Dokumentation zum Fachforum – Sozialer Zusammenhalt durch interkulturelle Strategien und integrierte Ansätze in benachteiligten Stadtteilen

SOZIALER ZUSAMMENHALT DURCH INTERKULTURELLE STRATEGIEN UND INTEGRIERTE ANSÄTZE IN BENACHTEILIGTEN STADTTEILEN “ Junge Menschen aus sozialen Brennpunkten, insbesondere Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund starten oft mit schlechten Chancen in das gesellschaftliche und berufliche Leben. Die Integration junger Menschen und ihrer Familien mit Migrationshintergrund ist deshalb eine zentrale Herausforderung und Aufgabe für die Städte und Gemeinden. Eine wesentliche Bedeutung im Prozess der Integration kommt der Bildung, insbesondere dem frühzeitigen Erlernen der Sprache und dem Erwerb von sozialen Schlüsselkompetenzen zu. In vielen Städten gibt es hierzu erfolgreiche Initiativen, die auf vielfältigen Formen der Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe, Ganztagsschulen, Kindertagesstätten, Quartiersmanagements, Migrantenorganisationen, Stadtteilzentren und Bewohnerinitiativen beruhen. Solche lokalen Strategien und Ansätze zur erfolgreichen Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund in sozialen Brennpunkten standen im Mittelpunkt des E&C-F achforums, das am 26. und 27. Juni 2006 mit ca. 300 Teilnehmer/innen in Berlin-Neukölln stattfand. Aus einer akteurs- und institutionenübergreifenden Perspektive wurden mögliche Wege zur Entwicklung integrierter Angebote im sozialen Nahraum beleuchtet. Gemeinsam mit Vertreter/innen öffentlicher und freier Träger der Kinder- und Jugendhilfe, kommunalen Akteuren aus Stadtentwicklung, Bildung, Arbeit und Gesundheitsförderung und Fachkräften von Schulen, Kindertageseinrichtungen, Quartiersmanagements und Jugendmigrationsdiensten wurden die Anforderungen an Integrationskonzepte und die Zusammenarbeit vor Ort diskutiert. … Dieter Filsinger gibt einen Überblick über die Entwicklung kommunaler Integrationskonzepte in den letzten Jahren und geht detaillierter darauf ein, welche Steuerungsinstrumente dabei notwendig wären und sich als erfolgreich erwiesen haben. … Die Vorstellungen aus den Foren spiegeln den Beitrag zur Integrationsförderung auf lokaler Ebene aus jeweils unterschiedlicher Akteursperspektive wider. Aus dem Blickwinkel von Jugendmigrationsdiensten, Migrantenorganisationen, Integrationsbeauftragten und Sozialen Diensten werden das eigene Selbstverständnis und die Erwartungen reflektiert, die mit der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren verknüpft sind. Im Anschluss daran sind Beispiele gelungener Praxis dokumentiert in Handlungsfeldern wie Bildung, Gesundheitsförderung, Sprachförderung, Bürgerschaftliches Engagement und Kriminalitätsprävention. … “ Auszüge aus 3 Beiträgen der Dokumentation: * STRATEGIEN ZUR ERFOLGREICHEN INTEGRATION JUNGER MENSCHEN MIT MIGRATIONSHINTERGRUND (Prof. Dr. Dieter Filsinger, Katholische Hochschule für Soziale Arbeit, Saarbrücken) “ 1. Voraussetzungen Über Strategien zur erfolgreichen Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen, setzt eine Vorstellung über „erfolgreiche Integration“ voraus. Man benötigt also eine operationalisierbare Definition von Integration und von Erfolg. Im Kern kann man über Strategien erfolgreicher Integration nur dann kompetent sprechen, wenn (unterschiedliche) Strategien auf ihre Wirkungen hin empirisch überprüft worden sind und sich herausgestellt hat, dass bestimmte Strategien tatsächlich wirksam sind. Von diesen Voraussetzungen sind wir noch recht weit entfernt. Aber dennoch lassen sich einige vorläufige Aussagen treffen. In den hier vor allem in Rede stehenden kommunalen Konzepten dominiert ein pragmatisch-pluralistischer Integrationsbegriff, der