„Den Finger in die Wunde legen – Das SGB II und die Folgen für die berufliche und soziale Integration von benachteiligten jungen Menschen“

Dokumentation zum Fachtag ‚Schulabgänger/innen ohne Netz und doppelten Boden? – (Aus-)Bildung trägt.. ‚ am 8. November 2005 in Frankfurt am Main erschienen “ Diakonie und evangelische Kirche wollen Jugendliche für Arbeitswelt fit machen. Dazu sollen die Netzwerke vor Ort gestärkt werden. Das war Inhalt und Ziel der Fachveranstaltung „SchulabgängerInnen ohne Netz und doppelten Boden? – (Aus-)Bildung trägt..“, die im Rahmen der Mitgliederversammlung der BAG EJSA am 8. November 2005 in Frankfurt am Main stattfand. Insgesamt 17 Organisationen unter dem Dach der BAG EJSA, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und dem Diakonischen Werk in Hessen und Nassau waren an der Durchführung und der Begleitausstellung mit guten Beispielen aus der Praxis beteiligt. Mit rund 240 TeilnehmerInnen – überwiegend aus Hessen – erzielte die Veranstaltung eine große Resonanz.“ „Den Finger in die Wunde legen – Das SGB II und die Folgen für die berufliche und soziale Integration von benachteiligten jungen Menschen“ Aus dem Thesenpapier zum Vortrag vom 08.11.2005, Prof. Dr. Claus Reis, FH Frankfurt I. Einleitung Die Folgen des SGB II für die soziale und berufliche Integration junger Menschen können am Besten identifiziert werden, wenn man den Leistungsprozess rekonstruiert, der durch das Gesetz strukturiert wird und diesen mit den faktischen organisatorischen und gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert. Der Leistungsprozess wird ausgelöst durch Inputs in Finanzausstattung und Personal (II). Diese Inputs werden in der Verwaltung in eine Aufbau- und Ablauforganisation umgesetzt („Leistungsangebot“- III). Die Inanspruchnahme der Leistung, die im SGB II aus Geld- insbesondere aber Dienstleistungen (Eingliederungsleistungen) besteht, stellt im letztgenannten Fall eine Ko-Produktion zwischen „Persönlichen Ansprechpartnern“ und Klienten dar (V), weswegen deren „Problemstruktur“ eine hohe Bedeutung für die Anforderungen an den Leistungsprozess zukommt (IV). Die Ergebnisse (VII) können wiederum nicht unabhängig von den Gegebenheiten und Entwicklungen des Arbeitsmarktes betrachtet werden (VI). II. Input Für das Jahr 2005 ist das Gesamtvolumen der Ausgaben für Verwaltung und die Eingliederungsleistungen festgelegt, hier schlägt die gestiegene Fallzahl – im Gegensatz zu den materiellen Leistungen – nur indirekt zu Buche. Das Verwaltungsbudget (§ 46,1 SGB II) beträgt 3,15 Mrd €, das Eingliederungsbudget (§ 46,1 SGB II) 6,35 Mrd €. Die erhöhte Fallzahl erhöht die Fallrelationen, denn an Stelle der ursprünglich geschätzten 3,08 Mio. Hilfeempfänger in 2,27 Mio. Bedarfsgemeinschaften waren es im Oktober 2005 4,7 Mio. in 3,5 Mio. Bedarfsgemeinschaften. Gleichwohl wirkt sich dies kaum auf die Eingliederungsbudgets aus: durch die erschwerte „Anlaufphase“ 2005 wurden die hierfür vorhandenen Mittel bisher nicht ausgeschöpft (im Bereich der Regionaldirektion Hessen bis 11/2005 erst zu 24%). Dies wird sich in Zukunft ändern und dann wird sich zeigen, ob mit den geplanten Mitteln die vorgesehenen „Integrationsquoten“ ohne Qualitätsverlust zu erreichen sind. Im Hinblick auf das Personal ist festzustellen, dass es sich in ARGEn ungefähr zu gleichen Teilen aus Mitarbeitern der Kommunen (meist der Sozialämter) und der Agenturen für Arbeit zusammensetzt, ergänzt durch Mitarbeiter der Personalauffanggesellschaft der Post, „Vivento“, und befristet eingestelltem Personal. Im Hinblick auf die komplexen Aufgaben des Fallmanagements (s.u.) dürften Qualifikationsdefizite bestehen, die durch die bisher nur schwach besuchten Fortbildungen wohl kaum ausgeglichen wurden. III. Leistungsangebot Die für die hier betrachtete Personengruppe entscheidende gesetzliche Veränderung ist die Aufspaltung der Ausbildungsvermittlung in zwei „Rechtskreise“: während im Bereich des SGB III weiterhin die Berufsberatung zuständig ist und die Vermittlung auf freiwilliger Basis erfolgt, gilt für das SGB II die Steuerungskompetenz der „Persönlichen Ansprechpartner“ und das für dieses Gesetz vorgesehene „Sanktionsregime“ (§ 31 SGB II), d.h. die Vermittlung ist verpflichtend, worauf auch der „Leitfaden für ausbildungssuchende Jugendliche“ hinweist. Ein gravierender Unterschied liegt in der Qualifikation: Berufsberater haben an der Fachhochschule der Bundesagentur eine Beraterausbildung erhalten, was nur für einen geringen Teil der z. z. beschäftigten „Persönlichen Ansprechpartner“ zutreffen dürfte. Eine weitere zentrale Festlegung auf gesetzlicher Ebene besteht darin, dass alle Hilfeangebote, auch die nach § 16, Abs. 2, Satz 2, 1.-4. SGB II auf das Ziel „Aufnahme einer Erwerbstätigkeit“ ausgerichtet werden. Ein Merkmal des Gesetzes ist die grundlegende Offenheit in wichtigen strategischen und organisatorischen Fragen. So können die ARGEn (und natürlich erst recht die Optionskommunen) die Struktur von Eingliederungsangeboten nach den §§ 16, Abs. 1 und 3 SGB II selbstständig festgelegt werden (= Spielraum für lokale Eingliederungsstrategien) Auf der lokalen Ebene werden außerdem: strategische Entscheidungen getroffen (Vermittlung von Qualifikationen oder „work first“) Aufbau- und Ablauforganisation definiert, z.B. die Strukturen der Gewährung materieller Leistungen der „Ort“ des Fallmanagements die Einbindung von „Dritten“ das Angebot von zielgruppenspezifischen Leistungen Betreuungsschlüssel und Qualifikationsstrukturen festgelegt. IV. Problemstruktur der Klientel Das SGB II kennt nur eine grobe Zielgruppenorientierung, indem es die unter 25Jährigen im Hinblick auf „Fördern“ privilegiert, in Bezug auf „Fordern“ einem besonders rigorosen Sanktionsregime aussetzt. Dies bedeutet eine hohe Heterogenität der Zielgruppe, gleichzeitig zeigen erste Daten eine Konzentration von Benachteiligten: 67% der unter 25jährigen, die im Juni 2005 SGB II Leistungen bezogen, waren ohne berufsbildenden Abschluss, 25% ohne Schulabschluss. Die Vergleichswerte aus dem „Bildungsbericht für Deutschland“ aus dem Jahre 2003 betragen 13% bzw. knapp 10%. Ein großer Teil der Hilfeempfänger dürfte zudem neben der Arbeitslosigkeit weitere Probleme haben: Eine Untersuchung arbeitloser Sozialhilfeempfänger aus dem Jahr 2004 zeigt, dass unter den 18 bis 25jährigen 33% Schulden und 22% gesundheitliche Einschränkungen haben, 13% vorbestraft waren und 8% Suchtprobleme aufwiesen. Bestimmte Gruppen (z.B. Jugendliche mit Migrationshintergrund) erfahren besondere Benachteiligungen. All dies stellt hohe Anforderungen an Assessment und Beratung. Die Daten zeigen auch, dass in vielen Fällen die aktuelle Arbeitslosigkeit Resultat einer längerfristigen negativen Bildungskarriere ist. Häufig machen gerade „Benachteiligte“ schlechte Erfahrungen mit Schulen und schulischen Lernformen und haben eine „Maßnahmenkarriere“ hinter sich. Dies wiederum stellt hohe Anforderungen an die Hilfeplanung. Betrachtet man weiter die subjektive Seite, so ist zu beachten, dass in der Ausbildung personaler Identität negative Zuschreibungen auf unterschiedliche Weise subjektiv verarbeitet werden, manchmal eher durch Anpassung, manchmal durch Abwehr. Gerde Letzteres stellt hohe Anforderung an die kommunikative Kompetenz der „persönlichen Ansprechpartner. V. Leistungsprozess Im Hinblick auf den Leistungsprozess macht das SGB II auf gesetzlicher Ebene Vorgaben: Es betont in den §§ 3 und 14 SGB II den individuellen Zuschnitts von Eingliederungsstrategien (= Notwendigkeit eines Assessments). Es definiert im § 14, Satz 2 SGB II die Notwendigkeit einer „persönlichen Beziehung“ zwischen „Persönlichem Ansprechpartner“ und Hilfeempfänger. Es setzt die Notwendigkeit des Abschlusses einer Eingliederungsvereinbarung nach § 15 SGB II (i. V. mit §§ 3 und 14 SGB II = logische Notwendigkeit von Zielvereinbarungen und Hilfeplanung). Die Rechtsnatur der Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlichem Vertrag setzt ein kommunikatives „Arbeitsbündnis“ voraus. Dagegen besteht kaum Spielräume bei der Verhängung von Sanktionen (§ 31 SGB II) (= Gefahr, dass Zwang zur „Beratungsmethode“ wird). Um den gesetzlichen Vorgaben zu genügen und angesichts der Problemstruktur der Zielgruppe kommt Problem- und Bedarfsfeststellungen im Leistungsprozess eine besondere Rolle zu. Problem- und Bedarfstellungen werden im Prozess des Fallmanagements an zwei Stellen getroffen: einmal zur Klärung, ob die Bedarfslage so komplex ist, dass das Handlungskonzept Fallmanagement überhaupt indiziert ist, zum zweiten, um ein differenziertes Bild der Ausgangslage eines Klienten zu gewinnen. Für die erstgenannte Funktion wird in der Literatur meist der Begriff des „Screening“ oder auch „Profiling“, für die zweite Funktion der des „Assessment“ verwendet. Das „Screening“ beinhaltet somit das „Zugangsmanagement“ zum speziellen Angebot Fallmanagement, trifft aber noch keine differenzierte Aussage zu Problem- und Bedarfslagen. Demgegenüber geht es im Assessment darum, jeden Klienten als „sozialen Fall“ zu rekonstruieren, um aus dieser Rekonstruktion Probleme erkennen und über deren Lösung nachdenken zu können. Im Rahmen einer ausführlichen Befragung des Klienten wird über dessen Versorgungsdefizite und – wünsche ebenso gesprochen wie über eventuell vorhandene Bewältigungsressourcen. Hierher gehört die Analyse der Stärken und Schwächen in Bezug auf den Arbeitsmarkt, aber auch die Beschäftigung mit Vermittlungshemmnissen (z.B. Suchterkrankungen). Das Assessment ist für den gesamten Prozess des Case Managements von ausschlaggebender Bedeutung, da die hier gesammelten Daten und Informationen die notwendige Voraussetzung für die Erstellung eines bedarfsorientierten individuellen Hilfeplans bilden. Ein Verständnis von Fallmanagement, das an dem gesetzlich formulierten Anspruch individuell zugeschnittener Hilfe festhält, muss sich deshalb mit den Verfahren des Assessment bzw. der Diagnose auseinander setzen, die im Rahmen des Case Work bzw. des Case Management entwickelt wurden. Hier geht es nicht darum, Daten zu sammeln, um die Zugehörigkeit zu „Risikogruppen“ festzustellen oder „Kompetenzprofile“ zu konstruieren, sondern die Daten dienen der Entwicklung von Hypothesen über individuell vorliegende Probleme und Bedarfe, deren Genese und den Ressourcen und Hilfsangeboten zur Bedarfsdeckung. Ein Assessment kann sich nicht darin erschöpfen, Daten abzufragen und zu dokumentieren, sondern beinhaltet einen spezifischen Interaktionsprozess zwischen Fallmanagerin und Klient. Die Bundesagentur für Arbeit hat im Laufe des Jahres 2005 zwei „Leitfäden“ zur Arbeit mit der hier zur Diskussion stehenden Zielgruppe entwickelt, deren Kern standardisierte „Handlungsprogramme“ bilden. Diese Handlungsprogramme basieren auf extrem schematisierten „Profiling“-Verfahren und zielen auf eine Zuordnung in „Kundengruppen“ (Informations-, Beratungs- und Betreuungskunden). Auch wenn die Verbindlichkeit dieser „Leitfäden“ eher fraglich ist, zeigen sie doch eine grundsätzliche Haltung, die an den Ansprüchen und Erfordernissen des SGB II vorbei geht: Das Handlungsprogramm bildet den „Managementzyklus“ nach, verzichtet aber auf intensive Beratung. Durch Verkürzung des Ansatzes entsteht ein Ausgrenzungsrisiko für „benachteiligte Jugendliche“, da deren spezifische Situation nicht erkannt wird. Nur für identifizierte „Betreuungskunden“ mit schlechten Arbeitsmarktchancen und „massiven persönlichen und sozialen Problemen“ ist Fallmanagement vorgesehen. Die Abgrenzung zum Fallmanagement ist unklar. Angesichts dieser Überlegungen der Bundesagentur und in Anbetracht einer eher zweifelhaften Qualifikation der „persönlichen Ansprechpartner“ kommt den bestehenden Einrichtungen der Jugendsozialarbeit eine besondere Rolle als kompetente Kooperationspartner zu. Allerdings ist dabei wichtig, welche Angebote diese Einrichtungen im Rahmen des SGB II für ihre Klientel machen können. Die Struktur der Eingliederungsleistungen für unter 25jährige gibt hier eher zu Skepsis als zu Optimismus Anlass: Bezogen auf die vorhandenen Daten (nur ARGEn) zeigt sich, dass 46.298 Arbeitsgelegenheiten nach § 16, Abs. 3 SGB II nur 2.868 Maßnahmen beruflicher Weiterbildung gegenüberstehen. Auch wenn die Datenlage schlecht ist und – wie gezeigt – der größte Teil der Mittel für Eingliederungsmaßnahmen nicht abgerufen wurde, offenbart sich ein Missverhältnis, das angesichts der Strukturen des Arbeitsmarktes (V) und der Ausgangsbedingungen der Klientel (vgl. III) nicht unterschätzt werden darf. VI. Strukturen des Arbeitsmarktes Der deutsche Arbeitsmarkt weist zu Beginn des 21. Jahrhunderts folgende Strukturen auf: Er ist segmentiert in einen „primären“ und einen „sekundären Sektor“. Auch weiterhin bilden schulische und berufsbildende Abschlüsse die zentrale Zugangsvoraussetzung zum primären Sektor. Im sekundären Sektor häufig sind viele Arbeitskräfte überqualifiziert, d.h. Unternehmen stellen – was angesichts der hohen Arbeitslosigkeit leicht möglich ist – auch für „einfache“ Arbeitsplätze qualifiziertes Personal ein. Hieraus resultieren Konkurrenznachteile für schlecht Qualifizierte. Es gibt zwischen „primärem“ und „sekundärem“ Sektor eine Polarisierung in Lohnhöhe und Stabilität von Beschäftigungsverhältnissen Es ist die dauerhafte Etablierung eines Sektors mit schlecht bezahlten und/oder instabilen Arbeitsplätzen, forciert durch Leiharbeit, zu befürchten. Dies beinhaltet die Gefahr der Prekarisierung von schlecht qualifizierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. VII. Ergebnisse und Wirkungen Naturgemäß kann nach einem ¾ Jahr noch kaum über Ergebnisse oder gar Wirkungen gesprochen werden. Dennoch zeigen erste Daten sowie Entwicklungen aus dem Ausland (USA, Großbritannien) Tendenzen, die zu diskutieren sein werden. In einer ersten „Erfolgsbilanz“ zeigt die Bundesagentur, dass es bis Juni 2005 bei den unter 25jährigen zu knapp 130.000 Abgängen aus dem Leistungsbezug kam. Hiervon waren 46% Abgänge in Arbeit, 19% Abgänge in Ausbildung und 24% Abgänge in Nichterwerbstätigkeit. Auch wenn diese Zahlen aus den genannten Gründen mit Vorsicht zu behandeln sind, muss angesichts der hier diskutierten Problemlage der Klientel die geringe Abgangsquote in Arbeit bedenklich stimmen. Wenn die Qualität der Arbeit der „persönlichen Ansprechpartner“ sich nicht steigert (wobei sie lokal deutlich differiert.) und sich an der Struktur der Eingliederungsmaßnahmen nichts ändert, sind zukünftig folgende Ergebnisse zu befürchten: Es kommt hauptsächlich zu Vermittlungen in schlecht bezahlte Jobs mit hohem Arbeitsplatzrisiko. Die Vermittlung auf den „zweiten Arbeitsmarkt“ (d.h. insbesondere in Arbeitsgelegenheiten nach § 16, Abs. 3 SGB II) ist häufig nicht „Durchgangsstation“, sondern eigenständiges Ziel (mit einem Entlastungseffekt für den Arbeitsmarkt). Es kommt zu vielen „Leistungsbeendigungen“ durch Sanktionen, die insbesondere Benachteiligte treffen. Die Vermittlung in außerbetriebliche Ausbildung bleibt eher die Ausnahme, da sie finanziell sehr aufwändig ist. Allerdings sind die Ergebnisse auch Resultat lokaler strategischer Entscheidungen, somit besteht „vor Ort“ durchaus die Möglichkeit der Einflussnahme.“

Quelle: BAG Evangelische Jugendsozialarbeit, weitere Teile der Tagungsdokumentation befinden sich unter: http://www.bagejsa.de/aktuelles/index.html

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