WIEVIEL EINFLUSS HAT DIE NACHBARSCHAFT? In einem Aufsatz geht Prof. Harmut Häußermann – Professor für Stadt- und Regionalsoziologie an der Humboldt-Universität Berlin – der Frage nach ob es tatsächlich eine bedrohliche Entwicklung von „Parallelgesellschaften“ gibt, in denen sich Migranten zusammenschließen und ihren Integrationsprozess dadurch verhindern. Auszüge aus dem Beitrag, der in der Kommunalpolitschen Infothek, einem Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung, erschienen ist: “ Im Januar 2006 stellte einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest, in Deutschland seien Parallelwelten entstanden, „in denen deutsche Minderheiten Schutz brauchen“. Bereits drei Jahre zuvor wurde im Spiegel (Heft 10/2003) der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass „mitten in Deutschland Millionen von Immigranten in blickdichten Parallelwelten nach eigenen Regeln von Recht und Ordnung“ leben. Der Begriff der „Parallelgesellschaften“ bzw. „Parallelwelten“ hat seit 2005 Hochkonjunktur. Inzwischen haben sich die Bundeskanzlerin und der Innenminister des Öfteren herabgebeugt, um zu demonstrieren, dass man nicht nur über Migranten reden kann, sondern auch mit ihnen. Über die 2007 beschlossene gesetzliche Verschärfung der Zuwanderungsregeln wollte die Bundesregierung jedoch mit den Migrantenvertretern nicht reden – die Neuregulierung erschien den Regierenden offenbar so evident und dringlich, dass man sich die interkulturelle Debatte ersparen konnte. Die Repräsentanten der großen türkischen Verbände blieben darauf hin der letzten Sitzung des „Integrationsgipfels“, auf dem im Juli 2007 der in Arbeitsgruppen vorbereitete „Nationale Integrationsplan“ beschlossen wurde, fern. In diesem Integrationsplan („Neue Wege – Neue Chancen“) heißt es im Themenfeld 5, wo es um „Integration vor Ort“ geht: „Das Wohnumfeld hat eine zentrale Funktion im Integrationsprozess. Es ist Lebensmittelpunkt und wichtiges Kontaktfeld für die Zuwanderer und die einheimische Bevölkerung. Vor allem Kinder und Jugendliche sowie nicht erwerbstätige Erwachsene verbringen einen großen Teil ihrer Zeit im Wohnquartier. … Leitbild für die Stadtteil- und Quartiersentwicklung ist die Schaffung und Sicherung sozial und ethnisch gemischter Quartiere“. Über die Frage, wie dieses Leitbild realisiert werden soll, findet sich im Integrationsplan allerdings kein Wort. Damit wird die argumentative Grundfigur in der Debatte über Integration und Wohnquartiere abermals sichtbar. Sie lautet: 1. „Wir“ vermuten, dass in den Quartieren mit hohem Migrantenanteil schlimme Dinge passieren. 2. „Wir“ sind dagegen und fordern die Migranten auf, sich endlich zu integrieren. 3. „Wir“ selbst müssen nichts tun, um die Segregation zu vermindern. INTEGRATION UND WOHNQUARTIERE … Über die unseligen Auswirkungen der Konzentration einer bestimmten Bevölkerungsgruppe in einem Quartier gibt es offenbar einen politischen common sense, in dem sich Integrationsprobleme, Parallelwelten, Terrorismus und sozialer Sprengstoff auf undurchsichtige Weise verbinden. Was aber was wissen wir wirklich über die Wirkungen, die von „Ausländervierteln“ ausgehen? Welche Folgen hat das konzentrierte Zusammenleben von Migranten in bestimmten Quartieren? Zu den vorgebrachten Behauptungen und Befürchtungen gibt es bisher wenig gesichertes Wissen. … Parallelwelten oder Parallelgesellschaften werden als gefährlich charakterisiert und gedanklich mit zwei verschiedenen Weisen der Abschottung zusammengebracht: Zum einen mit einer mentalen Abschottung, die sich in anti-westlichen Werten und einer verstärkten Bedeutung des Islam zeige zum zweiten mit einer räumlichen Abschottung, die ein Leben in einer separierten Welt nach sich ziehe, in der sich kaum Berührungen mit der Mehrheitsgesellschaft ergeben, ja bewusst vermieden werden. … Bei der Frage der Integration von Minderheiten in eine Aufnahmegesellschaft werden im Allgemeinen vier Dimensionen unterschieden: – eine strukturelle Dimension, die den Zugang zu Kernbereichen der Gesellschaft, insbesondere zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem betrachtet – die kulturelle Integration, mit der vor allem das Erlernen der Sprache und die Übernahme von Verhaltensweisen und Normen des Aufnahmelandes umschrieben wird – die soziale Integration schließlich meint die Kontakte zwischen Migranten und Einheimischen, die ethnische Mischung von sozialen Netzen und die Mitgliedschaft in Vereinen – schließlich geht es um das „Gefühl“ der Zugehörigkeit, also um die Identifikation mit der Herkunftsgesellschaft bzw. mit der Aufnahmegesellschaft, wobei umstritten ist, ob auch multiple Identitäten möglich sind oder ob eine gelungene Integration eine exklusive Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft bedeutet. Die Behauptung, dass die Bildung von Parallelgesellschaften die Integration behindere, soll im Folgenden überprüft werden. Angenommen wird dies insbesondere dann, wenn sich Migranten in Parallelwelten zurückziehen können, die sich auch räumlich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Die Konzentration von Minderheiten in bestimmten Quartieren und ihre räumliche Separierung, behindere – so die Annahme – Integration. Eine Grundüberzeugung in der Diskussion über Migranten und Integration lautet daher, dass soziale Mischung gut für Integration sei (vgl. auch Musterd/Ostendorf 2005) – im Nationalen Integrationsplan wird sie daher auch an erster Stelle genannt, wo vom Wohnen geredet wird. … Will man die tatsächlichen Wirkungen der räumlichen Segregation von Migranten in deutschen Städten überprüfen, die bislang als Vermutungen in die Thesen von Politikern und Medien eingegangen sind, wäre zunächst zu klären, ob es überhaupt Stadtviertel gibt, die dem Begriff der ethnische Kolonie entsprechen. … WIE ABGESCHOTTET LEBEN MIGRANTEN IN DEUTSCHLAND? Nimmt man die Maßstäbe, die Migrationsforscher der großen Zuwandertungsländer USA oder Canada benutzen, um eine ‚ethnische Nachbarschaft‘ zu bestimmen, dann müsste eine einzelne ethnische Minderheit mindestens 30 % oder gar 40 % der Bewohner in einem Quartier stellen. So hohe Anteile finden wir aber in deutschen Städten kaum. In Deutschland bildet die gesamte ausländische Bevölkerung in einem Viertel nur selten die Mehrheit – und eine einzelne ethnische Minderheit erreicht selten mehr als einen Anteil von 30 %. Wenn dieser Anteil überhaupt diese Marke erreicht, dann sind es Türken, denn andere ethnische Minderheiten sind insgesamt nicht so groß und leben auch nicht so segregiert. … Einer der zentralen Glaubenssätze der traditionellen Migrationssoziologie lautet, dass räumliche Abschottung Kontakte mit Einheimischen verhindere und damit Integration erschwere. Zahlreiche Untersuchungen zeigen jedoch, dass das nicht stimmt. … Soziale Beziehungen, das ist die Quintessenz von vielen Untersuchungen, ergeben sich am ehesten zwischen Menschen mit gleichem sozioökonomischen Status und gleichem Lebensstil. Wenn diese Voraussetzung gegeben ist, dann vergrößert räumliche Nähe die Wahrscheinlichkeit von Kontakten. Divergierende Interessen oder unterschiedliche Lebensstile werden durch räumliche Nähe aber nicht neutralisiert – in diesen Fällen kann – im Gegenteil – räumliche Nähe eher zu Konflikten führen. Das heißt: Räumliche Nähe erleichtert und intensiviert Kontakte – aber nur dann, wenn die sozialen und kulturellen Voraussetzungen dafür bereits gegeben sind, also wenn soziale Nähe schon existiert. Räumliche Nähe erzeugt soziale Nähe nicht. … In einer methodisch avancierten Untersuchung zum Einfluss der Nachbarschaft auf die Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen hat Oberwittler (2004) festgestellt, dass ein allgemeiner Kontext- oder Nachbarschaftseffekt bei dieser Frage zwar nicht besteht, dass er aber bei einer ganz bestimmten Bewohnergruppe festgestellt werden kann: bei jugendlichen Männern. Wenn Jugendliche männlich sind, wenn sich ihr Freundeskreis auf das eigene Stadtviertel beschränkt, wenn sie die Hauptschule besuchen und wenn sie in den letzten Jahren nicht über die Stadtviertelgrenzen hinaus umgezogen sind, dann zeigt sich, dass Nachbarschaft das Handeln dieser Jugendlichen bis zu einem gewissen Grade beeinflusst. Ein solcher Einfluss ist aber bei anderen Bewohnern nicht festzustellen … Drever (2004) ging der Frage nach, in welchem Ausmaß ethnische Nachbarschaften in Deutschland ökonomische, soziale oder kulturell isolierte Zonen darstellen. In der Analyse von Daten des sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigt sich, dass sich die Bewohner von ethnisch homogenen Nachbarschaften nicht stärker als andere darum bemühen, ihre Herkunftskultur unberührt zu bewahren. Die These, dass in ethnischen Nachbarschaften die Bewohner stärker an ihrer Tradition hängen und dass sie stärker als andere religiösen