EIN JAHR HARTZ IV – AUS RECHTSPOLITISCHER SICHT Nach mehr als einem Jahr Hartz IV scheiden sich die Geister. Experten verstehen das Sozialgesetzbuch II als ‚Investitionsgesetz‘ und verweisen auf die mögliche kreative Interpreation der Gesetze auf der regionalen Umsetzungsebene. Andere, wie der Jurist Prof. Dr. Peter Schruth ziehen eine verheerende Zwischenbilanz. In der Öffentlichkeit ist nur ein Punkt im Gedächtnis geblieben: Kürzungen. Der posisitve Ansatz findet sich weder in der Gesellschaft noch in den Medien wieder. Prof. Dr. Schruth beurteilt ein Jahr Hartz IV aus rechtspolitischer Sicht. Auszüge aus dem Vortrag von Prof. Dr. Schruth im Rahmen der Nationalen Impulskonferenz ‚Das Fördern fordern.‘ – Ein Jahr Hartz IV – Praxisimpulse für eine Weiterentwicklung. “ … Nach mehr als 1 Jahr nach Inkrafttreten von Hartz IV, dem Herzstück der als „Jahrhundertreform“ hochgejubelten „Agenda 2010“, fällt die Zwischenbilanz verheerend aus. Dies gilt besonders für das zentrale Ziel, durch „moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ die Zahl der Arbeitslosen innerhalb weniger Jahre zu halbieren… Im Gegenteil: Der Abbau „guter“ sozialversicherungspflichtiger Jobs hält an und wird nur durch den Zuwachs an Mini-Jobs und die Abdrängung von Hunderttausenden in Arbeitsgelegenheiten nach § 16 SGB II notdürftig verdeckt. Wenn überhaupt, dann ist von den Hartz-Reformen allenfalls ein „Jobwunder im perspektivlosen Niedriglohnsektor“ zu erwarten. Selbst dieses liegt jedoch in weiter Ferne, kompensieren doch vielerorts die billigeren Arbeitsgelegenheiten zur Zeit allenfalls die gestrichenen ABM- und SAM-Stellen, die zwar auch befristet waren, aber sich in Status und Bezahlung wenigstens an tariflichen Beschäftigungsverhältnissen orientierten. … Die Arbeitsmarkterfolge der internationalen Vorbilder beruhten gar nicht auf verbesserten Vermittlungsleistungen, sondern setzten bereits vor entsprechenden Reformen ein. Dass mit Organisationsreformen und beschleunigter Vermittlung die Dauer der Arbeitslosigkeit verkürzt und das Volumen der Arbeitslosigkeit halbiert werden könne, sei ohnehin ein Rezept, „das nur in Deutschland verschrieben wird“. Schon grundsätzlich ist fragwürdig, ob es reformpolitisch richtig war, eine Organisationsreform mit einer Programmreform zu verknüpfen. Gemessen an der üblichen und erwartbaren Veränderungsgeschwindigkeit von Institutionen hat die hektische Gleichzeitigkeit von institutionellen Umbauten und neuen gesetzlichen Programmen ein Chaos produziert, das vor allem zu Lasten der sog. „Kunden“ geht … 1. Das Grundverständnis des SGB II Mit der Agenda 2010 und insbesondere dem Sozialgesetzbuch Buch II (SGB II) ist ein neues sozialstaatliches Verständnis, ist gesetzlich ein neu definiertes Arbeitsvermittlungs- und Existenzsicherungsmonopol in Gestalt der Jobcenter der Arbeitsagenturen eingeführt worden. … Marktdruck und soziale Risiken sollen den einzelnen wieder unter Druck setzen. Wer im Falle der Arbeitslosigkeit „zumutbare Arbeit“ nicht annimmt, zeige wenig Gemeinsinn und müsse damit rechnen, dass sein Beitrag zum Gemeinwohl erzwungen werde. Aus der uns als Grundformel Sozialer Arbeit altbekannten „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird mit diesem Selbstverständniswechsel des Staates „Hilfe im Wettbewerb“ um die schnellstmögliche Beendigung der Hilfebedürftigkeit durch entweder nicht und schon gar nicht in dem erforderlichen qualitativen Umfang vorhandene Lohnarbeitsplätze. Zukünftig muss deshalb hauptsächlich um bislang als unzumutbar beurteilte Niedriglohnjobs konkurriert werden, will man seinen materielle Hilfeanspruch gegenüber dem Staat nicht gänzlich auf`s Spiel setzen. 2. Fördern und Fordern Das bisherige Konzept des deutschen Wohlfahrtsstaates beruhte auf Schutzregelungen am Arbeitsmarkt und auf sozialer Sicherung durch Transferleistungen. Dieses Konzept sei … an seine Grenzen gestoßen. Zur Lösung dieses Problems werden unterschiedliche Strategien angeboten: während einerseits durch Erweiterung staatlicher Ressourcen (insbesondere Steuererweiterung, neue Steuertatbestände) an dem Konzept von Transferleistungen im Sozialstaat festgehalten wird, sieht andererseits eine Privatisierungsstrategie die Lösung darin, dass die Bewältigung sozialer Probleme individuell zugeordnet wird. Das Konzept des aktivierenden Sozialstaates versucht, mit den Stichworten des Förderns und Forderns einen Weg zwischen diesen beiden Vorstellungen zu gehen. Das mit den Begriffen „Fördern und Fordern“ verbundene Konzept verschiebt aber mit dem Workfare-Ansatz die bisherigen sozialstaatlichen und sozialrechtlichen Begründungszusammenhänge: Wir kennen aus der Sozialpädagogik durchaus das Fördern und Fordern in freiwillig und selbstbestimmt vereinbarten Aushandlungsprozessen, neu ist, dass dies generell nun staatliche Sozialpolitik definiert. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, die Beeinflussung der Motivation erwerbsfähiger Arbeitsloser sei ein geeignetes Instrumentarium zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit. Damit wird das Problem der Arbeitslosigkeit den Arbeitslosen und nicht der Arbeitsmarktsituation zugeordnet. Stimmig wäre ein solches Verständnis nur dann, wenn der Arbeitsmarkt umfassend aufnahmefähig wäre. … Mit der Betonung von workfare statt welfare haben die Armen in Deutschland im Grunde genommen die Anerkennung ihrer Bedürftigkeit verloren, bedürftig und arm dürfen sie nur sein, wenn sie bereit sind, entsprechende Gegenleistungen (insbesondere den Einsatz ihrer Arbeitskraft) zu erbringen. … Denn hinter den neuen Leitlinien verbirgt sich der Abbau von Leistungsrechten, insbesondere von kalkulierbaren, einklagbaren Geldleistungsansprüchen zur Existenzsicherung, von Abwehr- und Schutzrechten gegenüber staatlichen Eingriffen, indem es keine aufschiebende Wirkung mehr von eingelegten Widersprüchen gegen rechtlich fragwürdige Entscheidungen der Arbeitsagentur gibt. Statt sozialer Rechtsgarantien gibt es nur noch „Chancen“, „Leistungsmöglichkeiten“, über die ein Fallmanager im Job-Center der Agenturen für Arbeit entscheidet. … 3. Institutionelle Neuorganisation nach dem SGB II Zu allem kommen zahlreiche Mängel der Organisationsreform der BA hinzu, die dem proklamierten Ziel der institutionellen Ausgestaltung widersprechen, Dienstleistungen ‚aus einer Hand‘ anzubieten. Stattdessen kamen zu den zwei alten Institutionen (BA und Kommunen) zwei weitere Varianten hinzu: die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) der beiden und die Optionskommunen bzw. -landkreise. … Für die zu ‚Kunden‘ avancierten Arbeitslosen bedeutet dies zumeist organisierte Verantwortungslosigkeit. … Wohlfahrtsverbände, aber auch andere freie, kommunale und selbst private Träger entdeckten mit den Eingliederungsbeihilfen für die ‚Ein-Euro-Jobs‘ eine neue Einnahmequelle und billige Arbeitskräfte – nicht selten zu Lasten der regulär Beschäftigten in den eigenen Einrichtungen oder des lokalen Gewerbes. … 4. Junge Arbeitssuchende im SGB II In besonderer, ja geradezu existenzieller Weise sind junge Arbeitsuchende, wenn sie erwerbsfähig und hilfebedürftig sind, auf die nach dem SGB II geltenden Rechte und Pflichten verwiesen und angewiesen. Junge Arbeitsuchende im Alter zwischen 15 und 25 Jahren unterliegen nach § 3 Abs.2 Satz 1 SGB II einem besonderen Vermittlungsdiktat. Sie sind nach dieser Vorschrift „unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen nach diesem Buch in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln“. … Die Vorschrift zwingt das Fallmanagement, ohne vermeidbaren Zeitverzug irgend etwas in jedem Einzelfall anzubieten. Diese Vorschrift ist eine unbedingte Handlungs-, man könnte auch sagen Aufgabenverpflichtung für das Fallmanagement der Jobcenter, aber sicherlich kein Rechtsanspruch junger Menschen auf einen staatlich vermittelten Ausbildungsplatz und schon erst recht nicht ein Wunsch- und Wahlrecht auf eine bedarfsgerechte Hilfe im Sinne der Jugendsozialarbeit, also dem Vorrang sozialpädagogischer Hilfen zur Vermeidung dauerhafter Desintegrationen in den Einzelfällen, wo die üblichen Angebote des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes ungenügend, nicht ausreichend förderlich wären. … Hilfebedürftigkeit nach diesem Verständnis setzt nicht persönliche Hilfe in Gang, weil die hier gesetzlich angenommene Bedürftigkeit Ausdruck des Unvermögens ist, sich mit eigenen Mittel und Kräften zu helfen, und der daraus resultierende Bedarf eben regelmäßig nur Geldmittel und unverzügliche Vermittlung in irgend eine Lohnarbeit vorsieht. … Insbesondere bei der mit der Jugendsozialarbeit identischen Altersgruppe der 15 bis 25 Jahre alten erwerbsfähigen, arbeitslosen jungen Menschen ist die Sanktionierung nach § 31 Abs.5 SGB II als Druckmittel der Existenzgefährdung geregelt, weil das gesamte Arbeitslosengeld II gestrichen und nur noch Sachleistungen erbracht werden kann. … 6. Rechtliche Fragwürdigkeiten Die Hartz-IV-Reform hat bei den zuständigen Sozialgerichten zu einer ungeahnten Klageflut von bislang 52.088 Verfahren geführt. … Die meisten Fälle … richteten sich gegen die im Einzelfall nicht nachvollziehbare bzw. nicht gesetzeskonforme Anrechnung von Vermögen auf das Arbeitslosengeld-II. Auch gegen die Verrechnung von Partner-Einkünften bei eheähnlichen Gemeinschaften gab es zahlreiche Einwände, was allein deshalb vorhersehbar war, weil der Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft unbestimmt, eng auszulegen und schwierig nachweisbar ist. … Auch sind nach wie vor eine ganze Reihe grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedenken noch nicht ausgeurteilt, weil zu deren Klärung im Einzelfall erst nach Ausschöpfung des Rechtsweges mit der Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden kann. … 8. Sozialstaatliche Sogwirkungen Die neuen Sozialgesetzbücher von Hartz IV haben mit ihrem Paradigmenwechsel auch eine Sogwirkung auf vorbildliche sozialstaatliche Leistungsgesetze bewirkt, gemeint ist insbesondere die Jugendhilfe und dort die Jugendsozialarbeit, gemeint sind die Sozialleistungen der Schuldnerberatung, der Sucht- und Wohnungslosenhilfe. Von der dem SGB II zugrunde liegenden Theorie … sind nämlich nicht nur Arbeitslose, … sondern eine über Jahrzehnte gewachsene Träger- und Angebotsstruktur der Sozialen Arbeit mit entsprechenden Standards, fachlichen und methodischen Prinzipien. Offensichtlich ist, dass die gesetzlichen Selbstverständnisse der Sozialen Arbeit und des SGB II nicht übereinstimmen, sich in tragenden Punkten … sogar diametral gegenüberstehen. Fast wirkt es so, als sei mit Hartz IV ein neuer Sozialstaatsartikel ins Grundgesetz eingefügt worden, der da lautet: Auf soziale Sicherung hat nur Anspruch, wer ohne Widerspruch bereit ist, die zumutbaren Ausgrenzungen des Arbeitsmarktes mittels unzumutbarer Arbeitsgelegenheiten auszugleichen. … Diesem gesellschaftlichen Kontext wird sich Soziale Arbeit – gleichsam als eine Insel der Menschenrechte und Persönlichkeitsorientierung – nicht entziehen können. Die Einpassung der Arbeitsfelder Sozialer Arbeit (insbesondere der Jugendhilfe, …) in diese neue Struktur des Workfare, des aktivierenden Staates hat mit ihrer Ökonomisierung, Standardabsenkung, Infragestellung individueller Hilfebedarfe schon längst begonnen: Entgegen dem gesetzlichen Auftrag verweisen Jugendämter auf die Möglichkeiten der Eingliederungsleistungen nach § 16 SGB II … So kann in der Praxis festgestellt werden, dass durch das Vergabeverfahren … aber auch von der inhaltlichen Seite her zunehmend den Entwicklungsprozess unterstützende Leistungen … aus den Abläufen der Unterstützungsmaßnahmen ausgegrenzt werden. Auch wird in der BA seit längerem diskutiert, dass bei einigen Zielgruppen wohl erst jugendhilfespezifische Angebote notwendig seien, bevor eine arbeitsmarktorientierte Hilfe zum Tragen kommen könne. Welche Impulse braucht es angesichts der vorgetragenen Bewertung des SGB II ? … braucht Impulse, dass Lohnarbeit in den Arbeitsbedingungen und in der Gewährleistung einer materiellen Existenzsicherung dauerhaft menschenwürdig gestaltet wird. … es braucht … den Impuls, bei denen, die nur begrenzt eigeninitiativ sein können, statt der Sanktionsdrohung bedarfsgerechte sozial- und berufspädagogische Angebote in den Vordergrund zu stellen. … brauchen wir Impulse zur Gestaltung der Schnittstellen des SGB II mit den betroffenen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. … dass die Fachvertreter der Fachbehörden für Vermittlung und für sozialpädagogische Angebote mit der freien Wohlfahrtspflege ein praxistaugliches Bedarfsfestellungsverfahren und dementsprechende Förderangebote definieren und festlegen und in die Politik eingeben.“ Die Tagung wurde als Kooperationsprojekt der Fachhochschule Frankfurt am Main, ISR- Institut für Stadt- und Regionalentwicklung, der UNITCONSULTING Group Chemnitz und der GSI- consult Stuttgart gGmbh durchgeführt.
Quelle: Prof.Dr.Schruth, Hochschule Magdeburg-Stendal, Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen