Bildung: ein entscheidender Integrationsmotor

Bildung: ein entscheidender Integrationsmotor Auszüge aus der Veröffentlichung von Marieluise Beck, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration „Moderne Gesellschaften sind pluralistisch, sie sind geprägt von einer Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe. Diese Pluralität hat sich – auch in Deutschland – durch Einwanderung noch verstärkt. So ist schon heute jede fünfte Ehe in Deutschland binational, jedes vierte Neugeborene hat einen Elternteil mit Migrationshintergrund und in den großen Städten kommen bis zu 40 Prozent der Jugendlichen aus Migrantenfamilien – mit steigender Tendenz. Dieser gesellschaftlichen Herausforderung kann eine Ausländerpolitik, die sich in erster Linie ordnungs- und sicherheitspolitisch versteht, nicht mehr gerecht werden. Unser Land steht vor der Aufgabe, mit der gewachsenen gesellschaftlichen Vielfalt umzugehen und sich aufnahmefähig zu machen. Unsere gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstellenmarkt, Arbeitsmarkt, Krankenhäuser und Altenheime müssen in die Lage versetzt werden, diesen Pluralismus produktiv zu nutzen und sich interkulturell zu öffnen. Und vor allem unser Bildungssystem muss den Umgang mit der wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt lernen. In der Wissensgesellschaft hängt die Innovationsfähigkeit entscheidend von Qualifikation, Bildungsstand und Weiterqualifizierung der Bevölkerung ab. Die Bildungsdiskussion der letzten Jahre wurde vorrangig geprägt durch die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien PISA und IGLU. Ihr entscheidender Befund war, dass in keinem anderen Vergleichsland die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen derart vom sozialen Status der Eltern abhängen wie in Deutschland. Offenbar sind die gesellschaftlichen und insbesondere die Bildungsinstitutionen nicht in der Lage, soziale Ungleichheiten so zu kompensieren, dass von Chancengleichheit gesprochen werden kann. Die starke Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft trifft Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in besonderem Maße. Der Aufstieg über eine Bildungskarriere scheitert trotz häufig hoher Bildungsaspiration in den Migrantenfamilien. Vorrangiges Ziel muss es deswegen sein, die Defizite des deutschen Bildungssystems im Ungang mit sozialer und kultureller Heterogenität zu überwinden. Zweisprachig aufwachsende Kinder müssen früh lernen können, beide Sprachen kompetent zu nutzen und brauchen vorschulische Förderangebote. Gemeinsame Bildungspläne für den Elementar- und Primarbereich müssen für einen flexiblen Übergang vom Kindergarten in die Grundschule sorgen. Statt mit Zurückstellungen zu operieren sollte die Deutschsprachförderung schulbegleitend ausgebaut werden. Im Rahmen von Ganztagsschulen sollten Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund gezielter und umfassender gefördert werden. … Auch in der beruflichen Bildung gilt es, die vorhandenen Ressourcen zu nutzen, statt eine verlorene Generation – und damit Langzeitarbeitslose – in Kauf zu nehmen. Gerade die berufliche Qualifizierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verweist auf einen dringenden Handlungsbedarf, denn sie verschlechtert sich seit zehn Jahren. Rund 40 Prozent der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund verbleiben ohne jegliche berufliche Qualifizierung. Besonders prekär stellt sich die berufliche Qualifizierung von jugendlichen Flüchtlingen dar, die lediglich über eine Duldung verfügen. Diesen jugendlichen Flüchtlingen, deren Aufenthalt sich häufig über viele Jahre erstreckt und die oftmals auf Dauer in Deutschland bleiben, muss der gleichberechtigte Zugang zur Ausbildung ermöglicht werden. Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund verfügen noch immer erheblich seltener als Deutsche über formale Berufsabschlüsse. Sie sind erheblich häufiger als un- und angelernte Arbeitskräfte beschäftigt und damit auf untere Positionen auf dem Arbeitsmarkt verwiesen und überproportional häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen bzw. bedroht. Der seit Jahren bestehende Ausbildungsplatzmangel führt zu einer härteren Konkurrenz auf dem Ausbildungsstellenmarkt. Trotz hoher Bildungsmotivation und auch bei teilweise guter Schulbildung sind die jungen Migrantinnen und Migranten oft die Verlierer. Der Zugang zur Berufsausbildung ist nicht nur von den Bildungsvoraussetzungen der Jugendlichen und ihrem Nachfrageverhalten, sondern auch vom Angebots- und Auswahlverfahren der Betriebe abhängig. Vorurteile und Barrieren gegen die Ausbildung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind bei betrieblichen Entscheidungsträgern immer wieder festzustellen. Diese gilt es abzubauen, indem das besondere Potenzial dieser Jugendlichen, ihre zweisprachige und interkulturelle Kompetenz, bei Personalentscheidungen in den Vordergrund gerückt wird. Die höheren Ausbildungschancen der jungen Migrantinnen bei den Freien Berufen sprechen hier eine deutliche Sprache. Erst wenn es gelingt, den Anteil von Migrantenjugendlichen an den Auszubildenden in allen Branchen und Berufen – auch im Öffentlichen Dienst – angemessen zu erhöhen, kann von Chancengleichheit auf dem Ausbildungsstellenmarkt gesprochen werden. .. Wir müssen nach Wegen suchen, die unterschiedlichen Fähigkeiten und Kompetenzen, die Menschen mit Migrationshintergrund mitbringen, anzuerkennen und weiterzuentwickeln. Für die Zukunft entscheidend ist das bildungspolitische Leitmotiv des PISA-Sieger-Landes Finnland: „Wir brauchen hier jeden, hoffnungslose Fälle können wir uns nicht leisten.““

Quelle: http://www.politikerscreen.de/direct.asp?page=/standpunkt/2005/09/50282/

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