KLASSENWIEDERHOLUNGEN SIND TEUER UND UNWIRKSAM Jahr für Jahr wiederholen in Deutschland rund eine Viertel Millionen Schülerinnen und Schüler die Klassen. Erwartet werden dadurch verbesserte Leistungen sowohl bei den „Sitzenbleibern“ als auch bei den in der Klasse verbliebenen vermeintlich Leistungsstärkeren. Doch die aktuelle Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass Klassenwiederholungen eher ein Verlust an Lebenszeit statt ein Gewinn bedeuten. Auszüge aus der Studie zu Ausgaben für Klassenwiederholungen „Klassenwiederholungen – teuer und unwirksam“ “ Klassenwiederholungen führen weder bei den sitzengebliebenen Schülerinnen und Schülern zu einer Verbesserung ihrer kognitiven Entwicklung, noch profitieren die im ursprünglichen Klassenverband verbliebenen Schülerinnen und Schüler von diesem Instrument. Dies belegen alle verfügbaren und bei einer methodenkritischen Überprüfung belastbaren empirischen Studien. Klassenwiederholungen sind daher als unwirksame Maßnahme in den deutschen Schulsystemen anzusehen. Gleichwohl nimmt das „Sitzenbleiben“ im deutschen Schulalltag nach wie vor einen breiten Raum ein. Die PISA-Studie aus dem Jahr 2003 hat gezeigt, dass in Deutschland 23,1 Prozent aller Fünfzehnjährigen im Verlauf ihrer Schulzeit mindestens einmal eine Klasse wiederholt haben. Von den gut 9 Millionen Schülerinnen und Schülern allgemein bildender Schulen im Schuljahr 2007/08 musste etwa eine Viertelmillion eine Klasse wiederholen – das sind 2,6 Prozent. Hinter dieser Wiederholerquote stehen auffallende schularten- und länderspezifische Unterschiede: Zwischen den Bundesländern findet sich eine Spannweite von 1,7 Prozent in Baden-Württemberg bis zu 3,6 Prozent in Bayern, zwischen den Schularten reicht diese Quote von 1,3 Prozent in den Grundschulen bis hin zu 5,0 Prozent in den Realschulen. In Deutschland werden Jahr für Jahr mehr als 0,9 Milliarden Euro für Klassenwiederholungen ausgegeben. Dabei wurde bei der Berechnung der Ausgaben berücksichtigt, dass es in den Bundesländern unterschiedliche Verfahren der Zuweisung von Lehrerstellen gibt. Während in den meisten Bundesländern die Stellenzuweisung nach der Schülerzahl erfolgt, nehmen einige Bundesländer eine klassenbezogene Stellenzuweisung vor. In diesen Bundesländern führen Klassenwiederholungen nur dann zu zusätzlichen Personalzuweisungen und Ausgaben, wenn die Aufnahme der Wiederholer in der neuen Jahrgangsstufe zum Überschreiten des bestehenden Höchstwerts für Klassenfrequenzen und dadurch zur Bildung einer zusätzlichen Klasse führt. Eine Viertelmillion jährlich sitzenbleibender Schülerinnen und Schüler bedeutet insgesamt einen beträchtlichen Verlust an Lebenszeit. Zudem trägt das Sitzenbleiben wie oben bereits angeführt nicht zu einer Verbesserung der schulischen Leistungen bei. Vielmehr hat es auf viele Schülerinnen und Schüler eine demotivierende Wirkung, verbunden mit Schulunlust und Selbstzweifeln. Vor diesem Hintergrund reichen die in den letzten Jahren zaghaft begonnenen Ansätze zur Reduzierung der Wiederholerquote in einzelnen Bundesländern offensichtlich nicht aus. Eine Abkehr von dem teuren aber unwirksamen Instrument der Klassenwiederholung ist notwendig, um die damit verbundenen jährlichen Zusatzausgaben von einer Milliarde Euro in wirksame Maßnahmen zur individuellen Förderung der Schülerinnen und Schüler investieren zu können. … * Die Funktion von Klassenwiederholungen Zwei Annahmen sind für die organisatorische Ausgestaltung der deutschen Schulsysteme zentral: die Annahme, dass Kinder und Jugendliche eines Altersjahrgangs eine nicht nur altershomogene, sondern zunächst auch eine in ihrer Leistungsfähigkeit homogene Gruppe darstellen, sowie die Annahme, dass mit der Homogenität der Leistungsfähigkeit für Schüler und Schülerinnen ein besonders förderliches Entwicklungsmilieu gegeben ist. .. Mit dem Instrument der Klassenwiederholung sind in diesem Zusammenhang zwei Erwartungen verbunden: Zum einen wird unterstellt, dass innerhalb einer Lerngruppe leistungsschwache Schüler das Lernen