Neue Veröffentlichung zur Jugend- und Bildungsforschung

Die neue BiBB-Veröffentlichung fragt danach, ob Jugendliche Berufseinsteiger heute anders sind als früher, den Anforderungen gewachsen und auf die Zukunft vorbereitet. Dabei wird die Perspektive der Unternehmen und die Frage, ob sie ausreichend auf die Bewältigung des demografischen Wandels vorbereitet sind, auch nicht außen vor gelassen.

Eine wesentliche Rolle für eine erfolgreiche Integration in den Ausbildungsmarkt spielt die Lebenssituation junger Menschen und ihr soziales Umfeld. Den Veränderungen in den Lebenslagen durch gesellschaftlichen Wandel widmet sich der Beitrag von Walter R. Heinz. Kernergebnisse der Analyse der Zusammenhänge von Lebensverhältnissen und den Übergängen von Jugendlichen ins Erwachsenenleben:
“ … Mit dem Wandel der Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft haben sich auch die Konturen des Jugendalters verschoben. Zwischen dem Ende der Kindheit und dem Eintritt in das Leben als Erwachsener liegen etwa 15 Jahre. Diese Jahre sind durch verlängerten Schulbesuch, eine spätere Aufnahme von Ausbildung und Studium, vor allem aber durch einen Hürden- bzw. Hindernislauf in das Erwerbsleben geprägt. Die traditionellen Altersnormen für Berufsstart und Familiengründung haben ihre Verbindlichkeit verloren. … Die Wege in das Leben als Erwachsener sind heute nicht nur länger, sondern auch variabler, disparater und diskontinuierlicher als in früheren Generationen. Übergänge verlängern sich, z. B. durch berufsvorbereitende Maßnahmen und Arbeitslosigkeit. Risiken der sozialen Exklusion nehmen für diejenigen zu, denen es nicht gelingt, Ausbildungsoptionen zu ergreifen und schulische sowie betriebliche Selektionsprozesse zu meistern.

Durch den gesellschaftlichen Wandel haben junge Menschen eine riskante Autonomie gewonnen – oder besser, sie wird von ihnen erwartet, wenn es darum geht, Statuspassagen zwischen der Familie und den Institutionen der Bildung, Beschäftigung und Sozialpolitik zu gestalten. So stehen alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor der Herausforderung, selbstverantwortete Biografien zu entwickeln, wenn sie ihre Übergangsziele verfolgen und Entscheidungen treffen, mit deren Handlungsergebnis sie leben müssen. Die Folgen ihrer Handlungen können das Selbstvertrauen stärken, aber auch als entmutigend erlebt werden. …

Um den vielfältigen Übergangsanforderungen aktiv begegnen zu können, müssen Jugendliche und junge Erwachsene ihre herkunftsgeprägten Lebensvorstellungen, Qualifikationen und Kompetenzen an die jeweiligen Angebote in Bildung und Beschäftigung anpassen und soziale und personale Ressourcen als biografisches Kapital bilden und nutzen. Je schwächer die Verbindungen zwischen Bildungsabschlüssen und Erwerbschancen werden, desto mehr wächst die Verantwortung für den Einzelnen, diese selbst herzustellen. Da die Lebensperspektive des „Immer-soweiter“, also der Kontinuität zwischen Schulabschluss, Ausbildung und Berufseintritt, immer brüchiger geworden ist, nicht zuletzt wegen der Deregulierungsprozesse am Arbeitsmarkt, reichen die individuellen Ressourcen oft nicht aus, und es müssen Familie und Sozialpolitik aushelfen. …

Verteilung von Lebenschancen: soziale, kulturelle und materielle Ressourcen
Handlungsoptionen und Lebenschancen werden in Deutschland, wie in den anderen industrialisierten Dienstleistungsgesellschaften, durch sozial strukturierte, dauerhafte Benachteiligung und Privilegierung von Gruppen und Individuen festgeschrieben. Ungleichheit ist mehrdimensional, sie besteht aus wirtschaftlichen, sozialen, aber auch aus subjektiven Dimensionen. …
Der Transfer von Ressourcen zwischen den Generationen durch Investitionen in Bildung wird immer noch und heute wieder stärker durch die soziale Herkunft bestimmt. Die Konversion von Familienkapital in Bildungskapital (Kompetenzen und Qualifikationen) und dessen Umsetzung in wirtschaftliches und soziales Kapital in der nächsten Generation strukturieren den Prozess des Erwachsenwerdens. Dieser Prozess ist eingebunden in die Institutionen des Bildungswesens, des Arbeitsmarkts und der Sozialpolitik, die mit ihren Anforderungen und Regulierungen von Übergängen Lebenslaufpolitik betreiben. …

