ZUR NEUPOSITIONIERUNG VON JUGENDPOLITIK: NOTWENDIGKEITEN UND STOLPERSTEINE In den letzten Jahren wird in der einschlägigen fachpolitischen und wissenschaftlichen Diskussion zunehmend darauf hingewiesen, dass es dringend verstärkter Anstrengungen bedürfe, Jugendpolitik neu zu profilieren. Während ökonomische, politische und soziale Umbrüche längst die Lebenslage Jugend erreicht und neue politische Herausforderungen erzeugt hätten, führe Jugendpolitik nach wie vor eher ein Schattendasein. Soweit überhaupt jugendpolitische Themen in Öffentlichkeit und Politik diskutiert würden, handele es sich nahezu ausschließlich um spezifische Problemlagen einzelner Gruppen von Heranwachsenden. Dagegen mangele es an einem umfassenden Konzept von „Jugendpolitik aus einem Guss“, die sich auf eine Vorstellung von der Rolle und Bedeutung von Jugend für die Gesellschaft gründe und sich auf zentrale Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben sowie Problemlagen der Bevölkerungsgruppe der jungen Menschen im Ganzen beziehe. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Forderung nach einer kohärenten und ressortübergreifenden Jugendpolitik erhoben. Diese Forderung richtet sich auf grundsätzliche konzeptionelle Defizite und institutionell-strategische Grenzen einer jugendpolitischen Praxis, die den aktuellen vielschichtigen Herausforderungen grundsätzlich nicht mehr entspricht. An diesem Punkt setzt das Bundesjugendkuratorium (BJK) an. Das BJK will mit seiner Stellungnahme zur Neupositionierung der Jugendpolitik beitragen. Auszüge aus der Stellungnahme des BJK: “ … JUGEND – EINE EIGENSTÄNDIGE LEBENSPHASE MIT JUGENDPOLITISCHEM HANDLUNGSBEDARF Die gegenwärtige relative Bedeutungslosigkeit von Jugendpolitik wird nicht zuletzt mit der Schwierigkeit erklärt, Jugend unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt noch als Gegenstand politischen Handelns begrifflich genau zu fassen. Jugend als klar umrissene Lebensphase, als Übergangsphase vom Status der Kindheit in den des Erwachsenen scheint sich weitgehend verflüchtigt zu haben. Es wird daher zunehmend begründungsbedürftig, Jugendpolitik als eigenes Handlungsfeld sowohl gegenüber einer Politik für Kinder als auch einer Politik für (junge) Erwachsene abzugrenzen. Hinsichtlich des Übergangs von Kindheit zu Jugend ist feststellbar, dass bestimmte, früher als jugendspezifisch beschriebene Verhaltensformen wie Ablösung vom Elternhaus, Identitätsentwicklung, Selbstinitiierung etc. sich biographisch in das Alter zwischen zehn und vierzehn Jahren vorzuverlagern scheinen. Auch machen junge Menschen relativ früh eigene sexuelle Erfahrungen im Konsum- und Freizeitsektor werden sie immer früher als autonome Akteure behandelt. Andererseits verzögern sich die Übergänge in das Erwachsenenleben mit der Folge, dass sich Jugend bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein ausdehnt. Diese Verlängerung der Jugendphase ist nicht nur ein Resultat der Bildungsexpansion und der immer später erfolgenden Übergänge in Arbeitsmarkt und Beschäftigung, sondern lässt sich auch bei den Übergängen in die Mutter- oder Vaterrolle oder beim Auszug aus dem Elternhaus beobachten. Damit zerfällt die einheitliche kollektive Statuspassage Jugend – in unterschiedliche, einer je eigenen zeitlichen Logik folgende, Teilübergänge – wie es die These von der „Entstrukturierung“ behauptet. Zudem streuen diese Teilübergänge biographisch immer weiter. Hinter diesen Entwicklungen stehen sowohl Prozesse der Individualisierung von Lebenslagen und der Pluralisierung von Lebensstilen als auch neue Formen der Ungleichheit und Ausgrenzung in Folge von institutionellen Veränderungen (Massenarbeitslosigkeit, Arbeitsmarktkrise) im Übergangssystem von Bildung in Ausbildung und Beschäftigung. Damit werden zumindest im späteren Jugendalter die Konturen der Jugendphase, die jugendspezifischen Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben sowie die Rolle und Bedeutung von Jugend für die Gesellschaft unscharf. … Von einer eigenständigen Lebensphase Jugend zu sprechen, ist nur