der leistungsstärkeren Schüler und Schülerinnen behindern würden. … Zum anderen wird aber auch davon ausgegangen, dass die Schwächeren in ihrer ursprünglichen Lerngruppe überfordert seien. In der in ihrer Lernzeit um ein Jahr zurück liegenden Gruppe würden sie dann ein Milieu antreffen, das ihnen günstigere Entwicklungschancen bieten würde. … * Empirische Befunde zur Wirkung von Klassenwiederholungen Im Gegensatz zu den Erwartungen, die mit dem Einsatz von Klassenwiederholungen verbunden werden, kommt die empirische Schulforschung bezüglich der Wirkung von Klassenwiederholungen zu einem überwiegend kritischen Urteil. … Die Einschätzung, dass Klassenwiederholungen keine nachhaltig günstigen Wirkungen haben, wird auch durch internationale Studien gestützt. Tietze/Rossbach gelangen bei ihrem Überblick über mehr als 60 dieser Untersuchungen zu einem eindeutigen Urteil: „Über alle Studien hinweg zeigen sich im Durchschnitt Vorteile der versetzten Schüler im Vergleich zu den nicht versetzten […] Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede bei den Schulleistungen. Der Vergleich sitzengebliebener Kinder mit gleich leistungsschwachen, aber versetzten Schülern zum gleichen Alterszeitpunkt ergibt deutliche Leistungsunterschiede zuungunsten der Sitzenbleiber […]“. Darüber hinaus gilt sogar, dass „[…] der Leistungsabstand im Verlaufe der folgenden Schuljahre noch zunimmt“ (Tietze/Rossbach 1998, S. 467). Weder ist ein nachhaltiger Ertrag des Wiederholens einer Klasse zu beobachten, noch ist festzustellen, dass die leistungsstärkeren Schüler und Schülerinnen vom „Aussortieren“ der Schwächeren profitieren. Das Bemühen um die Herstellung tendenziell leistungshomogener Lerngruppen wirkt damit nicht leistungssteigernd. Die PISA-Studien der Jahre 2000, 2003 und 2006 bieten für Deutschland, dessen Schulklassen im internationalen Vergleich dem Ziel der Homogenität besonders nahe kommen, ein gleich bleibendes Bild: Das schwächste Viertel der Schülerinnen und Schüler, das überwiegend in Hauptschulklassen lernt, bleibt im internationalen Vergleich ebenso wie das stärkste Viertel, das überwiegend in Gymnasien unterrichtet wird, deutlich hinter den Altersgleichen anderer Länder mit weniger ausgeprägt leistungshomogenen Lerngruppen zurück. Offensichtlich werden also in anderen Ländern pädagogische Arrangements gefunden, in denen alle Schülerinnen und Schüler in leistungsheterogenen Lerngruppen Lernergebnisse erreichen, die denen in den eher leistungshomogenen Lerngruppen in Deutschland überlegen sind. * Das Ausmaß von Klassenwiederholungen in Deutschland … Im Schuljahr 2007/08 mussten von den gut 9 Millionen Schülerinnen und Schülern allgemein bildender Schulen etwa eine Viertelmillion eine Klasse wiederholen – das sind 2,6 Prozent. Dieser nur auf ein Jahr bezogene Wert lässt die Bedeutung der Klassenwiederholungen jedoch nur unvollständig erkennen. Die PISA 2003-Untersuchung für Deutschland insgesamt und auch für die einzelnen Bundesländer zeigt, dass deutschlandweit 23,1 Prozent aller Fünfzehnjährigen im Verlauf ihrer bisherigen Schullaufbahn mindestens einmal eine Klasse wiederholt haben (9 Prozent in der Grundschule und 14,1 Prozent in der Sekundarstufe I. Wenn man die Wiederholerquote in Deutschland in ihrer schularten- und länderspezifischen Ausdifferenzierung betrachtet, so ergibt sich das folgende Bild. Sieht man von den schulformunabhängigen Orientierungsstufen ab, in denen es im Prinzip kein Sitzenbleiben geben soll, so ist die Wiederholerquote in den Grundschulen mit 1,3 Prozent am geringsten. In der Sekundarstufe I sind die Quoten ebenfalls niedrig an Gymnasien (2,0 Prozent) und Gesamtschulen (2,4 Prozent). Deutlich höher liegen die Quoten in den Hauptschulen (3,9 Prozent), in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen (4,4 Prozent) und in den Realschulen (5,0 Prozent). In den allgemein bildenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II liegen die Wiederholerquoten im Gymnasium bei 2,8 Prozent und in den Gesamtschulen bei 2,9 Prozent. … Auffallender noch als die Unterschiede zwischen den Schulstufen und den Schularten sind die Unterschiede zwischen den Bundesländern: – Bei den Wiederholerquoten insgesamt findet sich eine Spannweite, die von 1,7 Prozent in Baden-Württemberg bis hin zu 3,6 Prozent in Bayern reicht. – Auch bei der kumulierten Wiederholerquote Fünfzehnjähriger klaffen die Bundesländerwerte deutlich auseinander: Während in Brandenburg „nur“ 14,5 Prozent aller Fünfzehnjährigen mindestens einmal eine Klasse wiederholen mussten, waren dies in Schleswig-Holstein 43,0 Prozent. – Eine Betrachtung der schulartenspezifischen Werte der Flächenstaaten zeigt: … in der Hauptschule reichen die Quoten von 1,3 Prozent in Baden-Württemberg bis zu 4,8 Prozent in Nordrhein-Westfalen in den Schulen mit mehreren Bildungsgängen von 3,0 Prozent in Sachsen bis zu 6,5 Prozent im benachbarten Sachsen-Anhalt in den Realschulen von 2,6 Prozent in Baden-Württemberg bis zu 8,5 Prozent in Bayern. … Auch in Gesamtschulen findet sich eine starke länderspezifische Ausprägung: In der Sekundarstufe I bleiben in Niedersachsen 0,6 Prozent und in Brandenburg 6,7 Prozent jährlich sitzen, in der Sekundarstufe II liegt die Wiederholerquote in dieser Schulart in Schleswig-Holstein bei 3,1 Prozent, in Sachsen-Anhalt dagegen bei 8,6 Prozent. – Auch wenn man nur die drei Stadtstaaten betrachtet, finden sich beachtliche Unterschiede: In den Hauptschulen liegt die Wiederholerquote in Berlin bei 8,6 Prozent, in Hamburg dagegen bei nur 2,8 Prozent in der Realschule in Berlin bei 10,4 Prozent, in Hamburg bei 6,0 Prozent in den Gesamtschulen (Sekundarstufe I) in Berlin bei 9,2 Prozent, in Hamburg dagegen bei „nur“ 1,7 Prozent. … * Jährliche Ausgaben für Klassenwiederholungen … – Bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Verfahren bei der Lehrerzuweisung ergeben sich – bezogen auf das Schuljahr 2007/08 – jährliche Mehrausgaben für Klassenwiederholungen in Höhe von etwa 931 Millionen Euro. – Der größte Anteil der Ausgaben, nämlich 26,8 Prozent, entfällt auf die Realschulen, gefolgt von den Gymnasien (26,6 Prozent), den Hauptschulen (19,1 Prozent), den Grundschulen (13,7 Prozent), den Gesamtschulen (8,2 Prozent) und den Schulen mit mehreren Bildungsgängen (5,3 Prozent). Die wenigen Wiederholer in den Orientierungsstufen fallen prozentual nicht ins Gewicht. Diese Rangfolge der Ausgaben für Klassenwiederholungen spiegelt nicht die beobachteten Unterschiede in den Wiederholerquoten wider. Vielmehr sind die absoluten Schülerzahlen für diese unterschiedliche Reihung verantwortlich. So besuchen das Gymnasium mit seinen acht bis neun Jahrgangsstufen weitaus mehr Schüler und Schülerinnen als z.B. die Hauptschulen, so dass dort trotz geringerer Wiederholerquoten höhere Ausgaben für Klassenwiederholungen anfallen. – Die Anteile der Länder an den Ausgaben für Klassenwiederholungen sind deutlich unterschiedlich und entsprechen in ihrer Rangfolge nicht der Größe der einzelnen Länder oder der Höhe ihrer Schülerzahlen. Besonders auffallend ist, dass Baden-Württemberg mit 1,29 Mio. im Vergleich zu Bayern mit 1,45 Mio. nur geringfügig weniger Schüler und Schülerinnen an allgemein bildenden Schulen hat, gleichzeitig entfallen aber nur 5,3 Prozent der Ausgaben für Klassenwiederholungen auf Baden-Württemberg, während Bayern einen Anteil von 29,2 Prozent trägt. … Die pädagogisch nicht zu begründenden Unterschiede bei Klassenwiederholungen zwischen den Schulstufen und den Schulformen können ebenso wie die unübersehbaren Länderunterschiede als zusätzliche und deutliche Hinweise darauf verstanden werden, dass der Einsatz der für Klassenwiederholungen verbrauchten Ressourcen zu Gunsten einer verstärkten individuellen Förderung ertragreicher wäre. …“ Die Studie in vollem Textumfang inklusive eines tabellarischen Anhangs entnehmen Sie bitte aufgeführtem Link oder dem Anhang.
http://www.bertelsmann-Stiftung.de
http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_29361_29362_2.pdf
Quelle: Bertelsmann Stiftung
Dokumente: Bertelsmann_Studie_Sitzenbleiben.pdf