Für die Lebensperspektiven von Jugendlichen ergibt sich aus dem Ressourcenmodell, dass soziale Ungleichheit und Übergänge in das Erwachsensein durch eine Kumulation von Vorteilen bzw. von Benachteiligungen im Zusammenwirken der drei Kapitalien im Zeitverlauf verknüpft werden. Da die meritokratische Ideologie die Praxis unserer Bildungseinrichtungen dominiert, werden Erfolg und Misserfolg bei Bildungs- und Berufsübergängen auf die individuelle Leistungsfähigkeit und Motivation – also auf Identitätskapital – unter Vernachlässigung der anderen Ressourcen zurückgeführt. Dies lässt sich am Beispiel von Konzepten wie der „Ausbildungs- oder Berufsreife“ verdeutlichen, welche die unterschiedlichen Einstiegschancen in eine Ausbildung auf individuelle Entwicklungs-, manchmal auch Begabungsunterschiede zurückführen. …

Die Bedeutung sozialer Einbindung für gelingende Übergänge in das Erwachsenenleben verdeutlicht auch die LIFE-Studie, die in Hessen 1.500 Lebensläufe von der späten Kindheit (12 bis 16 Jahre, 1979-1985) bis ins Erwachsenenalter (35 Jahre. 2002) verfolgt hat, um die psychosoziale Entwicklung in der Adoleszenz und ihre Auswirkungen auf die Lebensführung als Erwachsene zu erhellen. Auch das Team um Helmut Fend bezieht sich auf ein Ressourcenmodell der Bewältigung von Bildungs- und Berufsübergängen als „Kontextwahlen“ im Zeitverlauf. Es stellte sich heraus, dass das soziale Kapital, nämlich Familie und Freundschaften, für die Lebensgestaltung subjektiv bedeutsamer waren als Arbeit und Beruf. Die soziale Herkunft hat Bildungs- und Berufsverläufe stark beeinflusst. weniger jedoch die psychische Stabilität und Lebenszufriedenheit im jungen Erwachsenenalter, die auf engen sozialen Beziehungen und dauerhaften Freundschaften beruht.
Wenn zu finanzieller Notlage und fehlender Bildungsbeteiligung eine schwache Einbindung in Familie und soziale Netzwerke kommt, dann führt dies zu der subjektiven Wahrnehmung von sozialer Exklusion. Wie schon vom Konzept der „relativen Deprivation“ und der Bezugsgruppenforschung seit Jahrzehnten belegt, so bewerten auch Heranwachsende ihre Lebenslage in Anlehnung an ihre Familie, Freunde und Nachbarn. Dieser soziale Vergleich kann dazu beitragen, das Gefühl des Ausgeschlossenseins zu mildern, nicht langfristig zu planen, sondern sich mit den Verhältnissen zu arrangieren und auf günstige Gelegenheiten zu hoffen. Das Gefühl, integriert zu sein, hängt nicht allein von den Ressourcen Arbeitsplatz und Einkommen ab, sondern in hohem Maße von der sozialen Einbindung und der Ermutigung, die junge Leute erfahren. …

Jugendliche im Kontext von Hartz IV
Durch den Einbruch der Konjunktur wird der bis 2009 verzeichnete Rückgang der Anzahl arbeitsloser Jugendlichen sich nicht fortsetzen. Trotz der gesunkenen Arbeitslosigkeit waren etwa 1,2 Millionen der 15- bis 24-Jährigen von staatlicher Hilfe oder Förderung abhängig, darunter 300.0000, die Arbeitslosengeld I bezogen oder an Maßnahmen zur beruflichen Förderung teilnahmen. …
Drei Viertel der arbeitslos gemeldeten Jugendlichen ohne Schulabschluss sind von Hartz IV abhängig, darunter ca. 50.000, die in Fördermaßnahmen ihre Ausbildungsfähigkeit verbessern sollen, von denen die meisten jedoch keinen Anschluss an reguläre Ausbildungen oder Beschäftigung finden. Wie das DJI-Übergangspanel belegt, ist 2004 jeder vierte Hauptschüler in eines der berufsvorbereitenden Angebote eingemündet, die in günstigen Arbeitsmarktregionen den Einstieg in Ausbildung und Beschäftigung erleichtern können. Ein Viertel der Hauptschulabgänger des Jahres 2004 hat es bis Ende 2008 nicht geschafft, eine Ausbildung zu beginnen, und befindet sich auch nicht in anderen stabilen Bildungsgängen, sondern ist von Ausbildungslosigkeit und anschließender Arbeitslosigkeit bedroht.

Modellprojekte zur Förderung des Übergangs konzentrieren sich aber allzu oft auf kurzfristige Angebote, wie Bewerbungstraining und Betriebspraktika für Hauptschüler am Ende der Schulzeit. Sinnvoller wäre es, noch in der Schule im Anschluss an das Betriebspraktikum zu beginnen und mit beratender Unterstützung (Mentoren) bis zu einem Jahr im Ausbildungssystem fortzufahren; eine Mischung von Kompetenztraining und Arbeitserfahrungen kann das Selbstvertrauen stärken und zu einem Ausbildungsplatz führen. …

Mit einem hohen Übergangsrisiko werden Jugendliche mit Migrationshintergrund konfrontiert. Ein großer Anteil von ihnen befindet sich in prekären Lebenslagen, und einige zeigen Reaktionsformen, die sie mit Polizei und Justiz in Konflikt bringen. Für sie kann eine Jugendstrafe zum Bestandteil des Erwachsenwerdens sein. Diese Situation ist glücklicherweise nicht vergleichbar mit den USA, wo für 30 % der schwarz Jugendlichen ohne College-Abschluss und für 60 % derjenigen ohne Highschool-Abschluss vor Mitte des 30. Lebensjahres eine Gefängnisstrafe zu einer neuen Phase des Lebenslaufs geworden ist. Im Vergleich zu weißen jungen Amerikanern ist das Risiko der Afroamerikaner, im Gefängnis zu landen, achtmal höher. So wirkt das amerikanische Gefängnissystem als Institution der Lebenslaufpolitik bei der Festschreibung von sozialer Ungleichheit mit, da die Übergänge von Minderheitsjugendlichen von denen ihrer besser gebildeten und weißen Altersgenossen abgekoppelt werden und in Lebensläufe mit anhaltender Benachteiligung münden.
Soweit ist die Entwicklung in Deutschland noch nicht. Aber laut der Kriminalstatistiken von Bund und Ländern betrug 2004 der Anteil tatverdächtiger Ausländer 23 % (ein Rückgang gegenüber 1993, mit knapp 34 %); in Jugendvollzugsanstalten (JVAs) befinden sich beinahe 40 % Ausländer, unter ihnen vor allem Aussiedler und Türken; meist ohne Schulabschluss und mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen.

Zusammenfassung ## Ungleiche Lebenslagen bestimmen die Ressourcenausstattung der Jugendlichen für die Gestaltung ihres Weges in die Erwerbsgesellschaft. Soziale Herkunft und die Ankunftsorte in der Sozialstruktur sind immer noch eng verknüpft, auch wenn dies wegen des Trends zur Individualisierung weniger im Bewusstsein der Akteure präsent ist
## Mit den gestiegenen Qualifikationsanforderungen, flexiblen Beschäftigungsverhältnissen und der Sozialpolitik des Förderns und Forderns sind neue Hürden für die Verwirklichung von Lebensentwürfen entstanden. Wenn im Verlauf des Übergangs von der Schule in den Arbeitsmarkt keine neuen Ressourcen akkumuliert werden können, dann werden sich die sozialen Unterschiede beim Berufsstart im Verlauf der Biografie verfestigen. Zumal Jugendliche, die in hilfebedürftigen Haushalten aufgewachsen sind, mehr leisten müssen, um Lebenschancen in Bildung und Ausbildung ergreifen zu können und um die Erfahrungen sozialer Exklusion zu überwinden
## Die verlängerten Übergangsverläufe und die Flexibilisierung von Arbeit haben „Umbrüche in der Organisation der Lebenszeit“ erzeugt, die zur Ausbreitung eines subjektiven Unsicherheitsgefühls führen – gerade deswegen, weil eine Vielfalt von Optionen mit ungewissem Ausgang an die Stelle von Karrierefahrplänen getreten ist. …
## Auch wenn sich die Bildungsstandards erhöht haben und der Arbeitsmarkt flexibel geworden ist, so haben sich die Entwicklungsaufgaben der jungen Generation und ihre persönlichen Erwartungen nicht prinzipiell gewandelt. Was sich geändert hat, sind die Zeitpunkte und die Dauer der „Abarbeitung“ von Entwicklungsaufgaben. Es mag dahingestellt sein, ob es im Interesse der Identitätsstabilisierung oder Ausdruck realitätsnaher Sicherheitsüberlegungen ist, wenn die Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen davon ausgeht, dass sie sich als skeptische Realisten den Anforderungen im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt mit verstärkten Bemühungen anpassen müssen – nicht selten unter Zurückstellung oder gar Verabschiedung von beruflichen Präferenzen. Dabei müssen sie sich vielfach mit Umwegen und Wartezeiten auf Nebenstrecken arrangieren, wodurch sie in einen kurzfristigen Entscheidungshorizont eingebunden werden. … „

Elisabeth M. Krekel, Tilly Lex (Hg.)
Neue Jugend, neue Ausbildung?
Beiträge aus der Jugend- und Bildungsforschung
Reihe: Berichte zur beruflichen Bildung
Herausgeber: Bundesinstitut für berufliche Bildung
W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld 2011
286 Seiten, 28,90 EUR
ISBN 987-3-7639-1140-0
Bestell-Nr. 111-038

Die Publikation ist zu bestellen über www.bibb.de/veroeffentlichungen.

www.wbv.de
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Quelle: Bertelsmann Verlag

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