Im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung veranstaltete das Deutsche Rote Kreuz am 16. September in Berlin eine Fachtagung. Die Veranstaltung fokussierte darauf, dass Armut das Leben mit all seinen Möglichkeiten nicht nur in materieller Hinsicht massiv beeinträchtigt, sondern ebenso die Bildungschancen junger Menschen sowie deren Gesundheit. Die Veranstaltung verdeutlichte, dass die in der Öffentlichkeit viel diskutierte und von den Medien immer wieder aufgegriffene Kinderarmut zwar ein schwerwiegendes Problem ist, aber die Erfahrungen von Armut der 15-25-Jährigen häufig noch schwerwiegender sind. Dabei ist in Deutschland fast jeder fünfte – im Osten jeder dritte – Jugendliche von Armut bedroht bzw. betroffen.
Hilfe gibt´s von vielen Seiten – aber Jugendarmut muss weiter bekämpft werden
Sabine Schulte-Beckhausen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) skandalierte in ihrem Grußwort Jugendarmut als ein nicht hinnehmbares Phänomen. Sie begrüßte die Aktivitäten des Deutschen Roten Kreuzes sowie anderer Verbände und Organisationen, die dazu beitrügen, jungen Menschen ein Aufwachsen ohne Armut zu ermöglichen. Aber auch von Seiten der Politik bzw. des Ministeriums würden vielfältige Ansätze gefördert und Programme durchgeführt, Kinder- und Jugendarmut in all ihren Facetten zu bekämpfen. Dazu zählen u.a. eine frühe Sprachförderung für Kinder und vor allem für Jugendliche die in der Initiative „JUGEND STÄRKEN“ zusammengefassten Programme („Schulverweigerung“ und „Kompetenzagenturen“ sowie speziell für Jugendliche mit Migrationshintergrund die „Jugendmigrationsdienste“). Durch gezielte Förderung sollen junge Menschen Hilfe erfahren, wo sie es aus eigener Kraft nicht geschafft haben oder aus bisherigen Förderangeboten heraus gefallen sind. Als ein neues Hilfsprogramm wird in diesem Herbst „Stark in der Region“ gestartet. In diesem Programm werden Kommunen bei der Gestaltung und Umsetzung von Hilfeleistungen für Jugendliche unterstützt.
Prozess sozialer Ausgrenzung, der in der Schule beginnt
Prof. Dr. Roland Lutz von der Fachhochschule Erfurt definierte in seinem Vortrag das Problem der Jugendarmut und verdeutlichte, dass immer mehr Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, unterhalb der Armutsschwelle leben. Ein Vergleich der drei bisher vorliegenden Armutsberichte der Bundesregierung zeigt, dass die Armutsrisikoquoten seit Jahren kontinuierlich ansteigen. Im Frühjahr 2010 legte das Deutsche Institut für Wirtschafsforschung (DIW) eine neue Studie vor, nach der in 2008 11,5 Millionen Deutsche, das sind 14%, unter der nach EU-Kriterien definierten Armutsschwelle lebten.
Prof. Lutz stellte klar, dass Jugendarmut weit mehr ist als nur ein Ergebnis der Familienarmut. Sie sei zwar auch ein Resultat derselben, doch dies sei nicht zwangsläufig. Jugendarmut müsse auch als eine eigenständige Armut von Jugendlichen diskutiert werden, die entweder keinen Zugang zum Erwerbssystem finden oder darin marginalisiert werden und es bleiben. Jugendarmut sei insgesamt das Ergebnis eines Prozesses sozialer Ausgrenzung von Jugendlichen aus bestimmten Lebenslagen, der im Schulsystem beginnt und sich biographisch verlängert.
