejenigen Förderschüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, fingen in über der Hälfte der Fälle bereits vor ihrem sechsten Lebensjahr an Deutsch zu lernen. Bei der Beantwortung der Frage „Welche Sprache sprecht ihr meistens zu Hause?“ geben jeweils 40–50 % der Förderschüler Deutsch und Türkisch an. Danach werden Russisch und Arabisch am häufigsten genannt. Zusätzlich wurden die Kinder nach den Sprachen gefragt, die sie normalerweise mit ihren Freunden sprechen. Fast neun von zehn Kindern sprechen mit ihren Freunden deutsch, ein Viertel türkisch und jedes zehnte Kind russisch. … Die Motivlage für die Teilnahme am Förderunterricht ist in allen drei Erhebungswellen und im Längsschnittsvergleich sehr stabil. Als zentrale Motive für die Teilnahme am Förderunterricht geben vier Fünftel der Förderschüler an, „bessere Noten“ bekommen zu wollen. Um die 60 % wollen einen höheren Bildungsabschluss erreichen und „mehr lernen“. Die Hälfte der Förderschüler erklärt zudem, nicht sitzen bleiben zu wollen. Von eher geringerer Bedeutung ist das Streben, die Erwartungshaltungen von Lehrern und Eltern („meine Eltern möchten es“ und „meine Lehrer möchten es“) zu erfüllen. … ERGEBNISSE UND EMPFEHLUNGEN 1. Förderunterricht trägt erheblich zur Verbesserung der Schulleistungen in Deutsch, Mathematik und Englisch bei den geförderten Migrantenkindern bei. Versetzungsgefährdete und schwache Schüler profitieren besonders stark vom Förderunterricht. Empfehlung 1: Zur Überwindung der strukturellen Bildungsbenachteiligung von Migrantenkindern sollte der Förderunterricht mit Förderlehrern und Förderzentren zu einem allgemeinen Angebot an allen Schulen für alle förderbedürftigen Schüler werden. 2. Die im Projekt als Förderlehrer eingesetzten Lehramtsstudierenden stufen den persönlichen und professionellen Nutzen des Projekts als sehr hoch ein. Sie fühlen sich in ihrer Ausbildung allgemein und speziell in Bezug auf DaF und DaZ durch die Angebote der Universitäten und die Arbeit der Projektkoordination bedeutend weiterqualifiziert und in ihrer Berufswahl entscheidend bestärkt. Empfehlung 2: Die Tätigkeit als Förderlehrer sollte in das Lehramtstudium integriert werden. An allen Schulen sollte eine feste Stelle für einen professionellen Förderlehrer eingerichtet werden, der die Ausbildung und Tätigkeit der studentischen Förderlehrer anleitet und kontrolliert. 3. Quantitative und qualitative Analysen zeigen, dass Schüler mit Migrationshintergrund von der Förderung durch Mentoren der gleichen ethnischen Herkunft besonders profitieren. Empfehlung 3: Bei der Rekrutierung von Förderlehrern sollte versucht werden, eine möglichst große Anzahl von Studierenden mit eigenem Migrationshintergrund zu gewinnen. … 5. Erfolg und Zufriedenheit im Förderunterricht hängen bei den Schülern stark mit ihrer Teilnahmemotivation zusammen. Der Unterricht ist erfolgreicher, wenn sich die Schüler freiwillig angemeldet haben. Empfehlung 5: Förderbedürftige Schüler sollten nicht durch Lehrer ihrer Schule zum Förderunterricht delegiert werden. In Gesprächen von Fach- und/oder Klassenlehrern mit den förderbedürftigen Schülern sollten diese motiviert werden, sich selbst zum Förderunterricht anzumelden. 6. Der Erfolg des Förderunterrichts hängt von seiner Dauer ab. Erst ab einem halben Jahr zeigen sich bedeutsame Erfolge. Empfehlung 6: Förderunterricht sollte mindestens über ein halbes Jahr, wenn möglich zur Stabilisierung von Fortschritten ein ganzes Jahr lang, besucht werden. 7. Schüler und Förderlehrer wünschen und praktizieren häufig eine Verbindung von Sprachförderung und Arbeit an Hausaufgaben sowie Vorbereitung auf Klassenarbeiten. Empfehlung 7: Sprachförderung im Förderunterricht sollte in die schulische Lebenswelt der Jugendlichen mit Hausaufgaben und Klassenarbeiten eingebunden sein. 8. Freizeitaktivitäten in der Fördergruppe stärken die Beziehung zwischen Förderlehrern und Schülern sowie der Schüler untereinander und verbessern das Lernklima in der Fördergruppe. Empfehlung 8: Förderunterricht sollte mit gemeinsamen, Freude bereitenden Freizeitaktivitäten in der Fördergruppe verbunden werden. 9. Die Integration des Förderunterrichts in den Nachmittagsunterricht von Ganztagsschulen ist zeit- und ressourceneffektiv, erleichtert die Standortkoordination, den Kontakt der Förderlehrer zu den Klassen- und Fachlehrern und vermeidet weitgehend eine Stigmatisierung der geförderten Schüler. Empfehlung 9: Förderunterricht sollte ein Strukturmerkmal aller Ganztagsschulen sein. 10. Bei Schulen ohne Ganztagsunterricht erweist sich die Einrichtung eines zentralen Förderzentrums als besonders effektiv. Empfehlung 10: Schulverwaltungen sollten im Regelfall die Einrichtung von zentralen Förderzentren für die Durchführung von Förderunterricht vorsehen. 11. Förderunterricht an einzelnen Schulen ist oft von rechtlichen und praktischen Unsicherheiten zwischen den Trägern bzw. Förderlehrern und der einzelnen Schule geprägt. Empfehlung 11: Zwischen dem Träger des Förderunterrichts und der Schule sollte eine vertragliche Vereinbarung über wechselseitige Verpflichtungen geschlossen werden. 12. Eine Kooperation der Träger des Förderunterrichts mit Wohlfahrtsverbänden hat sich für die Ausbildung und sozialpädagogische Unterstützung der Förderlehrer bewährt. Empfehlung 12: Träger des Förderunterrichts sollten mit Wohlfahrtsverbänden bei der Ausbildung und sozialpädagogischen Unterstützung der Förderlehrer kooperieren. “

http://www.efms.de

Quelle: bildungsklick.de

Ähnliche Artikel

Skip to content