DER BLICK AUS DER PERSPEKTIVE VON SCHÜLERINNEN UND SCHÜLERN Der im „Diskurs Kindheits- und Jugendforschung erschienene Beitrag befasst sich mit der Lebenssituation Jugendlicher, die eine Vielzahl von Werten zur individuellen Wertorientierung kombinieren und ihrer daraus erwachsenden Erwartung an schulischen Religionsunterricht. Grundlage für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Religionsuntericht und der Werteorientierung junger Menschen ist eine Fragebogenaktion unter 1.925 Jugendlichen. Davon waren 55 Prozent weiblich, 50 Prozent römisch-katholisch, 25 Prozent lutherisch und 22 Prozent gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Auszüge aus dem Beitrag von Hans-Georg Ziebertz und Ulrich Riegel „Religionsunterricht und Wertorientierung aus Schülerperspektive“: “ … Trotz empirisch stichhaltiger Befunde zum Säkularisierungsgrad westeuropäischer Gesellschaften gibt es in allen Ländern Religionsunterricht. Den einen gilt der Religionsunterricht als wichtiges Instrument, im öffentlichen Schulsystem Werte und Normen zu vermitteln. Andere werfen ihm vor, den gesellschaftlichen Fortschritt zu behindern, weil er traditionelle Werte propagiere. Es kann vermutet werden, dass die individuelle Einstellung zum Religionsunterricht wesentlich davon abhängt, welche Werte man selbst schätzt. Gilt das aber auch für Jugendliche, die in einer religiös pluralen Gesellschaft aufgewachsen sind und von denen viele keine konfessionell geprägte Sozialisation durchlaufen haben? Gibt es bei ihnen einen Zusammenhang zwischen dem Religionsunterricht, wie sie sich ihn wünschen, und ihren Wertorientierungen? … * Die Situation des schulischen Religionsunterrichts und die aktuelle Wertforschung … Beim schulischen Religionsunterricht kooperieren Staat und Kirche, denn der Religionsunterricht ist ordentliches Lernfach, das gemäß der Grundsätze der Religionsgemeinschaften zu erteilen ist (Art.7/3 GG). Der Staat stellt die personellen und organisatorischen Mittel für den Religionsunterricht zur Verfügung und prüft dessen Inhalte, ob sie pädagogischen und demokratischen Grundsätzen entsprechen. Die Religionsgemeinschaften bestimmen die Inhalte des Religionsunterrichts und formulieren die spirituellen Anforderungen, denen die Lehrerinnen und Lehrer gerecht werden müssen. Praktisch heißt das, dass Religion als katholischer und als evangelischer Religionsunterricht erteilt wird. Das Prinzip des konfessionellen Religionsunterrichts wird in manchen Regionen durch Projekte eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts durchbrochen. … Im schulischen Religionsunterricht der meisten Bundesländer spiegelt sich damit eine Situation wieder, wie sie für die Bundesrepublik Deutschland in der Mitte des letzten Jahrhunderts typisch war: Religion gibt es praktisch nur als evangelischen oder katholischen Glauben und die beiden christlichen Kirchen dominieren die religiöse Erziehung in der Schule. Wer dem Christentum kritisch gegenübersteht, kann bestenfalls einen religiös neutralen Ethikunterricht besuchen. Zwei Entwicklungen haben diese Situation jedoch grundsätzlich verändert. Zum einen ist Deutschland durch Prozesse von Migration ein religiös plurales Land geworden. Religion ist nicht mehr identisch mit Christentum. Zum anderen wuchs mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 die Zahl der nicht religiösen Bürgerinnen und Bürger. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist nicht mehr der Normalfall und man kann Religion auch neutral bis indifferent gegenüberstehen. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wird deshalb neben dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht das Fach „Philosophie‘ bzw. „Ethik‘ angeboten alle drei Fächer sind gleichberechtigt und bilden zusammen eine Fachgruppe. Ohne konfessionellen Bezug wird Religion in Bremen („Biblische Geschichte‘), Hamburg („Religionsunterricht für alle‘) und Brandenburg („Lebenskunde – Ethik – Religion‘) unterrichtet. Den drei Fächern ist gemeinsam, dass sie überkonfessionell und neutral im Blick auf die Weltanschauung sind. In Berlin schließlich gibt es keine verpflichtende religiöse Erziehung an öffentlichen Schulen, zum Schuljahr 2006/07 wurde jedoch „Ethik‘ als verpflichtendes Unterrichtsfach für alle Schülerinnen und Schüler der 7. bis 10. Jahrgangsstufe eingeführt. In diesem Fach sollen die Schülerinnen und Schüler auf ein Leben in der multikulturellen Gesellschaft vorbereitet werden. Religiöse Inhalte spielen in „Ethik‘ nur dann eine Rolle, wenn sie helfen, ein gesellschaftliches Problem zu lösen. Die Wertorientierung Jugendlicher …Ob der Vielfalt der Theorien in der Werteforschung, stimmen alle darin überein, dass Jugendliche sich einer Vielfalt von Werten verpflichtet fühlen. Diese kombinieren sie zu Wertorientierungen, die zu ihrer individuellen Lebenssituation passen. Eine kontrovers diskutierte Frage ist die Rolle von Religion für die Wertorientierung Jugendlicher. Viele Untersuchungen benutzen empirische Instrumente ohne religiöse Items, so dass sie über eine religiöse Wertdimension keine Aussage machen können. Die Studien, die Religion berücksichtigt haben, kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine Reihe von Untersuchungen stellt einen Bedeutungsverlust von Religion für die Wertorientierung fest. Diesen Studien stehen andere gegenüber, die einen Zusammenhang zwischen Religion und Wertorientierung finden. Demnach spielt Religion auch gegenwärtig eine Rolle für die Wertorientierung, wenn auch nicht mehr in ihrer herkömmlichen Form. In der Summe liegen also keine eindeutigen empirischen Befunde zur Rolle von Religion für die Wertorientierung Jugendlicher vor. Es kann angenommen werden, dass Jugendlichen ein breites Spektrum unterschiedlicher Werte wichtig ist. … . Jugendliche kombinieren sie zu einer Synthese, die zu ihrer Lebenssituation passt. Offen bleibt, welchen Einfluss Religion auf die Wertorientierung hat. Religionsunterricht und Wertorientierung Die ungeklärte Beziehung zwischen Religion und Wertorientierung bei heutigen Jugendlichen trifft die Debatte um den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen an einer zentralen Stelle. Denn bei allen konzeptuellen Unterschieden eint das Interesse an der Werterziehung die verschiedenen Modelle. … Angesichts der oben skizzierten Situation des Religionsunterrichts in Deutschland sowie der empirischen Befunde zur Wertorientierung Jugendlicher lässt sich die Frage stellen …: Welcher Typ des Religionsunterrichts hängt mit welcher Dimension der Wertorientierungen Jugendlicher zusammen? … Gibt es in der Perspektive von Schülerinnen und Schülern einen Zusammenhang zwischen ihrem Konzept eines idealen Religionsunterrichts und ihrer Wertorientierung? Die Untersuchung versucht dieser Frage anhang von drei Subfragen zu beantworten. Die erste Subfrage bezieht sich auf den idealen Religionsunterricht: Welchen Typ von Religionsunterricht wünschen sich Jugendliche? Die zweite Subfrage fokussiert die Wertorientierung: Welche Dimensionen prägen die Wertorientierungen Jugendlicher? Die dritte Subfrage schließlich nimmt den Zusammenhang beider in den Blick: Welcher Typ des idealen Religionsunterrichts hängt mit welcher Wertdimension zusammen? … * Empirische Befunde … Welchen Religionsunterricht/RU wünschen sich nun die Schülerinnen und Schüler in Deutschland? Die Befragten bevorzugen einen Unterricht, der objektiv über die verschiedenen Religionen informiert und ihnen hilft, ihren Platz im Leben zu finden. Die stärkste Zustimmung erfahren der RU über Religion (89.7 Prozent) und Ethik (86.9 Prozent). Nur etwas weniger stimmen die Jugendlichen dem RU als Lebenshilfe (78.4 Prozent) zu. Diese drei Konzepte sind auch die einzigen, die sich die Schülerinnen und Schüler wünschen. Andere drei Konzepte werden abgelehnt. RU in Glauben erhält nur 17.8 Prozent Zustimmung, RU in Religion (19.2 Prozent) und Kein RU (21.9 Prozent) nur geringfügig mehr. Dieser Befund wird durch die Korrelationsanalyse bestätigt …. Erstens korrelieren die Konzepte RU in Religion und RU in Glauben sehr stark positiv. Zweitens hängen auch die Konzepte RU über Religion, RU als Lebenshilfe und Ethik miteinander zusammen. … Drittens korreliert das Konzept Kein RU negativ mit allen anderen Konzepten. Die Jugendlichen unterscheiden damit zwischen einem monoreligiösen Religionsunterricht und der Position, nach der es keinen Religionsunterricht geben soll, auch wenn sie sämtliche zugehörige Konzepte ablehnen. Das säkulare Konzept Ethik dagegen lässt sich für die Jugendlichen gut mit den beiden multireligiösen Konzepten vereinbaren. Sie empfinden keinen Widerspruch zwischen dem neutralen Blick auf die verschiedenen Religionen und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. … Der Befund lässt sich weiter differenzieren durch die Variablen Geschlecht, Region und individuelle Religiosität. Männliche Jugendliche (26.4 Prozent) stimmen dem Konzept Kein RU stärker zu als weibliche Jugendliche (18.1 Prozent). Zwischen Jugendlichen aus Ost- und aus Westdeutschland gibt es keinen Unterschied, obwohl sich beide Teile Deutschlands in der Rolle unterscheiden, die Religion im öffentlichen Leben spielt. Schließlich stimmen Jugendliche, die sich selbst als religiös einschätzen, den Konzepten RU in Religion (34.1 Prozent : 14.3 Prozent), RU in Glauben (33.3 Prozent : 12.8 Prozent) und RU als Lebenshilfe (85.5 Prozent : 76.0 Prozent) stärker zu als ihre Altersgenossen, die sich nicht für religiös halten. Außerdem lehnen sie das Konzept Kein RU stärker ab (15.0 Prozent: 24.4 Prozent). … Die Jugendlichen wünschen sich einen Religionsunterricht, der objektiv über die verschiedenen Religionen informiert und sie dazu anregt, sich mit wichtigen Fragen ihres Lebens auseinanderzusetzen. Ein Religionsunterricht mit explizit konfessionellen Zügen wird dagegen ebenso strikt abgelehnt wie die Forderung, ganz auf eine religiöse Erziehung an öffentlichen Schulen zu verzichten. Wertorientierung … Den Jugendlichen ist ein breites Spektrum an Werten wichtig. Es lässt sich in die Dimensionen Beruf, Familie, Selbstmanagement, Technik, Hedonismus und Autonomie unterteilen. Den Jugendlichen ist ihre individuelle Freiheit am wichtigsten, während die Dimension Beruf die stärksten Bezüge zu den anderen Wertdimensionen aufweist. Hedonismus und Technik sind dabei besonders wichtig für männliche, nicht-religiöse Jugendliche, die im Westen Deutschlands wohnen. Weibliche Jugendliche legen dagegen besonders Wert auf ihre individuelle Freiheit. Religionsunterricht und Wertorientierung … Für die Jugendlichen gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Religionsunterricht und ihrer Wertorientierung. Drei Strukturmomente prägen ihn. Ein monoreligiöser Unterricht entspricht eher den traditionellen Werten der Familie und des Selbstmanagements. Ein multireligiöser Religionsunterricht, der auch gesellschaftliche Probleme anspricht, passt zum Willen zur individuellen Freiheit. Die Ablehnung des Religionsunterrichts wird am ehesten von denen gefordert, die an aktueller Technik und am Spaß im Leben interessiert sind. * Diskussion Zuerst bleibt festzuhalten, dass die Mehrzahl der Heranwachsenden einen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen will. Nur etwa ein Fünftel lehnt ihn ab, dabei handelt es sich vor allem um nicht-religiöse, junge Männer. Zwei Details sind besonders bemerkenswert. Zum einen ist selbst unter nicht-religiösen Jugendlichen die Zahl derer, die sich für den Religionsunterricht ausspricht, größer als die Zahl derer, die ihn abschaffen will. Zum anderen unterscheiden sich die Jugendlichen in den östlichen Bundesländern in ihrer Einstellung zum Religionsunterricht nicht von ihren Altersgenossen im Westen. Der ideale Religionsunterricht hat ein klares inhaltliches Profil. Die Schülerinnen und Schüler wünschen sich einen Religionsunterricht, der objektiv über die verschiedenen Religionen informiert, und ihnen hilft, sich mit den Problemen ihres Lebens auseinanderzusetzen. Beide Aspekte sind ihnen wichtig. Zum einen wollen sie etwas über die Vielfalt der religiösen Traditionen erfahren. Religiöse Vielfalt scheint heutige Jugendliche nicht zu verunsichern. Eher fordert Pluralität sie heraus, über ihre eigene Religiosität nachzudenken. Zum anderen soll sich der Religionsunterricht auf ihr Leben beziehen. Sie erwarten vom Religionsunterricht Anstöße, wie sie ihr eigenes Leben meistern können. Er soll ihnen helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Damit trägt der ideale Religionsunterricht der Schülerinnen und Schüler ein eindeutig multireligiöses Profil, in dem auch säkulare Perspektiven eine Rolle spielen. … Im idealen Religionsunterricht heutiger Jugendlicher ist keine monoreligiöse Position enthalten. Die Schülerinnen und Schüler wollen weder eine Einführung in die Kirche, noch eine Einführung in den christlichen Glauben. Diese Einstellung steht im deutlichen Kontrast zur Haltung der beiden großen christlichen Kirchen, die für einen konfessionellen Religionsunterricht eintreten. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass Religion ohne konfessionellen Bezug abstrakt und lebensfern bleibe. Die Befunde zeigen, dass Jugendlichen diese Argumentation fremd ist. Sie assoziieren einen monoreligiösen Religionsunterricht nicht mit individueller Freiheit: Autonomie und religiöse Exklusivität stehen im Widerspruch zueinander. … Mit ihrer Einstellung entsprechen die Jugendlichen dem aktuellen Zeitgeist. Ihnen gilt Pluralität als selbstverständlich. Statt zu verunsichern, scheint die Auseinandersetzung mit fremden Traditionen das Nachdenken über das Eigene zu stimulieren. … Eine Frage lässt der Befund jedoch offen. Die Wertorientierung Jugendlicher beinhaltet keine Dimension, die das soziale Engagement für die Gesellschaft repräsentiert. Das theoretische Konzept Humanität wurde durch die Faktorenanalyse nicht bestätigt. Und der Faktor Familie steht für das Engagement für das private Glück. Die Wertorientierung Jugendlicher ist damit stark individualistisch. Religion stellt dazu ein klassisches Korrektiv zur Verfugung. Dieses Korrektiv findet sich im Befund jedoch nicht wieder. Bleibt der multireligiös-säkulare Religionsunterricht ohne Effekte im Blick auf gesellschaftliches Engagement? Diese Frage verdient eine eigene Untersuchung. “ Den vollständigen Beitrag entnehmen Sie bitte Diskurs Kindheits- und Jugendforschung Heft 4-2008. Der Termin für den Volksentscheid über den Status des Religionsunterrichts in Berlin ist der 26. April 2009. Die Initiative „Pro Reli“ setzt sich für ein Wahlpflichtfach ein und hat einen Gesetzesentwurf erarbeitet, der neben, nach Bekenntnissen getrennten Religions- oder Weltanschauungsunterricht auch verbindliche Phasen gemeinsamen Lernens, zu Klassenverbund vorsieht. Derzeit hat der Religionsuntericht in Berlin nur den Statuts einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft.
Quelle: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung