Von Chancengerechtigkeit noch weit entfernt – der Chancenspiegel 2013

Der „Chancenspiegel 2013 – Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme“ der Bertelsmann Stiftung zeigt: Eine Verbesserung der Chancengerechtigkeit in der Bildung gelingt nur langsam. Auch wenn es einige positive Tendenzen gibt, bleibt die große Herausforderung bestehen. Zwar verlassen weniger junge Menschen die Schule ohne Abschluss, aber nach wie vor steigen deutlich mehr Schüler einer Schulform ab als auf. Der Ausbau von Ganztagsschulen kommt nur schleppend voran und die Bedeutung der Förderschulen lässt trotz verstärkter Bemühungen um Inklusion kaum nach.

Integrationskraft – Durchlässigkeit – Kompetenzförderung – Zertifikatsvergabe

Erstmals im vergangenen Jahr hatte der Chancenspiegel für jedes Bundesland analysiert, wie gerecht und wie leistungsstark das jeweilige Schulsystem ist. Die diesjährige Neuauflage dokumentiert, wie sich seit dem Schuljahr 2009/10 die Chancen von Schülern verändert haben, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen. Das untersucht der Chancenspiegel in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe.

Auszüge aus der Zusammenfassung der zentralen Befunde des Chancenspiegels 2013:

Grundschüler aus niedrigen Sozialschichten liegen bei der Lesekompetenz durchschnittlich um ein Jahr zurück

„(…) Den stärksten Positiv-Trend verzeichnet Deutschland bei den Schulabschlüssen. Der Anteil der Schulabbrecher sank um mehr als ein Zehntel von 6,9 auf 6,2 Prozent. Zugleich stieg der Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife auf ein Rekordhoch – mehr als jeder Zweite (51,1 Prozent) erwirbt inzwischen einen Schulabschluss, der zur Aufnahme eines Studiums berechtigt. Stagnation hingegen herrscht beim Kompetenzerwerb: Das Leseverständnis der Grundschüler bewegt sich auf nahezu demselben Niveau wie vor zehn Jahren, und es ist weiterhin stark abhängig von der sozialen Herkunft; damals wie heute liegen die Kinder aus niedrigen Sozialschichten bei der Lesekompetenz durchschnittlich um ein Jahr zurück. Wenig Veränderung gibt es auch bei der Durchlässigkeit der Schulsysteme. Auf einen Wechsel von einer niedrigeren auf eine höhere Schulart in der Mittelstufe kommen 4,2 Wechsel in umgekehrter Richtung. Zwei Jahre zuvor betrug das Verhältnis zwischen Auf- und Abstieg 1 zu 4,3. Etwas deutlicher verringerte sich die Zahl der Klassenwiederholungen: 2010 blieben in der Sekundarstufe noch 2,9 Prozent der Schüler sitzen, zwei Jahre später waren es 2,7 Prozent. (…)

Auch bei der Inklusion zeigt sich im Chancenspiegel ein gemischtes Bild: Zwar besucht jedes vierte Förderkind mittlerweile eine reguläre Schule, die Bedeutung der Förderschulen verringert sich aber nur langsam: Der Anteil der Schüler, die separat auf gesonderten Schulen unterrichtet werden, sank seit dem Schuljahr 2009/10 nur geringfügig von 5,0 auf 4,8 Prozent. (…)

Die Chancenprofile der Bundesländer zeigen relative Stärken und Entwicklungsbedarfe

(…) Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg zeigen im Bundesvergleich ein uneinheitliches Bild, weisen aber in der Kompetenzförderung Entwicklungsbedarf auf. Die ostdeutschen Bundesländer dagegen sind in ihrem Bemühen, die Kompetenzen zu fördern, vergleichsweise gut platziert. Hier liegt der Entwicklungsbedarf mehr bei der Integrationskraft (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) und bei der Zertifikatsvergabe (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen).

Die Schulsysteme der norddeutschen Flächenländer Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben eine vergleichsweise hohe Integrationskraft, während sie in der Dimension der Durchlässigkeit weniger gut platziert sind. Nordrhein-Westfalen (NRW) und Hessen sind im Bundesländervergleich erfolgreich bei der Vergabe von Zertifikaten. NRW hat jedoch besonderes Entwicklungspotenzial in der Durchlässigkeit und Hessen in der Kompetenzförderung. Rheinland-Pfalz ist in der Integrationskraft besonders gut platziert, während das Saarland dort besonderen Entwicklungsbedarf hat. Stark ist das Saarland dagegen in der Zertifikatsvergabe.

Die süddeutschen Flächenländer Baden-Württemberg und Bayern sind in den Dimensionen des Chancenspiegels, die stärker die Outputleistungen von Schulsystemen in den Blick nehmen, vergleichsweise gut platziert, nämlich in der Kompetenzförderung (Bayern) und in der Zertifikatsvergabe (Baden-Württemberg). Auch in der Kompetenzförderung ist Baden-Württemberg vergleichsweise stark. (…)

Die Chancenprofile der Bundesländer haben sich zwischen den Schuljahren 2009/10 und 2011/12 kaum verändert. (…)

Die Schulsysteme in Deutschland integrieren etwas besser (…)

Bei der Integrationskraft des Schulwesens sind ebenfalls einige positive Tendenzen festzustellen. Beim gemeinsamen Lernen gibt es Fortschritte: Die Inklusionsanteile nehmen im Bundesdurchschnitt um fast fünf Prozentpunkte zu, sodass mittlerweile ein Viertel der Kinder mit besonderem Förderbedarf im Regelschulsystem unterrichtet wird. Auch die Zahl der Schüler, die separat in Förderschulen unterrichtet werden, ist rückläufig, wenn auch nur in sehr geringem Maße: Immer noch bleiben bundesweit durchschnittlich 4,8 Prozent aller Schüler vom Regelschulbesuch ausgeschlossen. (…)

Positiv ist auch die Veränderung im schulischen Ganztag: Immer mehr Schüler haben Zugang zu einer Ganztagsschule. Hier konnte sich der Vergleich nur auf zwei Jahre beziehen, da die Daten des Schuljahres 2011/12 für die Auswertung im Chancenspiegel zu spät vorlagen. Innerhalb dieses Zeitraums ist der Anteil von Ganztagsschülern um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. (…)

Die Schulsysteme in Deutschland werden nur geringfügig durchlässiger (…)

Bei der Durchlässigkeit der Schulsysteme in Deutschland gibt es keine großen Veränderungen. Vergleicht man die aktuelle Verteilung der Fünftklässler auf die Schularten mit der Verteilung im Schuljahr 2009/10, so spiegelt sich hier bereits tendenziell die aktuelle Umstrukturierung des Sekundarbereichs: Neben sinkenden Schülerzahlen der Hauptschule verzeichnen Schularten mit mehreren Bildungsgängen zunehmend mehr Schüler. Dennoch ist das Gymnasium mit 42,1 Prozent weiterhin die Schulart, die im Anschluss an die Primarstufe am stärksten frequentiert wird. Im Schuljahr 2011/12 wechseln insgesamt 306.425 Schüler von der Grundschule aufs Gymnasium. Im Vergleich zum Jahr 2009 ist der Anteil der Fünftklässler, die zum Gymnasium übergehen, damit um 0,4 Prozentpunkte leicht gestiegen.

Auch das Verhältnis von Aufwärts- zu Abwärtswechseln der Schüler in den Jahrgangsstufen 7 bis 9 bleibt im Vergleich zum Jahr 2009 nahezu konstant: Bundesweit kommen auf einen Wechsel von einer niedrigeren zu einer höheren Schulart durchschnittlich 4,2 Wechsel von einer höheren zu einer niedrigeren Schulart. (…)

Die Chancen junger Menschen mit höchstens einem Hauptschulabschluss, in ein Ausbildungsverhältnis einzutreten, haben sich im Beobachtungszeitraum geringfügig verschlechtert. Im Jahr 2011 mündeten bundesweit 169.006 Neuzugänge mit maximal Hauptschulabschluss neu in das Duale System ein. Dies entspricht einem Anteil von 40,9 Prozent an allen Neuzugängen mit maximal Hauptschulabschluss im Berufsbildungssystem. Im Jahr 2009 waren es noch 41,5 Prozent. (…)

Die Integrationskraft der Schulsysteme ist in den nördlichen Bundesländern und in Rheinland-Pfalz stärker ausgeprägt

Die Dimension »Integrationskraft« gibt Auskunft darüber, welche Chancen Kinder und Jugendliche haben, in eine Regelschule zu gehen und ein Ganztagsangebot wahrzunehmen. Die Dimension zielt damit auf die systemische und soziale Integration der Schüler: Chancengerechte Schulsysteme fördern den Regelschulbesuch und versuchen, so wenig Schüler wie möglich durch separate Beschulung auf einer Förderschule auszuschließen. (…)

  • Förderquoten in Deutschland: In ostdeutschen Ländern wird bei Schülern deutlich mehr Förderbedarf festgestellt als in westdeutschen Bundesländern. (…)
  • Exklusionsquoten in Deutschland: In Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist das Risiko, eine Förderschule zu besuchen, am geringsten. (…)
  • Die Chancen, eine Ganztagsschule zu besuchen, sind in den Stadtstaaten und im Osten höher als im Süden Deutschlands. (…)

Durchlässiger sind die Schulsysteme in den östlichen Bundesländern und in Hamburg

Die Dimension »Durchlässigkeit« informiert darüber, inwiefern die Schulsysteme den Schülern Zugangsmöglichkeiten zu und Übergangsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Schulstufen und Schularten gewähren. Konkret geht es um Auf- und Abwärtsbewegungen sowie um Anschlüsse und Übergänge. (…)

  • Während in Berlin, Brandenburg, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern durchschnittlich etwa jeder zweite Schüler nach der Grundschule auf ein Gymnasium übergeht, wechseln in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen und Schleswig-Holstein durchschnittlich 40 Prozent eines Jahrgangs auf das Gymnasium. (…)
  • Schulartwechsler in Deutschland: Das Risiko, in der Mittelstufe in eine niedrigere Schulart wechseln zu müssen, ist im Durchschnitt in Berlin, Bremen, Hessen und Niedersachsen viermal so hoch wie in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. (…)
  • Klassenwiederholungen in Deutschland: Das Risiko des Sitzenbleibens ist in der Gruppe der Länder mit den höchsten Wiederholeranteilen im Durchschnitt doppelt so hoch wie in der Gruppe der Länder mit den niedrigsten Wiederholeranteilen. (…)
  • Übergänge in das Duale System im Bundesländervergleich: Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen bieten Schülern mit maximal Hauptschulabschluss vergleichsweise bessere Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. (…)

Bei den Schulabschlüssen bieten Nordrhein-Westfalen, Hessen und der Südwesten mit Baden-Württemberg und dem Saarland größere Chancen

Die Chancengerechtigkeit eines Schulsystems bemisst sich auch an der Hochwertigkeit seiner Abschlüsse. Denn höherwertige Abschlüsse führen zu mehr Anschlussmöglichkeiten, die gleichzeitig als Lebenschancen aufzufassen sind. Als angemessen gilt eine Zertifikatsvergabe dann, wenn Abschlüsse nach den an sie gestellten Anforderungen vergeben werden und sie über die Bundesländer hinweg vergleichbar sind. (…)

  • Erwerb der Hochschulreife in den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen: Die besten Chancen auf eine Hochschulzugangsberechtigung bestehen für die Schüler in Baden-Württemberg, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und im Saarland. …
  • Das Risiko eines fehlenden Schulabschlusses ist in Ostdeutschland höher als in Westdeutschland. In Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt ist dieses Risiko im Durchschnitt doppelt so hoch wie in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und im Saarland. (…)“

Der Chancenspiegel ist eine Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Technischen Universität Dortmund und des Instituts für Erziehungswissenschaft (IfE) der Friedrich-Schiller-Universität Jena in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung.

Die Langfassung der Ergebnisse des Chancenspiegels ist auch erhältlich als Printausgabe und als E-Book:

Bertelsmann Stiftung,
Institut für Schulentwicklungsforschung Dortmund,
Institut für Erziehungswissenschaft Jena (Hrsg.)
Chancenspiegel 2013
Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme mit einer Vertiefung zum schulischen Ganztag
260 Seiten, Broschüre
€ 22,– (D) / sFr. 31,50
ISBN 978-3-86793-505-0

Quelle: Bertelsmann Stiftung

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