dann sinnvoll, wenn mit dem Sozialstatus Jugend bestimmte, gegenüber anderen Lebensphasen unterscheidbare Rechte und Pflichten sowie Handlungsanforderungen und -chancen verbunden sind. Es ist also eine bestimmte gesellschaftliche Praxis, die das Strukturmuster Jugend erzeugt und nicht etwa die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensaltersgruppe. Danach können wir Jugend nach wie vor als eine biographische Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein betrachten, die mit bestimmten „Entwicklungsaufgaben“ befasst und mit bestimmten, gegenüber der Kindheit deutlich erhöhten Freiräumen und Handlungschancen ausgestattet ist, zugleich aber auch mit Restriktionen (u. a. ökonomische Abhängigkeit) insbesondere im Vergleich zu Erwachsenen verbunden ist. Dieses historisch entstandene, gesellschaftliche Konstrukt von Jugend bedeutet vor allem, sich für später zu qualifizieren, sich auf die spätere Handlungsfähigkeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen vorzubereiten. Der gesellschaftliche Sinn von Jugend liegt also einerseits darin, eine stabile, selbststeuerungsfähige Persönlichkeit sowie die hiermit zusammenhängenden sozialen Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln. Andererseits ist er darin zu sehen, sich für die Anforderungen u. a. in Arbeit und Beruf vorzubereiten er schließt auch die Entwicklung von Humanvermögen zur Vorbereitung auf die kompetente Erfüllung der Staatsbürgerrolle, der Mutter- bzw. Vaterrolle, der Konsumentenrolle etc. ein. Vor diesem Hintergrund lässt sich Jugend nach wie vor sowohl gegenüber Kindsein als auch gegenüber Erwachsensein abgrenzen. Wenn also nach wie vor gilt, dass Jugend andere Entwicklungsaufgaben, Rechte, Handlungschancen und -restriktionen vorfindet als Kindheit und Erwachsensein, dann ist es aus der Sicht des BJK erforderlich, Jugendpolitik sowohl von einer Politik für Kinder als auch von einer Politik für Erwachsene abzugrenzen und die Ziele und Instrumente einer solchen Jugendpolitik mit Bezug auf die tatsächliche Verfasstheit der Lebenslage Jugend unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen zu formulieren. Eine derart verstandene Jugendpolitik beschränkt sich weder auf einzelne problembelastete Teilgruppen von jungen Menschen, noch akzeptiert sie die historisch gewachsene institutionelle Verengung von operativer Politik für junge Menschen auf Jugendhilfepolitik. Vielmehr bedarf es einer jugendpolitischen Konzeption, die eine Thematisierung der Gesamtsituation von Jugendlichen, ihrer Sichtweisen, Erfahrungen und Lebenslagen unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen ins Auge fasst. Eine solche umfassende Sicht auf die Situation und gesellschaftliche Position von Jugendlichen muss die erwähnte Vorverlagerung des Beginns der Jugendphase einerseits, wie auch die hinausgeschobenen Übergänge ins Erwachsenenalter andererseits berücksichtigen. … Die Zielgruppe einer Jugendpolitik umfasst also die Altersspanne von ca. 12 bis ca. 27 Jahren. … TYPEN VON JUGENDPOLITIK … Eine Neupositionierung von Jugendpolitik als aufeinander abgestimmtes und ressortübergreifendes politisches Handlungsfeld hat nicht nur auf unterschiedliche Lebenslagen Jugendlicher, auf ausdifferenzierte Bewältigungsstrategien und vielfältige, sich verändernde Lebenskonzepte zu reagieren. Sie sieht sich auch mit der Anforderung konfrontiert, bislang vorherrschende, praktizierte Formen von Jugendpolitik aufzunehmen und in einem neuen Konzept zu bündeln. … Das BJK schlägt ein aufeinander abgestimmtes Konzept von Jugendpolitik vor, dass vier Dimensionen bzw. Typen von Jugendpolitik in einem einheitlichen Gesamtentwurf integriert: • Jugendpolitik als Schutz- und Unterstützungspolitik … • Jugendpolitik als Befähigungspolitik … • Jugendpolitik als Teilhabepolitik … • Jugendpolitik als Generationenpolitik … JUGENDPOLITIK UND GOVERNANCE Mit Jugendpolitik als Schutz- und Unterstützungs-, Befähigungs-, Teilhabe- und Generationenpolitik sind die vier Kernelemente einer konzeptionell kohärenten, mehrdimensionalen und expliziten Jugendpolitik beschrieben. Es liegt auf der Hand, dass einzelne konkrete Maßnahmen bzw. an spezifische Gruppen von Jugendlichen adressierte Programme nicht immer alle vier Elemente bzw. Kriterien in gleicher Weise erfüllen, sondern als Bestandteile von Befähigungspolitik, Generationenpolitik etc. verstanden werden können. Allerdings müssen sie in ihrem Zuschnitt stets so ausgelegt sein, dass ihr Stellenwert im Gesamtkonzept einer konzeptionell kohärenten jugendpoli¬tischen Strategie erkennbar bleibt. So ist z. B. ein konkretes Programm bzw. Bildungsangebot nur dann in dem hier gemeinten Sinn Bestandteil einer übergreifenden und abgestimmten Politikstrategie, wenn es sowohl den Gütekriterien einer jugendbezogenen Befähigungspolitik entspricht, als auch nicht gegen zentrale Gütekriterien der anderen Teilelemente verstößt. Um einschätzen zu können, ob ein konkretes Programm den hier vorgeschlagenen Kriterien einer expliziten Jugendpolitik entspricht, ist es zweckmäßig, Prüfkriterien einer kohärenten Jugendpolitik zu entwickeln. Diese lassen sich aus den genannten vier Teilbereichen von Jugendpolitik ableiten und zu einem Katalog verdichten. Folgende Kriterien, die sich jeweils auf eine konkrete Maßnahme bzw. ein konkretes Programm beziehen, seien beispielhaft genannt: • Inwiefern leistet die Maßnahme einen Beitrag zur Verbesserung des Schutzes von Jugendlichen gegenüber Risiken und Gefährdungen in unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsbereichen? • Wie wird sichergestellt, dass die Maßnahmen und Regelungen zum Schutz vor Gefährdungen und Risiken nicht die Teilhabe- und Partizipationschancen junger Menschen unzumutbar beeinträchtigen? • In welcher Weise wird durch die befähigende Maßnahme gewährleistet, dass eine umfassende emotionale, soziale und kognitive Förderung der Fähigkeiten und Fertigkeiten junger Menschen und damit eine umfassende Befähigung zur Teilhabe und Gestaltung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft ermöglicht wird? • Wie wird garantiert, dass auch junge Menschen mit schlechteren Startchancen von der Maßnahme bzw. dem Programm profitieren und herkunftsbedingte Ungleichheiten und Benachteiligungen abgebaut werden? • Inwiefern ist das Programm geeignet, die besonderen Erfahrungen, Stärken und Kompetenzen der jeweiligen Teilgruppen junger Menschen aufzugreifen? • In welcher Weise ist die Maßnahme zweckmäßig, um die strukturellen Voraussetzungen für die Teilhabe junger Menschen an unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zu verbessern und altersspezifische Diskriminierungen abzubauen? • Inwieweit werden die Teilhabewünsche und -strategien junger Menschen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft unterstützt und ihre Teilhabechancen gestärkt? • Inwiefern ist die Maßnahme geeignet, die Anspruchsrechte junger Menschen auf sozialstaatliche Leistungen zu verbessern und altersspezifische Diskriminierungen und Hemmnisse abzubauen? • In welcher Weise trägt das Programm dazu bei, mögliche altersspezifische Benachteiligungen junger Menschen im Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen abzubauen und den Zugang junger Menschen zu den gesellschaftlichen Ressourcen zu verbessern? • In welchem Umfang kann es durch diese Maßnahme gelingen, ungerechtfertigte Benachteiligungen junger Menschen jedweder Art abzubauen und die Bürgerrechte junger Menschen zu stärken? • In welcher Weise ist die Maßnahme geeignet, den Prozess der Verselbstständigung Jugendlicher zu unterstützen und einen Beitrag dazu zu leisten, die Grundlagen für eine eigenständige und selbstverantwortliche Lebensführung zu schaffen? … Konkrete Programme und Maßnahmen qualifizieren sich nicht schon dadurch als Bestandteile von Jugendpolitik qualifizieren, dass sie sich auf die Zielgruppe junger Menschen beziehen. Sie werden erst dann zu zentralen Bestandteilen einer konzeptionell kohärenten Jugendpolitik, wenn sie die genannten Gütekriterien tatsächlich erfüllen. Allerdings ist dem BJK sehr bewusst, dass auch in Zukunft jugendpolitische Strategien, Maßnahmen und Programme in einem politischen Institutionensystem umgesetzt werden müssen, das durch unterschiedliche vertikale Ebenen im föderalen System, ressortspezifische Zuständigkeitsabgrenzungen, institutionelle Partikularismen und eine Pluralität von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren geprägt ist. Es stellt sich daher die Frage, wie der Ansatz einer konzeptionell kohärenten Jugendpolitik unter den realen Bedingungen des politisch-administrativen Systems mit seinen Zuständigkeitsabgrenzungen und Fragmentierungen wirksam werden kann. Darüber hinaus ist in die Überlegungen einzubeziehen, dass gerade im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in Orientierung am Subsidiaritätsprinzip öffentliche und freie Träger, zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen in der Wahrnehmung jugendpolitischer Aufgaben partnerschaftlich zusammenwirken. Grundsätzlich geht das BJK davon aus, dass die Verwirklichung eines solchen Politikmodells nicht ohne die Entwicklung eines neuen Verständnisses jugendpolitischen Handelns bei allen beteiligten Akteuren nach dem Muster einer kooperativen Politik realisiert werden kann. … Der Strukturwandel der Jugendphase hat zu neuen Herausforderungen und Risiken geführt, die politisch gerahmt werden müssen. Dieser erhöhte politische Handlungsbedarf wird von den beteiligten Akteuren in der Regel nicht bestritten. Was allerdings meist fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, dass es sich bei den einzelnen Maßnahmen und Programmen – etwa im Bereich der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – nicht nur um spezialisierte Teilpolitiken, sondern immer auch um Bestandteile von Jugendpolitik handelt. In einem ersten Schritt geht es daher darum, diese konzeptionelle Diskrepanz aufzugreifen und bei allen beteiligten politischen Akteuren in den jeweiligen Fachbereichen ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass es sich bei diesen Maßnahmen und Programmen immer auch um eine kooperative Gestaltung der öffentlichen Verantwortung für die Lebenslage Jugend im Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure und Ressorts handelt. In einem zweiten Schritt ist dann deutlich zu machen, dass politische Maßnahmen und Initiativen zur Gestaltung der Lebenslage Jugend in wachsendem Maße ressortübergreifendes und vernetztes Handeln erfordern. Eine weitere Herausforderung wird sein, die Jugendlichen und ihre Organisationen in eine Gesamtstrategie konzeptionell kohärenter Jugendpolitik einzubeziehen, so dass aus einer Politik für Jugendliche oder stellvertretend in ihrem Interesse auch eine Politik mit und von Jugendlichen wird. … Jugendpolitik hat also in der Zusammenarbeit mit Familien-, Bildungs-, Arbeits-, Integrations- oder auch Gesundheitspolitik etc. stets die besonderen Interessen und Belange junger Menschen einzubringen. Eine solche Jugendpolitik muss sowohl in ihrem eigenen Ressort gestärkt, als auch in ihrer Kommunikationsfähigkeit gegenüber anderen Ressorts qualifiziert werden, um als kompetenter Partner in kooperativen Aktivitäten wahrgenommen zu werden (operative und kommunikative Ebene). Zugleich benötigt eine ressortübergreifende Jugendpolitik eine breite Öffentlichkeit, die für jugendspezifische Belange sensibilisiert wird (öffentliche Ebene). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich auf allen drei Ebenen aus Sicht des BJK die folgenden Beispiele als Handlungsansätze und Implementierung neuer Instrumente einer ressortübergreifenden und kohärenten Jugendpolitik nennen: • Erweiterung der ressortübergreifenden Zuständigkeit beim BMFSFJ: Stärkung des Fachministeriums und Ausbau der interministeriellen Zusammenarbeit … • Entwicklung strategisch angelegter akteursübergreifender Projekte … • Einführung eines Jugendmonitorings …“ Die umfangreiche Stellungnahme des BJK im Volltext entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://www.bundesjugendkuratorium.de/positionen.html
Quelle: Bundesjugendkuratorium
Dokumente: bjk_2009_1_stellungnahme_jugendpolitik.pdf