WAS LÖST DIE TAT AUS? Das Phänomen des Amoklaufs ist nicht neu. Allerdings hat es bei Jugendliche seit den siebzigern Jahren zugenommen, während schwere Gewalttaten von Jugendlichen rückläufig sind. Die Mehrheit von Amokläufen ereignete sich in den USA, doch die Ereignisse am Erfuter Gymnasium 2002, an den Realschulen in Emsdetten 2006 und zuletzt in Winnenden 2009 zeigen, dass das in Deutschland möglich ist. Diese Tagen können grundsätzlich an allen Orten und in unterschiedlichsten Zusammenhängen stattfinden. Die Forschung geht davon aus, dass die spezielle Art der Amokläufe an Schulen in einen Bezug zu erlittener Kränkung oder Verlust stehen. Allerdings weist die empirische Forschungsanalyse noch Defizite auf so können beispielsweise noch keine Aussagen getroffen werden, was letztendlich die Tat auslöst. Prof. Dr. Blanke versucht in seinem aktuell erschienen Aufsatz Antworten auf offene Fragen zur Amoktat von Winnenden zu geben. Das Verständnis von Schule als Ort der Gemeinschaft und Hort der Ruhe und Geborgenheit spielt dabei eine zentrale Rolle. Auszüge aus einem Aufsatz „Winnenden: Offene Fragen“ von Prof. Dr. Bernhard Blanke (Herausgeber der Zeitschrift dms der moderne Staat): “ Seit dem Amoklauf hängt vor allem ein Wort in der Luft: Warum? Es gibt einfach viel zu viele offene Fragen, wie zum Beispiel: Welche Gerüchte nun wahr sind und welche Gerüchte bleiben? Jedoch wird die Frage nach dem Warum nie sicher beantwortet werden können. Sandra Scepanek (18) Gottfried-Daimler-Gymnasium, Bad Cannstatt Stuttgarter Nachrichten, 19.03.09 … Wenig überraschend an der öffentlichen Diskussion ist, dass sie einerseits weitgehend mit vorgefertigten Verallgemeinerungen arbeitet, wobei Experten bereits Lösungen präsentieren, bevor sie das Problem genau definiert haben. Andererseits berichten die Medien über immer mehr einzelne Details, die noch zusammenhanglos nebeneinander stehen und dem Betrachter nahelegen, nach einer eigenen Erklärung zu suchen. Diese Kluft lässt weiten Raum für Spekulationen, … Die Politik zieht sich allerdings nach kurzer Zeit wieder aus der Diskussion zurück, wenn die „Staatstrauer“ beendet ist, und überlässt die „Trauerarbeit“ der Gesellschaft. Öffentliche Aufmerksamkeit erheischen dann andere Skandale oder Katastrophen. Ein ganz wesentlicher Aspekt der Debatte ist die angestrebte psychische Entlastung angesichts des Horrors, der einen bei diesem Ereignis überfällt. Entlastung bietet am einfachsten die Suche nach Schuldigen, weil sie … Problemlösungen so schrecklich vereinfacht: entweder lagen die Risiken bei den „Ballerspielen“ oder den Waffen in privater Hand oder der familiären Situation oder dem Psychiater – schließlich dem Versagen oder der Krankheit des Täters. … Ein Faktor wird aber in der öffentlichen Diskussion weitestgehend ausgeblendet: die schulische Situation. Dabei ist aus Forschungsarbeiten über jugendliche Amokläufer bekannt, dass sie ihre Schule als Tatort auswählen, weil sie dort tiefe Kränkungen erfahren haben (Frank J. Robertz). Ins Auge fallen dagegen Feststellungen von Politikern, dass die Schule ein Hort der Ruhe und Geborgenheit sei, der durch den Täter gewissermaßen entweiht wurde. Diese Worte tabuisieren den Tatort, und entsprechend durften die Schüler zeitweilig nicht mehr in ihre Schule zurückkehren – bis sie gereinigt ist? Die Schule soll sogar für immer geschlossen werden. … Die Schule als Institution mit einem Tabu zu belegen hat einen Sinn. Aber es ist ebenso gefährlich, die Analyse der schulischen Situation zu tabuisieren. … Ist es richtig, die Schüler fernzuhalten? Oder wäre es nicht sinnvoll, … die Schüler zu ermuntern, sich „ihren“ Ort zurück zu