mit Begriffen der Teilhabe und Teilnahme operiert. Unter Integration wird die gleichberechtigte Teilhabe an den ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft und die Teilnahme in allen Lebensbereichen verstanden. Teilhabe und Teilnahme sind zunächst streng auseinander zu halten. Teilhabe wird ermöglicht durch Rechte, durch Einbezug in die Funktionssysteme der Gesellschaft. Der Blick ist demnach auf Zugänge und strukturelle Zugangsbarrieren zu richten. Teilhabe ist jedoch nur möglich über handlungsfähige Subjekte. Der Blick ist demnach auf die Motivationen, Aspirationen, Werthaltungen und vor allem auf die Kompetenzen zu richten. Teilhabe hat demnach eine doppelte Voraussetzung: Teilhabechancen und Teilnahmefähigkeiten. … 2. Strategien erfolgreicher Integration … Was mittlerweile vorliegt, ist ein erfahrungsgesättigter Wissensbestand über die Voraussetzungen und die Prozessgestaltung von kommunalen Integrationspolitiken, man könnte sagen, über die Struktur- und Prozessqualität kommunaler Integrationspolitik und Integrationsarbeit. Dazu gehören insbesondere folgende Aspekte: Integration als Querschnittsaufgabe strategische Steuerung, Monitoring, Evaluation und Controlling Förderung von Partizipation und bürgerschaftliches Engagement, einschließlich der Einbeziehung von Migrantenselbstorganisationen Aufbau kommunaler Netzwerke zur Unterstützung von Integrationsprozessen Sozialraumbezug interkulturelle Öffnung von Verwaltung und Institutionen. Neuere Befunde der Migrations- und Integrationsforschung sprechen vor allem dafür, die (Bildungs-)Biographien der jungen Migranten/innen sowie Geschlechter- und Generationenverhältnisse (stärker als bisher) zu berücksichtigen, Maßnahmen für junge Menschen gezielt nach Gemeinsamkeiten in der sozialen Lage zu konzipieren, Strukturfragen in den Mittelpunkt zu stellen, aber kulturelle Fragen nicht zu vernachlässigen und einen bewussten und sorgfältigen Umgang mit Differenz im Sinne einer reflexiven Interkulturalität zu pflegen. … sind auch die Schwerpunkte benannt, auf die sich die Integrationsarbeit konzentrieren sollte: Bildung (insbesondere Sprachvermittlung) und Qualifizierung, Beschäftigung, Wohnen und Sozialraumentwicklung, interkulturelle Öffnung der Regelinstitutionen. Was jetzt ansteht, ist die längerfristige Implementation dieser Konzepte und Handlungsansätze. … Entscheidend ist aber der Perspektivenwechsel, der insgesamt – wenn lokal auch unterschiedlich stark ausgeprägt – erkennbar ist. Dieser ist in dem Potentialansatz zu sehen, der junge Migrantinnen und Migranten auch als ökonomische Ressource begreift, in der positiven Bewertung von kultureller Vielfalt, in einem offenen, pragmatischen aber auch streitbaren Umgang mit Migrantenorganisationen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. … 3. Integrierte Strategien der Sozialraumentwicklung Sozialraumentwicklung kann mittlerweile als zentrales Element kommunaler Integrationspolitiken betrachtet werden, die sowohl die Teilhabechancen der alteingesessenen als auch die der zugewanderten Bevölkerung im Blick haben. Der Begriff des Sozialraums hat eine normative Dimension, d.h. es existieren zumeist implizite Vorstellungen davon, welche sozialräumlichen Gegebenheiten als wünschenswert zu erachten sind, … Betrachten wir den sozialen Raum als Kommunikations- und Interaktionsraum, dann geraten die Netzwerke in den Blick, die sozialen Netze, aber auch die institutionellen Netzwerke, allgemeiner formuliert die Interaktionsverhältnisse. … Der Soziale Raum ist nämlich immer ein soziales Kräftefeld, …, ein Macht- und Entscheidungsraum, in dem es Kämpfe um die Verteilung von Lebensmöglichkeiten gibt. Integration und Segregation, Einschließung (Inklusion) und Ausschluss (Exklusion) sind als soziale Tatsachen zu werten, deren Gestalt und Prozessstruktur jeweils genauer zu studieren sind, um die sozialen Interaktionsverhältnisse bewerten und Interventionen konzeptualisieren zu können, die dann notwendig sind, wenn die Selbststeuerungsfähigkeit des Gemeinwesens nicht mehr hinreichend gegeben ist. … Sozialraumbezug, sozialräumliches Arbeiten gelten als zentrale Prinzipien in der kommunalen Sozialpolitik, in der Sozialen Arbeit und in der Kinder- und Jugendhilfe. Der geradezu inflationäre Gebrauch dieser Begriffe steht allerdings in diametralem Verhältnis zur Realisierung dieses anspruchsvollen und voraussetzungsvollen Konzepts. Sozialraumentwicklung verlangt zuförderst ein längerfristiges, integriertes Entwicklungskonzept und eine längerfristige Entwicklungsstrategie auf der Grundlage einer empirischen Analyse der lokalen Gegebenheiten. … Ein solches Entwicklungskonzept und die dazugehörige Strategie zu entwerfen, ist eine gesamtstädtische Aufgabe, die aber nur unter Beteiligung der lokalen Akteure erfolgreich bewältigt werden kann. … Integrierte Konzepte und Strategien haben sowohl die ökonomische als auch die kulturelle und soziale Entwicklung des Stadtteils bzw. des Quartiers im Blick. Wir sehen mittlerweile genauer, dass jede sozialräumliche Entwicklungsstrategie eine Strategie des Aufstiegs durch Bildung sein muss, die sowohl die schulischen und beruflichen Abschlüsse als auch die Kompetenzen der jungen Menschen im Blick hat. Man braucht vor allem eine Bildungsstrategie. Es genügt nicht, einen Sprachkurs nach dem anderen und Hausaufgabenhilfen durch verschiedene Träger anzubieten, wenn die verschiedenen Initiativen und Angebote nicht in ein übergreifendes Konzept eingebunden sind. … dass es vor allem darum gehen muss, die Bildungsinfrastruktur in benachteiligten Stadtteilen und Quartieren zu qualifizieren. Das heißt im Kern, dass die unterschiedlichen Akteure im Bildungsgeschehen – gleich auf welcher Ebene sie agieren – in eine gemeinsame Strategie eingebunden werden müssen, die gezielt auf Aufstieg ausgerichtet ist und von einem breiten Kompetenzansatz ausgeht. Die Bildungspotentiale in den Familien, in der außerschulischen Jugendarbeit, der Kinder- und Jugendhilfe sind dabei ebenso verstärkt in den Blick zu nehmen, wie die Handlungsspielräume der städtischen Schulträgerschaft, wenn es etwa um die Regulierung des Zugangs zu den Grundschulen geht. … Im Hinblick auf Akteursnetzwerke erscheint die Unterscheidung zwischen „bonding“-Netzwerken (verbindende, grenzerhaltende, homogene Netzwerke) und „bridging-Netzwerken“ (überbrückende, grenzenüberschreitende, heterogene Netzwerke) hilfreich. In der Geschichte der Ausländer- bzw. Migrationsarbeit in Deutschland dominieren „bonding-Netzwerke“. Wenn integrierende Ansätze eine Chance erhalten sollen, dann wird es vor allem um die Herstellung von „bridging- Netzwerken“ mit dem Ziel des (interkulturellen) Kompetenztransfers gehen müssen … 5. Ausblick … Das lokale Problemlösungspotential ist in den letzten Jahren beachtlich gewachsen. Lokale Konzepte und Strategien bedürfen aber zwingend eine der Aufgabe entgegenkommende günstigere ökonomische Entwicklung und eine entgegenkommende staatliche (Sozial-)Politik. Soziale Mobilität und Leistungswille von jungen Migrantinnen und Migranten müssen durch den Abbau struktureller Schranken unterstützt werden. Erforderlich ist vor allem eine Politik, die den Ungleichheitstendenzen im Bildungssystem, auf dem Ausbildung-, Arbeits- und Wohnungsmarkt entgegenwirkt, also eine Sozialpolitik im umfassenden Sinne, die letztlich auch die Teilhabechancen der (benachteiligten) einheimischen Bevölkerungsgruppen verbessert, zumindest aber den sozialen Abstieg vermeidet. Zentrale Strukturfragen der Gesellschaft stehen also weiterhin zur Bearbeitung an. “ * INTEGRATIONSFÖRDERUNG DURCH JUGENDMIGRATIONSDIENSTE (Barbara Graf, Internationaler Bund – Freier Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit e.V., Frankfurt am Main) “ Die … bundesweit rund 400 Jugendmigrationsdienste … unterstützen die Eingliederung junger Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 12 und 27 Jahren. … Die vorrangige Aufgabe der Jugendmigrationsdienste besteht in der individuellen Begleitung der nicht mehr schulpflichtigen Jugendlichen, die neu in die Bundesrepublik kommen und einen Integrationskurs besuchen. Bei migrationsbedingten Problemen oder in Krisensituationen können auch schulpflichtige junge Menschen und solche, die sich schon länger in Deutschland aufhalten, durch den JMD beraten werden. Individuelle Integrationsförderung durch Case Management Kurz nach seiner Einreise wird mit dem jungen Menschen ein individueller Integrationsplan erstellt, bei Bedarf mit Hilfe eines Dolmetschers oder einer Dolmetscherin. Der/die Mitarbeiter/in des JMD und der/die Jugendliche legen gemeinsam kurzfristige Integrationsziele fest. Dabei berücksichtigen sie die persönlichen Stärken, das Lebensumfeld und die langfristige Lebensplanung. Die daraus für beide folgenden Handlungsschritte werden verbindlich verabredet. Der JMD empfiehlt dem jungen Menschen, die für seinen Integrationsprozess sinnvollen und geeigneten Maßnahmen (Integrationskurs, berufsvorbereitende Maßnahme, Ausbildung, Freizeit- und Präventionsangebote, Praktika, Arbeitsaufnahme etc.) und vermittelt ihn/sie an andere Dienste und Einrichtungen. Abhängig von den individuellen Fortschritten werden die Verabredungen in festgelegten zeitlichen Abständen überprüft und angepasst. Während der Integrationskurse übernehmen die Mitarbeiter/innen der JMD die individuelle Beratung der jugendlichen Teilnehmer/innen … Befindet sich der junge Migrant oder die junge Migrantin in anderen Maßnahmen, stimmt der JMD den Integrationsplan und das weitere Vorgehen mit dem entsprechenden Träger ab. Voraussetzung für das Case Management ist die enge Kooperation des Jugendmigrationsdienstes mit allen beteiligten Personen und Institutionen. In erster Linie sind das: – Träger von Integrationskursen, – Regionalkoordinatoren/innen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), – Ausländer-, Sozial- und Jugendämter, – Schulen, – Migrationserstberatungen der Wohlfahrtsverbände, – Träger der Kinder- und Jugendhilfe und der Jugendberufshilfe, – örtliche Beratungsstellen, – Migrantenorganisationen und – Betriebe. Eine herausragende Rolle spielt die Kooperation mit den örtlichen Agenturen für Arbeit bzw. den ARGEn und den zuständigen Persönlichen Ansprechpartner/innen und Fallmanager/innen. Gruppenangebote … Um die Integration in das Gemeinwesen weiter zu unterstützen, sollen nach Möglichkeit auch einheimische Jugendliche einbezogen werden. Inhalte der Gruppenarbeit sind: – Beratung und Informationen zu aktuellen oder zukünftigen Maßnahmen, – Orientierungshilfen im Bildungs- und Ausbildungssystem, – Berufswegeplanung in Kooperation mit der Berufsberatung der Arbeitsverwaltung (Job-Center), – Heranführen an Informationstechnologien (IT), – Ergänzung des Spracherwerbs und – Orientierungshilfen zu gesellschaftlichen und politischen Themen. Auch die Information der Eltern über die persönliche und berufliche Lebensplanung ihrer Kinder wird gefördert. Da sich Mädchen und junge Frauen in anderen Lebenssituationen befinden und andere Interessen haben als Jungen und junge Männer, werden auch geschlechtsspezifische Aspekte bei der Angebotsplanung berücksichtigt. Netzwerkarbeit Die Jugendmigrationsdienste bauen ein Netzwerk mit den für die Integration wichtigen Akteuren auf und erarbeiten mit ihren Kooperationspartnern ein kommunales bzw. regionales Integrationskonzept. Ein erster Schritt dazu ist die Analyse aller Angebote, die es für die Zielgruppe bereits gibt. Die Anlaufstellen und Veranstaltungen werden in einem Sozialatlas zusammengestellt, der den Jugendlichen als „Wegweiser“ dienen kann. Bei Lücken im Angebotskatalog entwickelt der JMD in Abstimmung mit den Netzwerkpartnern Strategien zur Realisierung. … Interkulturelle Öffnung von Diensten und Einrichtungen Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendmigrationsdienste besitzen langjährige Erfahrungen im pädagogischen Umgang mit jungen Migranten/innen. Sie kennen die Jugendlichen und verfügen über fundiertes Wissen über Lebenssituationen, Probleme und Potenziale. Eine Aufgabe der JMD besteht daher darin, ihr Wissen sowohl an die Öffentlichkeit im allgemeinen als auch speziell an andere Einrichtungen, Ämter oder Betriebe weiterzugeben. … Perspektiven Die Anzahl von Jugendlichen, die beraten werden sollen, hat sich seit Öffnung des Programms KJP II.18 für ausländische Jugendliche bedeutend erhöht. Allerdings wird erst in einigen Jahren absehbar sein, wie und wo sich das neue Zuwanderungsgesetz auf den Zuzug junger Menschen auswirken wird. Die jetzt vorhandenen Standorte sollen dann zu einem bedarfsgerechten Netz ausgebaut werden. “ * LOKALE KONFLIKTLÖSUNGSSTRATEGIEN AM BEISPIEL DES MODELLPROGRAMMS „WIR KÜMMERN UNS SELBST“ (Beate Seusing, Soziologin M.A., Mediatorin, Mitarbeiterin der Programmagentur im Modellprogramm „Wir kümmern uns selbst“) “ Gegenstand, Prämissen, Ziele … In Städten und Gemeinden jeder Größenordnung sind Klagen über Kinder und Jugendliche, die sich an öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen oder Orten störend, auffällig, bedrohend oder gar delinquent verhalten, zu vernehmen. Konflikte zwischen verschiedenen Jugendgruppen, aber auch Beschwerden Erwachsener sind häufig die Folge. In den meisten Fällen sind die Konfliktbeteiligten weder in der Lage noch bereit solchen Konflikten frühzeitig zu begegnen bzw. diese selbständig oder unter Einbeziehung der „richtigen“ (zuständigen) Instanz zu lösen. Häufig geht es den Konfliktbeteiligten vor allem darum, die eigenen Interessen zu verteidigen, das (vermeintliche) eigene Recht durchzusetzen. Darum wird die Polizei eingeschaltet, auch wenn der Konflikt (noch) außerhalb ihres Aufgabenbereichs liegt oder ihre Einbeziehung sogar zu einer Eskalation führen kann. Vor diesem Hintergrund entwickelt, erprobt und kommuniziert das Modellprogramm „Wir kümmern uns selbst“ neue Wege zur Lösung von Konflikten im öffentlichen und halböffentlichen Raum, an denen Kinder und Jugendliche beteiligt sind. Den Ausgangspunkt bilden jeweils konkrete, vorhandene Konfliktkonstellationen. Von hier aus zielt das Programm darauf, durch Risikomanagement einer weiteren Eskalation entgegen zu wirken, indem Strategien und Maßnahmen einer frühzeitigen und niedrigschwelligen Konfliktbearbeitung mit den beteiligten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entwickelt werden. Das Modellprogramm geht von der Annahme aus, dass Konflikte eine Vorgeschichte haben, die bei der Bearbeitung einbezogen werden muss. … In die Bearbeitung der Konflikte werden nicht nur die unmittelbaren Konfliktbeteiligten und Vermittler eingebunden, sondern darüber hinaus weitere Personen, die zu der Lösung des Konflikts z.B. aufgrund ihrer beruflichen Zuständigkeit, ihrer Interventionsberechtigung oder ihres Zugangs zu einzelnen Personengruppen beitragen können. … Umsetzung und Umsetzungsstand des Modellprogramms An der Umsetzung des Modellprogramms „Wir kümmern uns selbst“ sind drei Partner beteiligt: die Programmstandorte, die Programmagentur und die wissenschaftliche Begleitung. … Das Modellprogramm „Wir kümmern uns selbst“ wird an sechs Standorten im Bundesgebiet unter sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen umgesetzt. … Partner der Standorte ist die Programmagentur, die … das Programm an den potenziellen Programmstandorten vorstellt und informiert über Anforderungen, Umsetzungen und möglichen Nutzen des Programms und im weiteren Verlauf unterstützt. … Das Deutschen Jugendinstitut (DJI), als dritter an der Durchführung des Modellprogramms beteiligter Partner, führt die wissenschaftliche Begleitung der Erprobung bis zum Ende der Programmlaufzeit im Jahr 2008 durch. Interkulturelle Konfliktlinien im Modellprogramm Im Zentrum des Modellprogramms stehen Konflikte zwischen Erwachsenen und Jugendlichen/Kindern oder zwischen Gruppen Jugendlicher. Diese Konflikte resultieren häufig aus kulturellen Unterschieden, kultureller Abgrenzung. Somit setzt das Modellprogramm an sich – mit seinem Programmgegenstand – an kulturellen Grenzlinien an. Dabei verstehen wir Kulturen als Gemeinschaften mit spezifischen Denk- und Handlungsweisen, die sich nicht allein nach ethnischen, nationalen Kriterien oder Religionszugehörigkeit unterscheiden. Neben diesen Kulturen finden sich weitere Kulturen mit eigenen Lebens- und Sinnwelten: z.B. männliche und weibliche Kultur, verschiedene Jugendkulturen, Alterskulturen. Aber auch jede Institution bzw. Organisation – verstanden als kulturelles Teilsystem – verfügt über eigene Werte, Normen, eine eigene Sprache und eigene Handlungsmuster. Folglich führen kulturelle Unterschiede nicht nur zwischen Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft oder Abstammung zu Konflikten, sondern auch innerhalb der deutschen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen entwickeln Erwachsene und Jugendliche divergierende und häufig auch kollidierende Vorstellungen, Bedürfnisse und Interessen hinsichtlich der Nutzung des öffentlichen Raumes. Die daraus resultierenden Konflikte entstehen in einem Spannungsfeld zwischen öffentlicher Regelsetzung und Grenzüberschreitungen durch die Jugendlichen. Dabei verstehen sich die Erwachsenen als regelsetzende Instanz. Gegen diese Regeln verstoßen Jugendliche … Die Motive für das Verhalten der Jugendlichen können vielschichtig sein. … Da die Jugendlichen nicht über die entsprechenden Ressourcen verfügen, finden sie normalerweise kein Gehör und können ihre Interessen nicht vertreten. Das Modellprogramm zielt darauf, die Jugendlichen an der Bearbeitung und Entwicklung der Lösungen zu beteiligen, indem es ihre Verhaltensweisen als Ausdruck konkreter Bedürfnisse versteht, diese ernst nimmt, und sie zu Partnern bei der Konfliktbearbeitung und Lösungssuche macht. … Grundsätze kultursensibler Konfliktbearbeitung Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus den Zielen und Prämissen des Modellprogramms für die kultursensible Bearbeitung der Konflikte? Welche Grundsätze müssen bei der Arbeit an den Konflikten im Modellprogramm Beachtung finden, damit den beschriebenen Konfliktlinien Rechnung getragen wird? Folgende Grundsätze für die Konfliktbearbeitung lassen sich daraus ableiten: 1. Umfassende Konfliktanalyse Unterschiedliche Konflikte bzw. Konflikttypen erfordern unterschiedliche Handlungsstrategien. Bei der Analyse eines Konflikts ist seine Entstehungsgeschichte genauso zu berücksichtigen wie seine unterschiedlichen Dimensionen und Einflussfaktoren im Umfeld des Konflikts. D.h. bei Konflikten zwischen Gruppen, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen, sind auch soziale Faktoren (Arbeitsmarktsituation, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen), die Wahrnehmung/Wertschätzung durch das Umfeld sowie die Selbstwahrnehmung der Gruppe (z.B. Aussiedler/innen mit deutschem Pass, aber nicht gesellschaftlich anerkannt geringer Einfluss von Jugendlichen auf Entscheidungsprozesse) zu berücksichtigen. 2. Interesse an Konfliktbearbeitung bei den Konfliktbeteiligten Unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgversprechende Bearbeitung von Konflikten ist die Bereitschaft und das Interesse der Konfliktbeteiligten, sich an der Konfliktregulierung zu beteiligen. Selten hat eine ganze Gruppe ein Interesse daran. In einem solchen Fall gilt es, in einem ersten Schritt einzelne Personen, die an einer Regulierung des Konflikts interessiert sind, zu identifizieren und für den Prozess zu gewinnen. Über diese Personen besteht dann im zweiten Schritt die Möglichkeit, auf den Meinungsfindungsprozess in der Gruppe Einfluss zu nehmen. 3. Konfliktbearbeitung auf gleicher Augenhöhe Konfliktbearbeitung „auf gleicher Augenhöhe“ ist eine Grundprämisse des Modellprogramms. Voraussetzung hierfür ist, dass die Interessen der Konfliktbeteiligten wechselseitig anerkannt und als Ausgangspunkt für die Bearbeitung genommen werden. Eine solche Herangehensweise erfordert Respekt vor den Sichtweisen und Interessen der anderen Akteure und Konfliktbeteiligten. Für die gemeinsame Arbeit folgt daraus, dass zur Konfliktbearbeitung Strategien gewählt werden, die allen Beteiligten gleichermaßen Zugang zu der Konfliktbearbeitung verschaffen (konkret: z.B. kinder- oder jugendadäquate Beteiligungsformen wählen). Die Erfahrung zeigt, dass Jugendliche, die sich ernst genommen fühlen, durchaus bereit und in der Lage sind, ihre Bedürfnisse und Interessen zu verbalisieren. 4. Zugang zu Ressourcen angleichen Ungleicher Zugang zu Ressourcen, seien es finanzielle Ressourcen oder auch Macht, schaffen ungleiche Voraussetzungen, die eigenen Ziele zu erreichen. Von Ungleichheit Betroffene nehmen dieses häufig als Diskriminierung wahr, auch wenn diese nicht intendiert ist oder sie ihre (vermeintliche) Ausgrenzung sogar selbst mit herbeigeführt haben. Im Modellprogramm bedeutet Angleichung z.B. Partizipation von Migranten/innen bzw. Migrantenvertreter/innen an der Konfliktbearbeitung. Darüber hinaus schaffen die Beteiligung von Migrantenvertreter/innen in Stadtteilgremien und die bikulturelle Orientierung in Projekten der Jugendarbeit (Mitarbeiter/innen mit entsprechendem kulturellen Hintergrund) die Grundlagen für einen Angleichung des Zugangs zu Ressourcen. Zu beachten ist dabei allerdings, dass auch die Besserstellung einzelner Gruppen, im Sinne einer positiven Diskriminierung, problematisch ist und möglicherweise neue Ressentiments erzeugt. 5. Erarbeitete Lösungen respektieren Das Modellprogramm hat sich zum Ziel gesetzt, auch unkonventionelle Lösungen, die von den Konfliktbeteiligten entwickelt werden, zuzulassen. Konkret kann das bedeuten, dass das eigene Harmoniebedürfnis der Außenstehenden, der Gemeinschaft zurückgestellt, Unterschiedlichkeit ernst genommen und: Separieren geduldet wird. (Auch Erwachsene suchen sich ihre Freunde aus.). Annäherung braucht Zeit und kann nicht erzwungen werden. Jugendliche Gruppen brauchen ihre eigenen Räume, eigene Treffpunkte und die Möglichkeit diese nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. “ Die vollständige Dokumentation des Fachforums vom 26. + 27. Juni 2006 entnehmen Sie bitte dem Anhang.

http://www.eundc.de

Quelle: E & C Newsletter

Dokumente: Integration_junger_Menschen_mit_Migrationshintergrund.pdf

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