Gesellschaftliche Erneuerung im Sozialwort der Bischöfe gefordert

Auszüge aus dem Sozialwort Chanchengerechte Gesellschaft der Bischöfe:
Chancen für alle
Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels ist ungebrochen.
Die meisten Menschen sind diesem Wandel gewachsen und finden sich darin zurecht. In einer freiheitlichen Gesellschaft soll aber niemand verloren gehen. Deshalb müssen nach Möglichkeit jedem die Chancen eröffnet werden, die er braucht, um sein Leben in Freiheit zu gestalten. Diese Chancen dürfen nicht nur formal bestehen, sondern jeder Einzelne muss sie auch tatsächlich wahrnehmen können. Wahrnehmen heißt dabei zweierlei:
Chancen als solche zu be-greifen, sie aber auch zu er-greifen.
Die Chance, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, muss im Sinne einer dynamischen Chancengerechtigkeit jedem Einzelnen immer wieder neu eröffnet werden. Zugleich verändert der gesellschaftliche Wandel die Spielräume ständig. Deshalb muss auch die Gesellschaft die Angebote zur Beteiligung und zur Befähigung fortwährend an die neuen Gegebenheiten anpassen. …

Wie der Einzelne seine persönliche Freiheit nutzt und gestaltet, wird wesentlich in der Familie grundgelegt und von seiner Bildungsbiographie bestimmt. Beide sind entscheidend für die späteren Chancen, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Das gilt vor allem für den Arbeitsmarkt. In einer erwerbsorientierten Gesellschaft ist die Teilhabe am Erwerbsleben ein bedeutender Schlüssel für Integration. Chancengerechtigkeit muss auch für kommende Generationen gelten. Insofern sind dauerhaft finanzierte soziale Sicherungssysteme, die Sicherstellung der Gestaltungsspielräume staatlichen Handelns und die Erhaltung der Schöpfung bleibende Aufgaben einer chancengerechten Gesellschaft.

Seit vielen Jahrzehnten ist Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ das politische Leitmotiv der Bundesrepublik. Die Voraussetzung dafür ist aber zwischenzeitlich aus dem Blick geraten: „Chancen für alle“ ist die Grundlage, um allen Wege zur Teilhabe, zum sozialen Aufstieg und zum Wohlstand zu ermöglichen. Nur so wird es gelingen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Die gesellschaftliche Erneuerung braucht deshalb ein klares Leitbild: die chancengerechte Gesellschaft. „

Perspektiven einer chancengerechten Gesellschaft
Eine Ausrichtung am Leitbild einer chancengerechten Gesellschaft hat Konsequenzen für die verschiedenen Felder des politischen Handelns und des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Im Folgenden sollen in drei wichtigen Bereichen exemplarisch Perspektiven einer chancengerechten Gesellschaft aufgezeigt werden. …

## Perspektive: Bildung

Bildung befähigt zur Freiheit und ist mehr als Wissensvermittlung: In einer immer komplexer werdenden Welt müssen die Menschen befähigt und ermutigt werden, mit den Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels sowie mit einer zunehmenden Unübersichtlichkeit und Unsicherheit umzugehen. Nur so können sie Verantwortung für das eigene Leben, für ihre persönliche Entwicklung und für die Gesellschaft übernehmen. … Deshalb zählt der freie Zugang zu Bildung zu den grundlegenden sozialen Rechten. Jedes Gesellschaftsmitglied hat Anspruch darauf, seine Begabungen und Fähigkeiten zu entwickeln. Gleichwohl haben derzeit nicht alle in gleichem Maße diese Chance. …

Viele Kinder werden in ihren Chancen ein Leben lang beeinträchtigt, wenn ihnen nicht früh, umfassend, nachhaltig und vor allem erfolgreich geholfen wird. Wer diese Kinder zur Selbständigkeit und zur Übernahme von Verantwortung befähigen will, muss ihre Erziehung und Bildung frühzeitig gewährleisten. …

Hierzu sind aufsuchende Elternarbeit und Erziehungshilfen eine wertvolle Unterstützung. Gefordert sind dabei eine aufmerksame kommunale Sozialpolitik und eine mit ihr verzahnte (Bezirks-)Sozialarbeit sowie ein funktionierendes Netzwerk früher
Hilfen. … Im Feld der Kinder- und Jugendhilfe liegen auch besondere
Potentiale für bürgerschaftliches Engagement, so durch Hausaufgabenhilfe, Leseeltern oder kreative Freizeitangebote. Ein
stärkeres ehrenamtliches Engagement in der Familien- und Jugendarbeit, gerade für sozial Benachteiligte, ist vor allem auch eine Aufgabe für die Kirchen und ihre Verbände. …

Gerechte Chancen sind auch beim Zugang zu schulischen Bildungsangeboten einzufordern. Nur so kann verhindert werden,
dass die soziale Herkunft den Bildungsweg der Kinder vorzeichnet. Dabei führt eine Verengung der Diskussion auf die bildungspolitische Strukturdebatte nicht weiter. Im Mittelpunkt müssen vielmehr die Bedürfnisse der Kinder, vor allem ihre individuelle Förderung, stehen. …

Zur Herstellung von mehr Bildungsgerechtigkeit wird insgesamt deutlich mehr Geld für Investitionen in Bildung zur Verfügung gestellt werden müssen. Darüber hinaus wird es aber auch notwendig sein, die Verteilung finanzieller Mittel auf die verschiedenen Bildungszweige zu überdenken. …
## Perspektive: Arbeit

Die Erwerbsarbeit ist für die meisten Menschen nach wie vor eine zentrale Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und die wirtschaftliche Grundlage für eine eigenverantwortliche und freie Lebensführung. …

Trotz der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich der deutsche Arbeitsmarkt als erfreulich stabil erwiesen. …

Diese erfreuliche Entwicklung darf jedoch nicht den Blick dafür
verstellen, dass Geringqualifizierte nach wie vor schlechte Arbeitsmarktchancen haben. Viele Menschen verharren in geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen oder in Leiharbeit. …

Gerade Minijobs sind für viele eine Falle auf dem Arbeitsmarkt:
Die Arbeitnehmer haben wegen der subventionierten geringfügigen Beschäftigung keinen Anreiz, eine Vollzeitbeschäftigung auszuüben. Die Arbeitgeber haben hingegen einen Anreiz, Arbeitsplätze zu niedrigen Löhnen anzubieten und reguläre Arbeitsverhältnisse in mehrere Minijobs aufzuspalten. Die Subventionierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse geht somit zu Lasten regulärer Arbeitsverhältnisse. Vordringliches Ziel der Arbeitsmarktpolitik muss es jedoch bleiben, Arbeitslosen die Möglichkeit zu geben, ein sozialversicherungspflichtiges Normalarbeitsverhältnis aufzunehmen. Für gering qualifizierte Tätigkeiten kann es dabei auch zielführend sein, durch Zuschüsse zu den Lohnkosten Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen (Kombilöhne). Allerdings muss sichergestellt werden, dass die
Entlohnung qualifikationsgerecht ist und die Beschäftigung sozialversicherungspflichtig erfolgt. …
## Perspektive: Generationengerechtigkeit

Das Leitbild der Chancengerechtigkeit erfordert nicht nur, für
die Gegenwart Freiheitsspielräume zu schaffen und zu erhalten. Jede Generation muss darüber hinaus darauf achten, die Handlungsmöglichkeiten nachfolgender Generationen nicht über Gebühr einzuschränken. Die Generationengerechtigkeit ist dann verletzt, wenn zukünftige Generationen in ihren Lebensmöglichkeiten massiv eingeschränkt werden. …

Um die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit zukünftiger Generationen zu sichern, sind die Anhebung des Renteneintrittsalters
und die Schuldenbremse politische Schritte in die richtige Richtung. …

Wie schwierig die Gestaltung einer generationengerechten Gesellschaft ist, zeigt sich schließlich auch bei der Vermögensvererbung. Einerseits gehört es zu den Grundregeln einer freien Gesellschaft, dass ein Individuum die Früchte seiner eigenen
Anstrengungen auch seinen Vorstellungen gemäß an die nachfolgende Generation weitergeben kann. Andererseits kommen insbesondere diejenigen in den Genuss vererbten Vermögens, die schon unabhängig von einer Erbschaft bessere Lebenschancen haben. Es ist deshalb eine sozialethische Herausforderung, gesellschaftliche Regeln zu finden, die sowohl das Recht der Erblasser zur Weitergabe ihres Vermögens als auch die damit verbundenen Verteilungsprobleme ernst nehmen. Hier liegt der Schnittpunkt von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verpflichtung. Die Katholische Soziallehre betont seit jeher die Rückbindung des Eigentums an die Gerechtigkeitsgrundsätze und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. … Es bedarf des Ausbaus und der gesellschaftlichen Anerkennung alternativer Möglichkeiten des Vermögensübergangs. Die Einrichtung
von gemeinnützigen Stiftungen, Fonds und Stipendien ist eine gute Möglichkeit, gesellschaftliche Belange nach eigenen Vorstellungen zu fördern.

http://www.dbk.de/nc/presse/details/?presseid=1860
http://www.domradio.de/aktuell/74695/wat.html
http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse/2011-091a-Statement-Impulspapier-chancengerechte-Gesellschaft.pdf

Quelle: Katholische Nachrichtenagentur; Deutsche Bischofskonferenz

Dokumente: ko_34.pdf

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