„Risikoschüler“ im selektiven Schulsystem entdecken und fördern
Dass die hohe Selektivität des deutschen Schulsystems Armut, vor allem Bildungsarmut, bei Jugendlichen verursacht, bestätigte auch Prof. Dr. Christian Palentien in seinem Vortag „Bildung und Jugendarmut“. Der Wissenschaftler der Universität Bremen stellte aktuelle Ansätze der Schul- und Unterrichtsforschung aus dem Bundesland Bremen vor. Die in Bremen stattfindenden und noch ausstehenden Reform wollen vor allem den Jugendlichen Hilfe bieten und Chancen eröffnen, die im bisherigen Schulsystem in Klasse 8 nicht über ein Kompetenzniveau der Grundschule hinaus gekommen sind (sog. Risikoschüler“). Kennzeichen dieser Schüler/-innen sind gering ausgeprägte soziale bzw. soziokulturelle Herkunft; geringe materielle und kulturelle Ressourcen der Elternhäuser. Diese Jugendlichen verfügen in der achten Jahrgangstufe durchschnittlich über eine Lesekompetenz von 23%, eine Mathematische Kompetenz von 25% sowie eine Naturwissenschaftliche Kompetenz von 26,3%.
Ziel der Veränderungen im Schulsystem in Bremen ist es, zum einen den Kreislauf von Benachteiligung zu durchbrechen, zum anderen die „Risikoschüler“ besser zu fördern.
Um „Risikoschüler“ besser zu erkennen und besser zu fördern setzt Bremen an der Lehrerausbildung an und verstärkt deren diagnostische Kompetenzen. Außerdem werden Lehrkräfte verstärkt auf das Thema und zugleich Ziel „Heterogenität“ geschult. Schule soll keine Ausbildung von Eliteeinrichtungen einerseits oder Problemkinder-Schulen andererseits sein.
Für die Kinder werden bereits im Vorschulischen Bereich verstärkt Bildungsangebote vorgehalten. Die Einschulung der Kinder erfolgt nicht zu einem einzigen fixen Termin, sondern abhängig von der individuellen Entwicklung des Kindes zu mehreren Zeitpunkten in einem Jahr.
Die weiterführende Schule findet nur noch in einem zweigliedrigen System statt. Es gibt das Gymnasium, auf dem nach 12 Schuljahren das Abitur absolviert werden kann, und es gibt eine Oberschule, die alle Möglichkeiten für die Jugendlichen offen hält – auch das Abitur; allerdings nach 13 Jahren. Mit der Zweigliedrigkeit des Bildungssystems findet nach dem Jahrgang 4 noch keine Entscheidung für oder gegen ein Abitur statt. Das Profil der Oberschule soll eine Fortführung von Stärken und Interessen im Jugendalter, die im Kindesalter ausgebildet wurden, ermöglichen.
Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
In zwei Workshops wurden Lösungsansätze bzw. Überwindungsmöglichkeiten von Jugendarmut diskutiert. Neben sozialräumlichen Konzepten und Strategien wurde hier auch vor allem die gesundheitliche Prävention in den Blick genommen.
Die Veranstaltung schloss mit einer Podiumsdiskussion, deren Tenor war, Bildung nicht nur als schulische, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzusehen. Dabei dürfe Bildung nicht nur auf einen möglichen wirtschaftlichen Nutzen ausgerichtet sein. Vielmehr sei Bildung als Persönlichkeitsbildung und damit Menschenbildung zu verstehen. Alle Diskussionsteilnehmer/-innen waren sich einig, dass es schulischer Reformen, weiterer Unterstützung durch die Politik, aber vor allem eines Wandels in der gesellschaftlichen Bewertung der Problematik Jugendarmut bedarf.
Teilnehmer/-innen der Podiumsdiskussion waren:
- Sibylle Laurischk (FDP), Mitglied des Deutschen Bundestages, Vorsitzende des Ausschusses Familie, Senioren, Frauen und Jugend
- Prof. Jutta Allmendinger Ph.D, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
- Catherine Milliken, Leiterin der Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker
- Dipl. Ing. Nihat Sorgec, Vizepräsident der türisch-deutschen Industrie- und Handelskammer
- Robin Wagner, Bundesleiter des Jugendrotkreuzes
- Clemens Graf von Waldburg-Zeil, Generalsekretär Deutsches Rotes Kreuz.
Quelle: DRK; Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit