Offener Brief an Prof. Dr. Pfeiffer ‚Die Jugendarbeit hat sich nicht bewährt‘

OFFENER BRIEF AN PROF. DR. PFEIFFER ‚DIE JUGENDARBEIT HAT SICH NICHT BEWÄHRT‘ Am 20. Januar äußerte sich der bekannte Kriminolge und ehemaliger niedersächsischer Justizminister Pfeiffer in einem Interview in der ‚taz‘ negativ verzerrend zum Arbeitsfeld Kinder- und Jugendarbeit. Die Herren Prof. Dr. Sturzenhecker, Dr. Lindner und Prof. Dr. Scherr sowie viele weitere Unterzeichner üben in einem offenen Brief Kritik. Auszüge aus dem offenen Brief: „… Vor diesem Hintergrund haben wir – WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen aus der Kinder- und Jugendarbeit – Ihre jüngsten, fachlich höchst fragwürdigen und politisch potenziell folgenreichen Äußerungen zur Jugendarbeit in der „Tageszeitung“ vom 20. Januar 2006 mit nur noch fassungslosem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. In Ihren pauschalisierenden und keineswegs durch empirische Forschung gestützten Behauptungen wie „ Die Jugendarbeit hat sich nicht bewährt“, in vielen Jugendzentren gäbe es „nur klapprige Tischtennisplatte(n) und einen gelangweilten Sozialarbeiter“ sowie in der in dieser Pauschalität falschen Einschätzung, dass dort „soziale Randgruppen dominieren“, transportieren Sie populistische Vorurteile. Wir halten Ihre Äußerungen für inakzeptabel, weil Sie – völlig jenseits aller Empirie – öffentlich grassierende Vorurteile bekräftigen und damit dem gesamten Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit Schaden zufügen. … Bereits im Jahre 1999 hatten Sie sich veranlasst gesehen, Jugendzentren als „Brutstätten der Kriminalität“ zu diffamieren … und Sie haben diese Äußerung im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Mai 2002 in Berlin wiederholt. Ihren seit Jahren festzustellenden unsachlichen Negativbewertungen der Kinder- und Jugendarbeit ist entschieden zu widersprechen. Denn erziehungswissenschaftlich fundierte Tatsachen sind : * … Kinder- und Jugendarbeit hat einen eigenständigen sozialpädagogischen und gesetzlich normierten Auftrag… * Die positiven Wirkungen der Kinder- und Jugendarbeit sind durch aktuelle Evaluationen einzelner Teilbereiche (kulturelle, politische und internationale Jugendbildung) belegt… Jugendliche … lernen, Beziehungen konstruktiv zu führen, Konflikte zu bewältigen, mit Differenz umzugehen, Verantwortung zu übernehmen und individuelle Kompetenzen zu entfalten. * Die Kinder- und Jugendarbeit wird im Rahmen der gegenwärtigen Ganztagsschulprogrammatik als unerlässlicher eigenständiger Bildungspartner im Sinne einer „Kultur des Aufwachsens“ nachgefragt und angefordert, auch weil sie besonders in der Lage ist unterschiedliche Jugendszenen zu erreichen und anzusprechen * Die Kinder- und Jugendarbeit befindet sich im Kernbereich gesellschaftlich relevanter Zukunftspolitik, weil sie einer der wenigen verbliebenen Freiräume ist, in dem selbsttätige und selbst bestimmte Aneignung für Kinder und Jugendliche möglich ist… Die Bewältigung dieser Aufgaben wird in Folge eines umfassenden Sozialabbaues und des anhaltenden Verzichts auf eine verantwortungsvolle Jugendpolitik nicht gerade einfacher. Wir bestreiten keineswegs, dass … Optimierungsbedarf besteht – … Dieser Optimierungsbedarf kann aber allein durch gezielte Investitionen, nicht durch pauschale Diffamierungen eingelöst werden. …“ Anlass der Kritik war ein Interview in der ‚Tageszeitung‘, das hier in Auszügen wieder gegeben ist. Das Gespräch für die taz führte Gesa Schölgens. “ ‚Die Jugendarbeit hat sich nicht bewährt‘ … taz:… die NRW-Landesregierung will die Zuschüsse für die Kinder- und Jugendarbeit nicht wie geplant erhöhen. Müsste nicht mehr Geld in die Arbeit fließen? Pfeiffer:… sind die Forderungen teilweise Oppositions-Theater… Außerdem hat sich die Kinder- und Jugendarbeit in der gegenwärtigen Form vielfach nicht bewährt. Wieso nicht? … Statt Geld in Jugendzentren zu stecken, sollten vielfach Ganztagsschulen errichtet und die Sozialarbeiter in die Schulen geschickt werden. Das wäre ein wirksamerer Einsatz von Jugendhilfe. In vielen Zentren dominieren soziale Randgruppen. Da gibt es dann oft nur eine klapprige Tischtennisplatte und einen gelangweilten Sozialarbeiter… Es fehlt an konkreten Konzepten, in der Jugendarbeit wird mehr repariert als vorgebeugt. Eine Ausweitung der Arbeit macht nur dort Sinn, wo elementare Mängel herrschen, etwa im Kindergartenbereich. Wie sollen denn gute Förderung und Kriminalitäts-Prävention aussehen? … In den Kigas muss die Integration der Migrantenkinder verbessert werden, etwa durch eine bessere Durchmischung. Wir sollten es machen wie die Kanadier: Sie reservieren bis zu 20 Prozent der Kiga-Plätze für Migranten. Hilft denn die beschriebene Frühförderung? … In den USA konnten die Sonderschulrate und die Knast-Quote unter den in der Kindheit betreuten Menschen halbiert werden, die Zahl der Drogensüchtigen sank um ein Drittel. Die Kinder bekommen später bessere Jobs und zahlen Steuern, statt arbeitslos zu sein oder in der Psychiatrie zu landen… Ihre Jugendstudie ergab, dass Dortmunder Kinder und Jugendliche zu viel vor dem Fernseher und Computer sitzen. Reicht es, nur die Spielkonsole rauszuschmeißen? Nein. Man muss den Kindern Angebote machen… Tatsächlich unterscheidet sich die Freizeitkultur in Nord- und Süddeutschland voneinander. Im Norden bekommen die Kinder weniger geboten. Hauptschüler sitzen etwa fünf Stunden täglich vor dem Fernseher oder der Spielkonsole… Das ist doch eine absurde, kranke Welt. Was macht der Süden besser? In Städten wie München oder Schwäbisch-Gmünd lernen viel mehr Kinder ein Musikinstrument oder gehen einen Sportverein. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die Dortmunder Familien einen hohen Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern haben.“

Quelle: Prof.Dr. Bebedikt Sturzenhecker taz NRW Nr. 7876 vom 20.1.2006, Seite 2, 118 Interview Gesa Schölgens

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