Einflüssen unterliegen – was wiederum die Integration hemme –, erweist sich somit als nicht haltbar. … SEGREGATION, MISCHUNG, INTEGRATION Die sozialwissenschaftliche Forschung macht deutlich, – dass die ethnische Segregation unter heutigen Bedingungen die Kontakte zu Einheimischen nicht verhindert – dass ethnische Kolonien abweichende Werte nur unter ganz bestimmten Bedingungen an bestimmte Gruppen vermitteln – dass die Bewohner von ethnischen Kolonien nicht stärker ihrer Herkunftskultur verhaftet bleiben als Bewohner anderer Quartiere – dass Migranten die ethnischen Kolonien nicht freiwillig und dauerhaft bevorzugen, sondern im Zuge ihrer Integration auch wegziehen – dass allerdings der Erwerb der Landessprache für Bewohner ethnischer Kolonien schwieriger ist als für jene, die überwiegend mit Einheimischen zusammenwohnen Genauso wie in der deutschen Bevölkerung sind auch in der Migrantenbevölkerung die untersten Schichten am stärksten segregiert … Daraus ergibt sich ein Zusammenhang, der es sehr schwierig macht, zwischen ethnischen und sozialen Effekten einer räumlichen Konzentration zu unterscheiden: Es ist vorwiegend die Unterschicht der Migrantenbevölkerung, die segregiert und sichtbar in den „Ausländervierteln“ wohnt. Nur die Unterschicht ist stark segregiert, und nur bei dieser Bevölkerung sind die sozialen Beziehungen stark lokal zentriert – und nur hier sind die Einflüsse der lokalen Umgebung tatsächlich nachweisbar. … Die Effekte und Einflüsse, die von der sozialen Lage der Bewohner ausgehen, werden leicht verwechselt mit den Kontexteffekten, die sich aus der Segregation ergeben. Bei der Behauptung, Integrationshemmnisse gingen überwiegend von den ethnisch geprägten Nachbarschaften aus, handelt es sich also klar und deutlich um eine Ethnisierung sozialer Probleme. Die Fortschritte bei der Integration sind abhängig von Bildung, Einkommen und Beruf, nicht vom Wohnort. … DIE SCHULE ALS ORT DER INTEGRATION? Es gibt in den Quartieren aber einen Ort, wo sich die unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen der Kommunikation und Begegnung nicht ausweichen können. Das ist die Schule. Sie ist der einzige Ort, wo sich, so lange Schuleinzugsbereiche für die Grundschule noch amtlich festgelegt sind, Zwangskontakte ergeben. … Die ethnische Homogenität der Schülerzusammensetzung ist erheblich stärker ausgebildet als die der Bewohner insgesamt. Wenn in einem Quartier die Quote der Bewohner mit Migrationshintergrund bei 40 oder 50 % liegt, dann liegt sie in der Schulpopulation bei 70 oder 80 %, in manchen Fällen bereits bei 100 %. Das liegt nicht nur daran, dass die Migranten in der Regel noch jünger sind und mehr Kinder haben, sondern auch daran, dass das gemeinsame Lernen in der Schule von den einheimischen Mittelschichteltern, die um die Bildungschancen ihrer Kinder für die Zukunft fürchten, als Benachteiligung angesehen wird. … Als eine mögliche Rezeptur wird darüber diskutiert, die Schulen in den Vierteln mit einem hohen Migrantenanteil so stark zu verbessern, dass auch hier Lernprozesse wie bei der einheimischen Mittelschicht möglich werden. … Ganztagsschulen mit besonders guten pädagogischen Konzepten müssten eingerichtet werden – die ‚kompensatorische Schule‘ wäre viel teurer als die Normalschule im Mittelschichtwohngebiet. Davon, das zu realisieren, sind wir weit entfernt. Die Durchsetzung eines solchen Umverteilungsmodells wäre eine Sensation … DIE REDE VON PARALLELWELTEN DIENT DER DISKRIMINIERUNG Die beschworenen Parallelwelten existieren vor allem in der Phantasie von Journalisten und Politikern. … für die Behauptung, die Integrationsdefizite von Migranten seien vor allem auf das Wohnen in ethnischen Kolonien zurückzuführen, gibt es keine Anhaltspunkte. Die Rede von Parallelwelten ist politisch folgenlos, sie dient nur der Diskriminierung. Denn die wirklich entscheidenden Bedingungen der Integration, die in den Bereichen allgemeiner Bildung und beruflicher Qualifikation liegen und in denen Veränderungen so schwer zu erreichen sind, müssen dann nicht in erster Linie und nicht mit höchster Anstrengung renoviert werden. Da ist doch einfacher, den Migranten Vorwürfe zu machen und ihnen Integrationsverweigerung zu unterstellen. … “ Den Aufsatz in voller Länge entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link.
http://www.kommunale-info.de/index.html
Quelle: Kommunalpolitische Infothek – Heinrich-Böll-Stiftung