Auszüge aus dem Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2014 des Paritätischen Gesamtverbandes:
“ (…) Die wichtigsten Befunde
## Der Anstieg der Armut ist fast flächendeckend. In 13 der 16 Bundesländer hat die Armut zugenommen. Lediglich Sachsen-Anhalt verzeichnet einen ganz leichten und Brandenburg einen deutlicheren Rückgang. In Sachsen ist die Armutsquote gleich geblieben.
## Die Länder und Regionen, die bereits in den drei vergangenen Berichten die bedenklichsten Trends zeigten – das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – setzen sich ein weiteres Mal negativ ab, indem sie erneut überproportionale Zuwächse aufweisen.
## Die regionale Zerrissenheit in Deutschland hat sich im Vergleich der letzten Jahre verschärft. (…)
## Als neue Problemregion könnte sich neben dem Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen auch der Großraum Köln/Düsseldorf entpuppen, in dem mehr als fünf Millionen Menschen leben, und in dem die Armut seit 2006 um 31 Prozent auf mittlerweile deutlich überdurchschnittliche 16,8 Prozent zugenommen hat.
## Erwerbslose und Alleinerziehende sind die hervorstechenden Risikogruppen, (…). Über 40 Prozent der Alleinerziehenden und fast 60 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland sind arm. Und zwar mit einer seit 2006 ansteigenden Tendenz.
## Die Kinderarmut bleibt in Deutschland weiterhin auf sehr hohem Niveau. Die Armutsquote der Minderjährigen ist von 2012 auf 2013 gleich um 0,7 Prozentpunkte auf 19,2 Prozent gestiegen und bekleidet damit den höchsten Wert seit 2006. Die Hartz-IV-Quote der bis 15-Jährigen ist nach einem stetigem Rückgang seit 2007 in 2014 ebenfalls erstmalig wieder angestiegen und liegt mit 15,5
Prozent nun nach wie vor über dem Wert von 2005, dem Jahr, in dem Hartz IV eingeführt wurde. (…)
Armut in Deutschland
(…) Die im Wahljahr 2013 seitens der Bundesregierung ausgegebene Losung, die Einkommensschere in Deutschland schließe sich wieder, wird von der statistischen Wirklichkeit klar widerlegt: So stark wie in den letzten Jahren öffnete sich die Schere erst einmal zuvor, nämlich von 2010 auf 2011, das heißt: Nicht nur in der Höhe ist ein Rekord erreicht worden, auch die Dynamik der Entwicklung hat wieder angezogen.
Ebenfalls widerlegt ist die in 2013 regierungsseitig verbreitete These, wonach die Armut in den letzten Jahren im Großen und Ganzen relativ konstant geblieben sei. Ganz im Gegenteil: Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt nunmehr einen ganz klaren Aufwärtstrend seit 2006. (…)
Was den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum (als Grundlage des volkswirtschaftlichen Reichtums) und Einkommensarmut anbelangt, lässt sich keine sinnvolle Korrelation mehr erkennen. So ist der Anstieg der Armutsquote um 0,2 Prozentpunkte im Krisenjahr 2009, als das reale Bruttoinlandprodukt um 4 Prozent (nominal 5,6 %) einbrach, erwartbar und plausibel. Gleiches gilt für die Zunahme der Armut bei einem BIP-Zuwachs von real nur 0,1 Prozent (nominal 2,2 %) in 2013. In den Jahren 2007, 2010 und 2011 gehen jedoch wirtschaftlich sehr gute Ergebnisse ebenso mit einem deutlichen Anstieg der Armutsquote einher, weshalb wir von einer Entkoppelung von wirtschaftlicher Entwicklung und Armutsentwicklung sprechen müssen. Anders formuliert: Gesamtwirtschaftlicher Erfolg und zunehmender gesamtwirtschaftlicher Reichtum führen nicht mehr dazu, dass die Armut in Deutschland geringer wird. (…) Die Probleme liegen nicht in der Erwirtschaftung des Volkseinkommens, sondern in der Primär- und Sekundärverteilung dieses Einkommens. (…)
Wo das Volkseinkommen nominal wie auch real fast stetig zunimmt, die Arbeitslosenquote sinkt, zugleich jedoch die Einkommensarmut wächst und die Langzeitarbeitslosigkeit auf hohem Niveau verbleibt, haben wir es weniger – oder auch gar nicht – mit wirtschaftlichen, sondern vor allem mit politischen Problemen in Form von wirtschafts-, arbeitsmarkt- und verteilungspolitischen Unterlassungen zu tun. (…)
Agenda, um eine weitere soziale und regionale Verelendung zu verhindern
## Öffentlich geförderte Beschäftigung Nach wie vor gibt es über eine Million Langzeitarbeitslose in Deutschland, nach wie vor sind über 6 Millionen Menschen im Bezug von Hartz IV. Dringend notwendig zur Bekämpfung der zunehmenden Armut und Ungleichheit ist daher eine offensive Arbeitsmarktpolitik, die gerade auch Langzeitarbeitslose und schwervermittelbare Menschen in den Fokus nimmt. Es bedarf flexibler Instrumente der Bildung, der Qualifizierung und, wo nötig, der sozialarbeiterischen Flankierung. Und es bedarf schließlich öffentlich geförderter Beschäftigung, die im Einzelfall auch längerfristig angelegt ist, die am Markt agieren darf und die sich in der Entlohnung der Beschäftigten an Tarifen und Mindestlöhnen orientiert. Der sogenannte Passiv-Aktiv-Transfer, d. h. die Möglichkeit der Verwendung von Mitteln zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Finanzierung von Beschäftigungsangeboten, wäre eine wichtige finanzpolitische Voraussetzung dafür, die zu schaffen ebenfalls noch aussteht.
## Regelsätze Eine Armutsquote bei Erwerbslosen von 59 Prozent heißt nichts anderes, als dass Erwerbslose in Deutschland im Regelfall nicht vor Armut geschützt sind. Und auch stark überproportionale Armutsquoten bei Alleinerziehenden und kinderreichen Familien weisen darauf hin, dass das soziale Sicherungssystem bei diesen Personengruppen offensichtlich eklatante Lücken aufweist. Notwendig ist eine deutliche Erhöhung der Regelsätze im SGB II und SGB XII. Die Anpassung dieser Sätze zum 1. Januar 2015 auf 399 Euro ist nicht ausreichend, um Armut wirklich zu vermeiden. Nach Berechnungen des Paritätischen müsste der Regelsatz nach jetziger Systematik mindestens 485 Euro betragen, um Armut zu verhindern und zumindest das soziokulturelle Existenzminimum in Deutschland abzudecken.
## Arbeitslosengeld Immer mehr Personen in Deutschland haben zwar über Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt, müssen aufgrund ihres geringen Verdienstes im Falle der Arbeitslosigkeit aber dennoch mit SGB II-Leistungen aufstocken, was gleich in mehrerer Hinsicht problematisch
ist. Angezeigt ist daher ein Mindestarbeitslosengeld I einzuführen, das in der Höhe dafür sorgt, dass bei Bezug des Arbeitslosengeldes I nach einer
Vollerwerbstätigkeit im Regelfall die Abhängigkeit von aufstockenden Leistungen nach dem SGB II vermieden wird.
## Familienlastenausgleich Der Umstand, Alleinerziehend zu sein oder drei und mehr Kinder zu haben, ist ein besonderes Armutsrisiko in Deutschland. (…) Dies ist jedoch nicht nur darauf zurückzuführen, dass Alleinerziehende besonders häufig von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffen sind. Eine ebenso große Rolle spielt, dass der derzeitige Kinderlastenausgleich nicht dafür sorgt, dass Familien mit unterdurchschnittlichem Erwerbseinkommen vor Armut geschützt sind. (…) Der Familienlastenausgleich muss daher dringend „vom Kopf auf die Füße“ gestellt werden. Anstatt wie
bisher denjenigen Familien mit den höchsten Einkommen über steuerliche Freibeträge auch noch die stärkste Unterstützung zu gewähren, muss der Kinderlastenausgleich so gestaltet werden, dass er insbesondere einkommensschwachen Familien zugute kommt und sie vor dem Fall in Hartz IV bewahrt. Es kann vor allem nicht länger sein, dass ausgerechnet Hartz-IV-Bezieher faktisch leer ausgehen. Der Kinderzuschlag stellt, wie er derzeit ausgestaltet
ist, keine Lösung dar. Zum einen sorgt er nicht für ein Einkommensniveau, das vor Armut schützt, zum anderen unterliegt er im Wesentlichen den gleichen restriktiven Bedingungen wie auch Leistungen nach dem SGB II. Ziel muss stattdessen ein einkommens- und bedarfsorientiertes Kindergeld sein.
## Regionale Verteilung Die wachsende Einkommensarmut geht einher mit einer wachsenden Armut der öffentlichen Haushalte in den betroffenen Kommunen. Die zunehmende auch regionale Zerrissenheit, (…) fordert daher auch wirksame Maßnahmen des regionalen Ausgleichs. (…) Im Zuge des aktuell verhandelten Länder-Finanzausgleichs und der Verteilung der Umsatzsteuer muss daher die solidarische Unterstützung solcher Regionen sichergestellt werden. Der Solidaritätszuschlag ist in diesem Sinne weiter zu entwickeln, um die Finanzierung notwendiger Investitionen in strukturschwachen
Regionen in allen Teilen Deutschlands zu ermöglichen. (…) Eine Politik der Armutsbekämpfung wird auf Steuererhöhungen nicht verzichten können. Es geht um die solidarische Finanzierung von Sozialleistungen und Leistungen der Daseinsvorsorge durch die stärkere Heranziehung großer Vermögen und hoher
Einkommen. (…)“
www.paritaet.org
Quelle: Paritätischer Gesamtverband
Dokumente: armutsbericht_paritaetischer.pdf