erobern, dort Schularbeit fortzusetzen und zur – so pietätlos das klingen mag – Routine überzugehen, und nicht selbst im Ersatzunterricht aus der Bahn geworfen zu werden? Kann dieses Fernhalten nicht die Traumatisierung der Überlebenden verfestigen, zumal der Rest der Gesellschaft Schüler, Lehrer und Eltern letztlich doch alleine lässt, und alle zur Routine übergehen (müssen). Denn was den Menschen seelisch aufrecht erhält, ist ein hohes Maß an Routine, und nur der Bürokrat versteht darunter etwas Seelenloses. Sollen wir uns jeden Tag die Sinnfrage neu stellen oder unsere Tagesplanung ständig ändern und immer neu entscheiden? Vielleicht hat gerade das den Amokläufer zu seiner Tat gebracht. Vielleicht hat er in seiner Schule eben für sich nicht das Maß an Routine gefunden, wohl auch nicht im väterlichen Betrieb, das ihn stabilisiert hätte – jedenfalls so, dass ihn die Computerspiele nicht die Grenze zwischen virtueller Phantasie und harter Wirklichkeit hätten überschreiten lassen – wenn sie es denn waren. Es erscheint weiterführender, die Schule als Ort einer humanen Alltagsroutine zu begreifen, sicherlich auch als Arbeitsstätte, in der der Mensch während der Adoleszenz produktiv tätig sein kann, vor allem in der Gemeinschaft mit anderen. … Worum es also ginge, wäre über das Schulklima zu diskutieren, allgemein und im besonderen Fall. Allerdings dürfte dann auch die Diskussion über die Lehrerschaft nicht tabuisiert werden, und auch nicht über die Elternschaft. Die schulische Situation im Sinne der pädagogischen Situation ist eine Triade, ein Dreiecksverhältnis. … an dem alle drei Parteien aktiv beteiligt sind. Üblicherweise findet dies in den unteren Klassenverbänden statt … Dies lässt mit jeder höheren Stufe nach, weil dann die Annahme einer Normalentwicklung zum Erwachsensein der Schüler unterstellt wird, die vor allem die Eltern schrittweise aus der Schule drängt und die pädagogische Situation in eine Dyade zwischen Schüler und Lehrer überführt. Dies ist eine hochproblematische Situation: … Die Dyade nimmt dann häufig den Charakter einer resignativen Machtbeziehung an, in der es um Rechthaben oder eben um Disziplin geht. Das Vertrauen verflüchtigt sich. Spiegelbildlich ist häufig auch die familiäre Situation davon geprägt, weil die Eltern Risiken zu erkennen glauben, welche die Selbständigkeit mit sich bringen kann, und ängstlich darauf reagieren. Und diese Risiken sind ja nicht gering, sie steigen mit der „Modernisierung“ der Gesellschaft exponentiell an. Die von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in den letzten Jahrzehnten propagierte „Wissensgesellschaft“ trifft die Schule direkt, sie steigert die Ansprüche an die dortige Erziehung und Ausbildung in immer kürzeren Intervallen. Zu Grunde liegt eine rasante Technikentwicklung, die im Allgemeinen oft als unbeherrschbar wahrgenommen wird. … Die Individualisierung der Leistung zum Schulabschluss hin gewinnt einen immer größeren Stellenwert. Das Schulklima verändert sich von einem (möglichen) produktiven Gemeinschaftsgeist zu einem Wettbewerbsumfeld. … Wehe denen, die es nicht schaffen. Meistens bescheiden sich Schüler ohnehin mit einem gewissen Zynismus in der Erkenntnis, dass sie jetzt fürs Leben in der Konkurrenzgesellschaft lernen, was ihnen dann auch vom Verhalten vieler Lehrern bestätigt wird und lernen insoweit mit Enttäuschung und Wut umzugehen. Bei anderen werden daraus Depressionen oder abweichendes Verhalten, auch Gewaltneigung. Im besten Fall werden diese durch die Familien oder einen zuständigen Experten aufgefangen. So weit scheint sich die schulische Situation wie im richtigen Leben zu sortieren. Aber was könnte daran nicht normal