Wer nicht Deutsch lernt, der fliegt? Neue und alte Töne in der Integrationsdebatte

NEUE UND ALTE TÖNE IN DER INTEGRATIONSDEBATTE InPact veranstaltete am 1. Juni eine Gesprächsrunde in der mit Gästen gesprochen wurde, wie sie selbst die Diskussion um Integrationsverweigerer und Einbürgerungstests empfinden. Die Thematik ist heute nicht minder aktuell. So ist auch die Dokumentation der Veranstaltung keineswegs „Schnee von gestern“. In der vierten jetzt erschienen Ausgabe der von InPact herausgegebenen Reihe „Integration im Gespräch“ ist die Veranstaltung dokumentiert. Die Gesprächsteilnehmer waren: * Tarek Al-Wazir, Politikwissenschaftler und Fraktionsvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im hessischen Landtag, Offenbach * Mark Terkessidis, freier Journalist, Köln * Carmen López Salaver, Juristin und stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in Rheinland-Pfalz, Koblenz * Nicola Küpelikilinç,Dipl. Psychologin, Offenbach Moderation: Miguel Vicente, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte in Rheinland-Pfalz Auszüge aus der Veröffentlichung der Diskussionsbeiträge im Sinner einer Verlaufsdokumentation: “ Tarek Al-Wazir Ich glaube, dass die Integrationsdebatte in Deutschland, so lange man sie führt, daran krankt, dass sie immer eine „Defizit-Debatte“ ist. Das heißt, wir reden immer nur darüber, was nicht funktioniert und nicht darüber, was sehr gut funktioniert. In Deutschland gibt es 14 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, und diese wohnen nicht alle in Neukölln oder in Dietzenbach oder Offenbach – und selbst diejenigen, die in diesen Städten leben, sind nicht allesamt problembehaftet oder Beispiele für gescheiterte Integration. … Dennoch meine ich, dass wir in mehreren Punkten – trotz Stichworten wie „Rütlischule“ oder „Einbürgerungstests“, bei denen man das Gefühl haben kann, dass wir Rückschritte machen – in bestimmten Punkten auch viele Fortschritte haben, wobei aber noch nicht klar ist, ob diese dauerhaft sind. Ich will das an einigen Beispielen festmachen. In der Auseinandersetzung um die Einführung von Einbürgerungstests in Hessen kommt man zunächst einmal natürlich zu der Frage, welchen Sinn so etwas machen soll, welcher Anspruch und welches Menschenbild dahinter stehen. Allerdings sehe ich allein in der Tatsache, dass es in Begründungen für einen solchen Test aus dem Munde eines hessischen CDU-Politikers hieß, wir müssten uns an den klassischen Einwanderungsländern orientieren – einen enormen Kulturbruch und auch einen Fortschritt. Das Amt für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt, das die Grünen 1989 in einem heftigen Kampf durchgesetzt haben, wird heute von einem CDU-Dezernenten geführt. Er nennt sich zwar Integrationsdezernent, aber das Amt heißt immer noch gleich und arbeitet auch immer noch wie bisher. Wenn man ferner in Nordrhein-Westfalen die Aussagen des dortigen Integrationsministers, Herrn Laschet betrachtet, der unter anderem ja auch sagt, dass die klassische Gastarbeiterpolitik ein Fehler war, da sie nicht auf Integration, sondern auf Erhaltung der Rückkehrfähigkeit gerichtet war, dann sehe ich durchaus, dass wir in vielen Punkten die Möglichkeit haben, Integration in diesem Land nach vorne zu bringen, sofern wir es klug anstellen. Wir müssen uns natürlich auch bemühen, die positiven Beispiele herauszustellen und diese sozusagen zur Normalität machen. … Nicola Küpelikilinç In der Runde hier wurden vorhin die Realitäten der Bevölkerungszusammensetzung in Offenbach, der Frankfurter Innenstadt usw. genannt: zwei Drittel der Menschen mit einem bikulturellen Hintergrund. Ich denke, in vielen Bereichen sind es tatsächlich schon drei Viertel der Menschen, die in irgendeiner Art und Weise mehrsprachig, multikulturell sind. Aber wo spiegelt sich das in den Bildungseinrichtungen wieder? Und noch viel wichtiger: Wo spiegelt sich das in der Ausbildung derjenigen Menschen wieder, die später in diesen Bildungseinrichtungen arbeiten? Dies gilt nicht nur für die Lehrerausbildung, sondern ganz generell. In den Fortbildungen, die ich durchführe, frage ich häufig Erzieherinnen, die gerade zwei Jahre Fachschule hinter sich haben, was sie zu dem Thema „Zusammenarbeit mit Familien aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen“ gemacht haben. „Nichts“ ist sehr häufig die Antwort. … Ein wichtiger Aspekt ist natürlich, dass Menschen mit multikulturellem Hintergrund in diesen Berufen stärker vertreten sind. Noch wichtiger finde ich es aber, dass alle, die in diesen Berufen arbeiten, darin unterstützt werden, kompetent in diesem Bereich zu sein. Das typische Beispiel ist, dass ich mit einem Lehrer oder einer Lehrerin über ein Problem spreche, und sie mir dann erklären: „Wissen Sie, bei türkischen Familien ist das so und so.“ Und wenn ich dann nachfrage, ob sie mit der Mutter darüber gesprochen haben, lautet die Antwort nein. Hier kommen wir wieder auf den Aspekt, der vorhin mit Bezug auf die politische Debatte genannt wurde, der sich auch im Bildungsbereich sehr, sehr deutlich zeigt. Miguel Vicente Bleiben wir noch beim Bildungsbereich. … aus einer Presseerklärung des Lehrerverbands: „Es reicht nicht aus, dass Schulen den Migranten zusätzliche Förderangebote machen.“ Gemeint ist hier Deutsch. „Vielmehr müssen diese Angebote verpflichtend angenommen werden. Es gibt hier eine Hol-Schuld.“ Dann heißt es weiter: „Leider ist aber aus vielen Beispielen bekannt, dass sich manche Migranteneltern weigerten, ihre Kinder an Grund- und Hauptschulen in zusätzliche Deutschkurse oder so genannte Sprachlernklassen zu schicken. Parallelgesellschaft in Deutschland“, das ist der letzte Satz, schlage sich dann eben in der Schulleistung und in einem weit unter dem Durchschnitt liegenden PISA-Wert nieder. Vorher sucht man vergeblich die Frage, was die Lehrerschaft in einer solchen Situation tun könnte. Also wieder die gleiche Leier: Die anderen sind schuld. … Nicola Küpelikilinç … Erfahrung aus zahlreichen Beratungsgesprächen zeigen, dass Migranteneltern die Bildung ihrer Kinder absolut wichtig ist. Jeder Lehrer, der das Gegenteil behauptet, hat eindeutig nicht mit diesen Eltern gesprochen. Natürlich gibt es auch Eltern, die durch ihre soziale Situation und durch schwierige Lebensumstände von der Vielzahl ihrer Aufgaben überfordert sind. Das gibt es, und das wird es auch immer geben. Die Frage, wie kommen wir aus diesem Schuldzuweisungskreislauf heraus, sehe ich als durchaus gerechtfertigt an. Ich erlebe das auch: Einerseits sagen die Lehrer, die Eltern wollen nicht. Andererseits sagen mir Eltern in Beratungsgesprächen, sie sähen in einer deutschen Schule keine Chance für ihre Kinder – was sicher auch nicht produktiv ist. Tarek Al-Wazir … Noch ein Satz zu Integration als Schichtenproblem: Integration hat auch über den Arbeitsmarkt stattgefunden. Das funktioniert nicht mehr in dem Maße wie früher aufgrund des Arbeitsmarktproblems in Deutschland, welches besonders ein Problem der Geringqualifizierten ist. Das gilt natürlich auch für jedes deutsche Arbeiterkind oder jeden Unqualifizierten, aber man kann eine Verschärfung der Problematik feststellen. Wo es früher viel einfacher war, über Arbeit auch seinen Platz in der Gesellschaft und bestimmte Kontakte zu finden, ist dies heute schwieriger geworden. Dies ist kein Integrationsproblem an sich, sondern eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Miguel Vicente … Tun wir uns schwer damit, gegen … Diskriminierung mit den Instrumenten vorzugehen, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, also auch mit rechtlichen Mitteln? Carmen López Salaver … dass wir uns damit sehr schwer tun. Das zeigt ja allein die Tatsache, dass Deutschland zu den letzten Ländern gehörte, die die Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht umgesetzt haben. Natürlich musste auch der Name geändert werden, es durfte nicht Antidiskriminierungsgesetz heißen sondern Gleichbehandlungsgesetz. Das verfälscht natürlich die Diskussion, denn es geht nicht darum, die Leute gleich zu behandeln sondern darum, sie nicht zu benachteiligen. … Ja, ich denke, das ist eines von diesen Tabuthemen: In Deutschland wird aus vielen Gründen diskriminiert, nicht nur aufgrund der Herkunft oder der Staatsangehörigkeit, sondern auch Geschlecht und Alter sind ein Thema. … Die Instrumente zur Bekämpfung der Diskriminierung sind da, es fehlt allerdings die Kultur, Muster der Diskriminierung aufzudecken und zu benennen. Verglichen mit anderen Ländern sind wir Migranten noch viel zu sehr beschäftigt mit unserer aufenthaltsrechtlichen Situation. Wir haben noch nicht den nächsten Schritt einer multikulturellen Gesellschaft gemacht, in der es unter Umständen deutlich wird, dass aufgrund der Herkunft und nicht aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert wird. … Mark Terkessidis … Es wird also mit aller Macht geleugnet, obwohl offensichtlich ist, dass es Diskriminierung gibt. Man fängt hier also ganz unten an, und ich glaube, dass es noch lange dauern wird, bis man in der Lage ist, öffentlich über Diskriminierung zu reden. Ich möchte noch einmal auf die Schule zurückkommen, auch wenn ich denke, dass es nicht um die Schule allein geht, sondern um den großen Kontext, in dem auch aufenthaltsrechtliche Fragen eine große Rolle spielen. Beispiel Rütlischule: Es fand nun eine unglaubliche Debatte über Gewalt an Schulen statt. In dem auslösenden Brief der Lehrer ging es aber gar nicht um Gewalt, sondern darum, dass die Schüler keinen Respekt vor den Lehrern hätten. An der Rütlischule sind sehr viele Kinder arabischer Herkunft, was zunächst einmal nichts zu bedeuten hat. Aber diese Kinder sind alle mit Kettenduldung in Deutschland, d.h. über den Aufenthaltsstatus der Familie wird alle halbe Jahre neu entschieden. Diese Kinder haben keine Perspektive in Deutschland, sie werden möglicherweise mit 18 Jahren abgeschoben. Hier liegt also ein Problem, das mit der Schule nichts zu tun hat, aber sich natürlich belastend auswirkt. Darüber hinaus wird nun wieder viel Geld bereit gestellt für Sprachförderung. Aber alle diese Sprachkurse finden wieder nach dem antiquierten Muster in Sonderklassen mit Nachmittagsunterricht statt, obwohl man genau weiß, dass es falsch ist, die Kinder in der Schule voneinander zu trennen. Ich denke sowieso, dass das Sprachproblem in Deutschland völlig überschätzt wird. Warum gewöhnt sich die Schule nicht einfach daran, dass Kinder eingeschult werden, die nicht perfekt Deutsch sprechen? In Großbritannien, in Kanada, in den Niederlanden gibt es Programme, die die jeweilige Verkehrssprache als Zweitsprache über fünf bis acht Jahre in den Regelunterricht integriert haben, das ist überhaupt kein Problem. … Mark Terkessidis Für meine Begriffe gibt es ein ganz wesentliches Problem in der Diskussion: Die Migranten setzen sich nicht für ihre politischen Interessen ein, es gibt eine unglaubliche Apathie unter den Migranten. Beispiel Einbürgerung: Da gab es dieses Schlupfloch im Gesetz, bis 2000 war es für Türken möglich, nach ihrer Einbürgerung in Deutschland zum türkischen Konsulat zu gehen und sich seinen türkischen Pass wiederzuholen und damit faktisch eine doppelte Staatsbürgerschaft zu besitzen. Diese Gesetzeslücke ist geschlossen worden, und alle, die nach 2000 so gehandelt haben, wurden ausgebürgert. Dieses Signal an die Migranten muss man sich deutlich vor Augen führen. Und dann kommt der Einbürgerungstest. Ich weise noch einmal darauf hin: wenn man sich in Deutschland einbürgern lässt, muss man fünf Jahre Rentenbeiträge gezahlt haben, man muss eine Beschäftigung haben und seine Familie ernähren können, es gibt eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz, und man muss adäquate Wohnverhältnisse nachweisen. Eine Person, die eingebürgert wird, ist also integriert, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel und da sind auch keine Einbürgerungstests notwendig. Das ist wieder so ein Signal, du hast es doch noch nicht geschafft, wir haben noch eine Hürde für dich. Je nach Bedarf wird der Begriff der Integration verändert, von einem politischen zu einem moralischen gemacht. Aber die Leute lassen es sich gefallen. Das liegt z.T. an den vielen Migrantenorganisationen, die sich gegenseitig bekämpfen. Es gibt ja z.B. in Deutschland das gesamte Spektrum der türkischen Parteien. Oder es gibt ein Treffen der Muslime, zu dem die Aleviten nicht eingeladen werden. Man muss hier also auch den Blick auf sich selbst richten und zugeben, dass es an politischer Interessenvertretung mangelt. Das kann man sicher z.T. auch auf die vorhin schon erwähnten Aufenthaltsstatusprobleme zurückführen, aufgrund derer viele Migranten keine deutschen Bürger sind. Aber in den letzten Jahren hat es eine Einwanderungswelle gegeben, und es wird Zeit, dass man selbst in die Offensive geht, nicht nur im Sinne von Dialog, sondern auch von Provokation. Da gibt es einen immensen Mangel auf Seiten der Migranten. … Mark Terkessidis Wie gesagt, ich glaube, dass diese Integrationsdebatte zwei Seiten hat. Auf der einen Seite ist die Erkenntnis, dass sich vieles verändert hat und noch verändern muss. Auf der anderen Seite wird auf alte Mittel zurückgegriffen und ständig an einem System herumrepariert, dass nicht mehr funktioniert. Ich frage mich, wie lange dieser Prozess noch dauern darf ohne dass sich immer mehr Menschen zurückziehen. Ich habe die Befürchtung, dass immer mehr jüngere Leute sagen, „ich will auf keinen Fall Deutscher werden“. Es gibt die Tendenz zur Resignation als Reaktion auf ständige Zurück weisungen, Diskriminierungen, Misserfolge. Die Politik, die hier betrieben wird, ist also nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch gefährlich. … Es gibt einfach Dinge, die geschehen nur unter Druck oder Zwang von oben. Ich kann noch lange mit dem Philologenverband und wem auch immer reden, in Deutschland redet ja jeder bei allem mit. Aber das wird auf Dauer nicht funktionieren, weil jeder Reformversuch am Widerstand irgendeiner Gruppe scheitert. Ich glaube, da braucht es in absehbarer Zeit einen größeren Wurf.“ Die gesamte Schrift erhalten Sie im Anhang.

http://www.inpact-rlp.de

Quelle: InPact Projektgruppe

Dokumente: Integration_im_Gespraech_4.pdf

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