Fachtagung zum Thema „1-Euro-Jobs“

FACHTAG ZUM THEMA ‚1-EURO-JOBS‘ Dr. Uwe Becker, Sprecher des Vorstandes des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland, beleuchtete im Rahmen der Tagung in seinem Vortrag das Arbeitsmarktpolitische Instrument „1-Euro-Jobs“ kritisch und setzte sich in diesem Zusammenhang mit der Rolle der Freien Wohlfahrtspflege auseinander. Zur Diskussion gestellt werden im Folgenden Auszüge aus dem uns nun vorliegenden Vortrag: “ Ein-Euro-Jobs und die Freie Wohlfahrtspflege In ihrem Buch „Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft“ formulieren die Autoren Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt und Monika Burmeister folgendermaßen: „Wer noch vor wenigen Jahren vorausgesagt hätte, dass das die Freie Wohlfahrtspflege im September 2004 beherrschende Thema die Einführung so genannter �Ein-Euro-Jobs’ sei und dass die Verbände sich in einer gemeinsamen Presseerklärung mit der Bundesregierung für deren massenhafte Verbreitung stark machen würden, dem wäre sicherlich wenig Realitätssinn attestiert worden. Die Schnelligkeit und Intensität, in der die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik in der Sozialwirtschaft angekommen sind, ist verblüffend und stellt selbst manchen altgedienten Verbandsvertreter vor erhebliche Probleme.“ Diese von moralischen Zwischentönen inspirierten Zeilen der genannten Autoren treffen in der Tat ein Urteil, das ich zum damaligen Zeitpunkt … geteilt habe. Heute, als Sprecher des Vorstandes des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland und Vorsitzender der Landesarbeitgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen, ist … die grundsätzliche Kritik an diesem Instrument, bei gleichzeitiger Realisierung, dass von den rund 25 Tausend Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung in Nordrhein-Westfalen etwa drei Viertel von Einrichtungen und Trägern der Freien Wohlfahrtspflege vorgehalten werden, … geblieben. Nun ist dieses Spannungsverhältnis in mehrfacher Hinsicht erläuterungsbedürftig … Daher also folgende Anmerkungen: Wenn Theodor W. Adorno in seiner „Minima Moralia“ formuliert: „Es gibt keine Wahrheit im Falschen“, so ist diese rigide Formulierung vielleicht weiterzuführen mit dem Satz: „Aber das Falsche kann der Wahrheit dienen.“ Was ich damit meine: Jenseits der müßigen Frage, was gewesen wäre, wenn die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtpflege zum damaligen Zeitpunkt ihren anfänglichen Widerstand gegen die Einführung dieses arbeitsmarktpolitischen Instruments nicht aufgegeben hätte, nehmen wir die Einführung des Hartz IV-Gesetzes einmal zum Ausgangspunkt der kritischen Betrachtung. Meine These ist, dass die Konzentration der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandentschädigung die Chance bietet, auf Umwegen zu einer richtigen Kurskorrektur der Arbeitsmarktpolitik beizutragen und insofern über das Falsche zu mehr Wahrheit zu führen. Dazu fünf Beobachtungen 1. Zunächst einmal hat die Erfassung aller erwerbsfähigen Personen und Ihre Zuordnung zum SGB II erstmals zu einer realistischen Bilanz des wahren Ausmaßes der Strukturverfestigung am Arbeitsmarkt geführt … … die realistische These ist: Eine hohe Sockelarbeitslosigkeit wird uns auch über die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bevorstehen. Gegen diesen Goliath der Arbeitsmarktlage, wird die Miniatur des David in Form der „Ein- Euro-Jobs“ eklatant deutlich. Gerade einmal durchschnittlich 200.000 dieser Arbeitsgelegenheiten mit einer äußerst geringen Vermittlungsquote in den ersten Arbeitsmarkt offenbaren die Insuffizienz einer Politik, deren „Fordern-und- Fördern“-Vokabular beim ersten Begriff ohne arbeitsmarktpolitischen Effekt stecken bleibt. 2. Dennoch: Die Verfechter der Wahrheitsblendung sind nicht untätig. Statt die mangelnde Effektivität dieses Instruments – zumal mit seiner Paradoxie, einerseits auf den Arbeitsmarkt vorbereiten zu wollen, andererseits aber durch seine Zusätzlichkeit gerade nicht den Charakter von Erwerbsarbeit haben zu dürfen – zuzugestehen, erleben wir gegenwärtig wieder variantenreiche Strategien, unter Ausblendung der Strukturdaten des Arbeitsmarktes, die Verursachung der Misere allein bei Menschen in Arbeitslosigkeit selber zu suchen. … So hat die durch den ehemaligen Arbeits- und Wirtschaftsminister Clement in einer bekannten sonntäglich abends stattfindenden Polit-Smalltalk-Sendung des Öffentlich-Rechtlichen Fernsehens gemachte Behauptung, es gebe eine Missbrauchs-Quote bei Transferleistungsbeziehern von 15 bis 20 Prozent, zunächst die Gemüter erhitzt. Die Vorstellung eines Kollektivs schmarotzerhaft, das Gemeinwohl ausbeutender Arbeitsverweigerer stand im Raum und hat für einige Wochen ein Plausibilitäts-Angebot geliefert, warum es mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit nicht voran geht. Inzwischen ist das – auch wenn medial wesentlich bescheidener transportiert – deutlich zurückgenommen worden. Laut Bundesagentur für Arbeit, liegt diese Missbrauchs-Quote bei maximal 1,2 Prozent, wofür insgesamt 0,2 Prozent der Transferleistungen anzusetzen sind – kein Vergleich also zur Quote der zu unterstellenden Steuerhinterziehung. 3. Ein weiteres Beispiel für das anstrengende dialektische Ping-Pong-Spiel der Wahrheitssuche ist die mehrfach kolportiert These, es gebe eine Masse von Menschen in Arbeitslosigkeit, die ergänzend durch einen „Ein-Euro-Job“, sich der Gemütlichkeit des Sozialtransfers hingeben, also schlichtweg zu bequem sind, eine sozialversicherungspflichtige Arbeit zu suchen, weil der Anreiz zur Arbeitsaufnahme nicht hoch genug ist oder, anders gesagt: der Regelsatz niedriger sein müsse. Demgegenüber veröffentlicht die Hans-Böckler-Stiftung unter Federführung von Irene Becker eine Studie, wonach 2,8 Millionen Menschen ihren rechtmäßigen Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen nicht wahrnehmen. Das sind allein 1,9 Millionen Menschen in Arbeit, deren Situation als „working- poor“ sie dennoch nicht veranlasst, ergänzende Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen hinzu kommen 900.000 Kinder und Jugendliche. … 4. Bereits bei der näheren Charakterisierung der „Ein-Euro-Jobs“ stoßen wir auf ein ambivalent deutbares Phänomen. Nach den Ausführungsbestimmungen der Bundesagentur für Arbeit dienen diese Maßnahmen lediglich der „Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit“, der „Motivation“ und „Steigerung der Belastbarkeit und Produktivität“. Sie setzen also allein bei der Beseitigung der vermeintlich individuellen Defizite an. Entweder ist das zu begreifen als ehrliches Resümee, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sich angesichts der Arbeitsmarktlage nur noch reduzieren lassen auf die pädagogisch ambitiöse Rolle der Vermittlung von Sekundärtugenden. Oder, es ist der fatale Irrglaube, als seien individuelle Defizite – und nicht das strukturelle Defizit des Arbeitsmarktes – Hauptursache für die mangelhafte Arbeitsmarktintegration. … 5. Ein letzter Rundumschlag bemüht die These, dass der Staat sich finanziell zu Gunsten der Arbeitslosen verausgabe. Das ist gar kein inhaltliches Argument mehr, sondern eher ein abstrakt finanzielles – allerdings mit verheerenden sozialpsychologischen Folgen. Die sich hier auftuende Flanke der Legitimations-Anfrage lautet, ob denn angesichts der Kostenexplosion im Sozialtransfer nicht Leistungskürzungen der einzig gangbare Weg sind. … Was wenig thematisiert wird, ist im Gegenzug der berechtigte Hinweis, dass der Bundeshaushalt aufgrund von massiver Steuerentlastung im Bereich der Einkommens-, Körperschafts- und Gewinnsteuer 2005 mehr als 60 Milliarden Euro weniger Einnahmen als im Jahr 2000 hatte. … Die bemühten Argumente, Ursachen der Misere seien ein zu schwaches Fordern, mangelnde Arbeitswilligkeit und Anstrengungsbereitschaft, zu hohe Regelsätze des ALG II, eine kostenträchtige Missbrauchsquote oder schlichtweg eine Überdehnung der Sozialausgaben, obwohl man doch letztlich alles nur denkbare, insbesondere in Form der Arbeitsgelegenheiten tue, um Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln – diese Argumente sind in ihrer Substanzlosigkeit allmählich aufgebraucht, was natürlich Wiederholungstäter nicht davon abhält, sie immer und immer wieder zu benutzen. Nun will ich im letzten Teil auf die möglicherweise auch gewinnbringenden Aspekte hinweisen, warum es auch gewisse Nachvollziehbarkeiten und möglicherweise strategische Vorteile hat, dass die Wohlfahrtspflege im Kontext der „Ein-Euro-Jobs“ engagiert ist. Dazu drei Punkte: 1. Die Vielzahl von Mitarbeitenden der Beschäftigungs- und Qualifizierungsträger sind sehr dicht an der Lebenswirklichkeit der von Arbeitslosigkeit Betroffenen. Insofern sind sie durchaus ernst zu nehmende Berichterstatter über die Aporien des Systems oder über Widersprüche ihrer kleinteiligen Empirie gegenüber den großen medial inszenierten Thesen. Um das systematischer zu erheben, haben wir das Klaus-Novy-Institut unter der Projektleitung von Michael Wiedemeyer für eine wissenschaftliche Untersuchung unserer diakonischen Träger und Einrichtungen angefragt. … Nimmt man die Strukturverfestigung der Arbeitsmarktkrise ernst, dann ist aus verbandspolitischer Perspektive – das ist das Ergebnis nicht nur dieser Untersuchung – jedenfalls nicht die Motivationsschwäche der Betroffenen das Problem, sondern die mangelnde politische Courage, einen steuerpolitischen Kurswechsel zur Finanzierung eines soliden zweiten, auf Dauer geförderten Arbeitmarktes vorzunehmen. Dass wir damit auch vor der wiederum der Wahrheit verpflichteten Frage stehen, wie viel Reichtum wir meinen ungeschoren von sozialer Verantwortung passieren lassen zu können, sei nur am Rande vermerkt. Damit sei nur angezeigt, dass die Mitwirkung am Bestehenden zugleich die erfahrungsgesättigte Basis für die Forderung nach ordnungspolitischer Kurskorrektur darstellt. Insofern ist eine Schnittmenge von Kooperationsleistung innerhalb des sozialstaatlichen Paradigmenwechsels und Anwaltschaftlichkeit durchaus herstellbar. 2. Ein zweiter Aspekt ist noch anzuführen gegen die im Grundsatz richtige Einschätzung, dass auch die Wohlfahrtverbände sich praktisch nach sozialwirtschaftlichen Gesichtspunkten ausrichten müssen. Allein das Ausschreibungswesen mit hart umkämpften Wettbewerbsstrukturen gibt davon ein beredtes Zeugnis. Bei den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege … ist die Motivation der Mitarbeitenden, der eigene Qualitätsanspruch an die Arbeit und das breite Netzwerk auch innerhalb der Kirchengemeinden ein relativer Qualitätsgewinn gegenüber den freigewerblichen Trägern. Mit anderen Worten: Das Bewusstsein, auch innerhalb enger und schlechter werdender Rahmenbedingungen doch noch relativ viel für die Verbesserung der Lebenslage der betroffenen Menschen erreichen zu können, ist die Überzeugung, die für viele sozialpflegerisch tätigen Kolleginnen und Kollegen die intrinsische Motivation aufrecht erhalten lässt. 3. Und drittens: Ich bin schon allein aus theologischer Zuneigung für eine unverzichtbare Beachtung moralischer Ansprüche. Aber versetzen wir uns auch einmal in die Lage Tausender von Mitarbeitenden in den Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften sowie den Arbeitslosenzentren, die ja nicht blind und taub sind für systemkritische Wahrnehmungskompetenz. Will ich denen denn mit Hinweis auf eine Verschlechterung der arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen die Systemverweigerung und damit quasi die „SelbstverHartzung“ empfehlen, damit sie sich anschließend als Arbeitslose bei einem freigewerblichen Träger aus eigener Anschauung für eine Arbeitsgelegenheit zu Verfügung halten? Das kann keiner ernsthaft fordern. Zum Schluss: Die Kritik aus den wissenschaftlichen Reihen der Hochschulbetriebe, dass die Wohlfahrtsverbände in der Sozialwirtschaft angekommen sind, ist berechtigt und muss kritisch nach Wegen suchen lassen, wie beides noch gelingen kann: Kritisch anwaltschaftlicher Protest gegen eine Politik, die Sozialstaatlichkeit einer Neudefinition unterziehen will, durchzuhalten, und gleichzeitig sich nicht auszuschließen von der Mitwirkung an bestehenden Prozessen des Bemühens um soziale Integration – auch unter schlechteren Bedingungen. “ Den Volltext des Vortrages entnehmen Sie bitte dem Anhang.

http://www.fh-duesseldorf.de

Quelle: Dr. Uwe Becker, idw-online

Dokumente: Ein_Euro_Jobs_Endfassung.doc

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