sein? Und welche Situationen im Alltag könnten zu Ausbrüchen von Anomalität führen? Gibt eine vorurteilslose Analyse der Tat in Winnenden in diesem Fall einen weiteren Hinweis? … Der Amokläufer hätte an jedem beliebigen Ort, an dem sich eine größere Anzahl von Menschen dicht gedrängt und ohne Fluchtmöglichkeit aufhält, zuschlagen können. Er wählte aber „seine“ Schule und die Opfer aus: er erschoss dort hauptsächlich Frauen (zufällig anwesende?) Und schockierend ist, dass er sie quasi „exekutiert“ hat, wie das besonders bei Mafia-Killern üblich ist. Diese Besonderheiten werfen Fragen auf, die nicht der gedanklichen Zensur zum Opfer fallen dürfen, will die Tat begriffen werden (Dieter Lenzen). … In dem hier konturierten Kontext sollte die Tat als „Beziehungstat“ in der schulischen Situation interpretiert werden. Was verband Tim K. „hier“ mit Schülerinnen und Lehrerinnen? Könnte es sein, dass er spezifische Kränkungen erfahren hat, die er nicht überwinden konnte? Haben Lehrerinnen ihn übersehen und sich besonders mit der Förderung von Schülerinnen beschäftigt, waren sie dabei unfair? Haben Schülerinnen diese Situation in einer diskriminierenden Weise und auch zu ihrem eigenen Vorteil bei schulischen Leistungen ausgenutzt? Haben die anderen Schüler und Lehrer das übersehen, als unabänderlich hingenommen oder eigene Cliquen gebildet? War er dann der einzige, der dagegen innerlich schon immer revoltiert hat, dessen „Ehre“ dauerhaft verletzt wurde und der in der familiären Situation keinen Rückhalt fand, weil er einem erfolgreichen und übermächtigen Vater gegenüber stand, dem er sich nur im Waffengebrauch gleich stellen konnte? Und dem die Psychiater auch nicht helfen konnten, weil es nicht zu einer dauerhaften therapeutischen Zusammenarbeit kam (Horst-Eberhard Richter)? Wollte man diese Fragen mit schon gestellten zusammen denken und eine allgemeine Schlussfolgerung daraus ziehen, müsste die Problemformulierung lauten: Bei Ehrverletzungen dreht sich alles um zugrundeliegende Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese sind vielschichtig: Verteilungsgerechtigkeit Verfahrensgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, oder Gleichheit. Wenn immer wieder die Schulgemeinschaft propagiert wird, werden diese Dimensionen in einem unbestimmten „Leitbild“ verwischt. Läge es nicht näher, von einer Balance unterschiedlicher Erwartungen auszugehen (Giovanni Sartori) und diese Balance mit dem durchaus pragmatischen Begriff der Fairness zu bezeichnen? Dieses Konzept wäre wohl der neuen Wettbewerbssituation in der „modernen“ Schule angemessen. … Wenn schon der Leistungswettbewerb auf dem Weg zum Schulabschluss dominant wird, dann müssten die Schulen sich damit intensiver auseinandersetzen und in den höheren Klassen den FAIREN WETTBEWERB zum Leitbild erheben, wenn sie schon die Schüler auf das Berufsleben vorbereiten wollen. Sie müssten alle Schüler tatsächlich gleich behandeln, fair nach Leistung beurteilen und nicht alten Vorstellungen … nachhängen … “ Der Aufsatz von Prof. Dr. Bernhard Blanke entnehmen Sie bitte der Zeitschrift „Gesellschaft, Wirtschaft, Politik“ Heft 2 – 2009 erschienen im Juni 2009. Ergänzend zu diesem Beitrag empfehlen wir den Artikel ‚Winnenden und die Pädagogik für den konkreten Einzelnen – Ein Essay zum Bildungsverständnis von Jugendsozialarbeit‘ in der neuen Ausgabe der DREIZEHN – eine Zeitschrift für die Jugendsozialarbeit. Ab 15. Juni 2009 steht die Zeitschrift online unter www.jugendsozialarbeit.de zum Download zur Verfügung.
Quelle: Deutsches Forum für Kriminalprävention Kriminologischer Infodienst Uni Tübingen Zeitschrift „Gesellschaft, Wirtschaft, Politik“ Heft 2-2009