‚Deutsche Zustände‘ – eine Langzeitstudie der Uni Bielefeld zum Umgang der Gesellschaft mit schwachen Gruppen

‚DEUTSCHE ZUSTÄNDE‘ – ERFORSCHUNG GRUPPENBEZOGENER MENSCHENFEINDLICHKEIT Auf zehn Jahre Laufzeit angelegt, erreicht das Forschungsprojekt der Universität Bielefeld »Deutsche Zustände« mit Folge 5 seine Mitte: Seit 2001 führt die Universität Bielefeld die Langzeitstudie durch, um den Umgang mit schwachen Gruppen in dieser Gesellschaft zu analysieren. Dazu werden jährlich 2000 repräsentativ ausgewählte Personen im Rahmen des Projektes „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ befragt. „Wie sehen sie …aus die Deutschen Zustände 2006? Kurz gefasst: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und die Mitte? – Ängstlicher., so Wilhelm Heitmeyer…Ängste sind ein großes Problem. Wenn etwa von Wirtschaftseliten verkündet wird: Wenn die Menschen keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben, gibt es keinen wirtschaftlichen Fortschritt. Das sagt nicht irgendwer, sondern ein Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften. Ein Großteil der Menschen versteht nicht mehr, nach welchen Regeln in dieser Gesellschaft noch gespielt wird. Nehmen Sie die Rekordgewinne bei gleichzeitiger Ankündigung von Massenentlassung… Heitmeyer warnt die Unternehmen vor dem Spiel mit der Angst der Menschen und kritisiert die Politik, die dieses Spiel hinnimmt. Denn Orientierungslosigkeit und Abstiegsangst haben schwerwiegende Folgen für den sozialen Zusammenhalt… Es geht immer darum, die eigene Position in der Gesellschaft zu sichern und eine Zukunft zu entwickeln, eine Zukunft zu haben und sobald die eigene Position in Gefahr gerät, wertet man eher andere ab, um sich selbst auch wieder aufzuwerten.“ Der Hintergrund: Erforschung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit Das Forschungsprojekt fragt danach, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft sowie mit verschiedenen Lebensstilen in dieser Gesellschaft von der Mehrheit wahrgenommen werden und mit feindseligen Mentalitäten konfrontiert sind. Diese Mentalitäten können vielfältige Formen annehmen. Sie entwickeln sich meist schleichend und reichen von subtilen und offenen Abwertungen, manifester Abwehr, verdeckten oder demonstrativen Diskriminierungen, fordernder oder realisierter Ausgrenzung, artikulierter Gewaltbereitschaft bis hin zur Gewalttätigkeit. Im Mittelpunkt steht das, was als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit benannt wird. Neben Fremdenfeindlichkeit und Rassismus werden nach diesem Forschungskonzept auch religiöse Abwertungen, d.h. Antisemitismus und Islamophobie integriert. Zudem sind Vorurteile gegenüber „Andersartigen‘ und „Entbehrlichen‘, d.h. die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen und Behinderten sowie die Demonstration von Etabliertenvorrechten und Sexismus als neun Elemente von offener oder verdeckter Menschenfeindlichkeit einbezogen. Diese Ablehnung und Ausgrenzung richtet sich also nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen Gruppen. Dabei sind wir in der Bundesrepublik mit einer bemerkenswerten Ungleichzeitigkeit konfrontiert. Auf der einen Seite werden von der Politik durchaus Anstrengungen etwa zur rechtlichen Gleichstellung bzw. Anti-Diskriminierung unternommen. Auf der anderen Seite sind deren Effekte offenkundig nicht hinreichend für eine deutliche Veränderung von Einstellungen in der Bevölkerung und für ein besseres Zusammenleben von Gruppen. Das Problem: Die verstörte Gesellschaft „Zwei große Themen bestimmen aktuell die Tagesordnung dieser Gesellschaft: die politischen Dauerprobleme der Arbeitslosigkeit und des Umbaus des Wohlfahrtsstaates sowie die immer wiederkehrende Debatten und Kampagnen um kollektive Identität, Patriotismus und Leitkultur. Die rhetorischen Kämpfe um die technischen Details von so genannten Reformen und die Identitätskampagnen verstellen zugleich den Blick auf die dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen und ihre negativen Folgen, die wir seit dem Beginn unseres Forschungsprojekts 2002 beobachten und die besonders konzentriert auftreten in manchen Gemeinden, (Klein-)Städten, Regionen und Bundesländern, also sozialräumlich verdichtet.“ „Je stärker Desintegrationsprozesse in der Mehrheit einer Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen werden, umso mehr besteht die Gefahr, dass latent immer vorhandene Ideologien der Ungleichwertigkeit zu einem manifesten Faktor für das soziale Klima werden.“ „Insbesondere die Einschätzung, dass immer mehr Menschen an den Rand gedrängt, also desintegriert werden, hat seit 2002 deutlich zugenommen. Dabei gehen diese hohen Werte nicht nur auf jene zurück, die sich ungerecht behandelt fühlen. Ebenso dürften auch jene vertreten sein, die die Entwicklung der Gesellschaft kritisch betrachten, ängstlich in die Zukunft blicken oder auch solche, die politischen Parolen folgen, ohne selbst akut betroffen zu sein.“ Die Analyse 2006 Die diesjährige Analyse „der feindseligen Mentalitäten gegenüber schwachen Gruppen… zeigt drei auffällige Entwicklungslinien: Das Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit mit deutlicher Zustimmung dazu, dass es zu viele Ausländer im Lande gebe und sie nach Hause geschickt werden sollten, wenn die Arbeitsplätze knapp würden, nahm in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Dies gilt auch für die subtile Abwehr jener Gruppen, gegenüber denen Etabliertenvorrechte reklamiert werden. Ebenso hat die Islamfeindlichkeit unübersehbar zugenommen, beispielsweise die generalisierte Ablehnung der Auffassung, dass der Islam eine bewundernswerte Kultur hervorgebracht habe. Beim Antisemitismus ist bemerkenswert: Zwischen 2003 und dem Frühjahr 2006 registrierten wir einen stufenartigen Rückgang der klassischen Facetten des Antisemitismus, wie er sich beispielsweise in der Aussage, dass »Juden zuviel Einfluss haben«, zeigt. Als wir aus Anlass der militärischen Auseinandersetzung zwischen der israelischen Armee und Hisbollah im August eine Nacherhebung durchführten, zeigte sich ein Anstieg auf das Niveau von 2002. Gleichwohl ist dies kein hinreichender Grund, die aktuelle Situation mit der Stimmung »vor 1933« zu vergleichen. Wenn es um den Mentalitätszustand dieser Gesellschaft geht, spielen weniger diejenigen eine besondere Rolle, die sich selbst an den linken oder rechten Rändern des politischen Spektrums verorten, sondern vorrangig fallen die mittleren Soziallagen und ihre Einstellungen ins Gewicht – schon allein wegen ihres Umfanges. Sie gelten bislang als Synonym für Solidität der Lebensweise, Leistungs- und Aufstiegsorientierung sowie Einstellungen ohne extreme Positionen, kurz: als Garant von Normalität und politischer Stabilität. Nun zeigt sich eine sowohl beunruhigte als auch beunruhigende Mitte, denn die Kontrolle über die eigene Lebensplanung und das Reservoir von Anerkennungsmöglichkeiten werden in der Gesamtentwicklung von Desintegrationsängsten und -erfahrungen auch für sie prekär, und feindselige Mentalitäten greifen Platz. Bisher ging man davon aus, dass solche Ergebnisse verstreut über die gesamte Republik zu finden wären, also keine Problemzonen entständen, weil sich zum Beispiel Schwierigkeiten der Platzierung im Arbeitsmarkt und neue Chancen irgendwie auspendelten.“ Nachlassende Integrationsbereitschaft in der Mehrheitsbevölkerung „Die überwiegende Mehrheit der deutschen Befragten (92% in 2006) stimmt der Partizipation von Immigranten zu, dagegen toleriert weniger als die Hälfte der Befragten (44% in 2006) auch den Kulturerhalt und dieser Anteil ist seit 2003 erheblich gesunken. Damit hat in der deutschen Mehrheitsbevölkerung eine deutliche Verschiebung weg von einer verbreiteten Integrationsbereitschaft (von 65,3% in 2003 gesunken auf 43% in 2006) hin zur Forderung nach Assimilation (von 26,2% in 2003 gestiegen auf 49,3% in 2006) stattgefunden… Wer die wirtschaftliche Lage in Deutschland bzw. die eigene finanzielle Situation als eher oder sehr schlecht einschätzt, lehnt den Kulturerhalt von Immigranten eher ab. Vor allem aber für die Bereitschaft, Zuwanderern Partizipation zu gewähren, spielen Konkurrenzüberlegungen eine Rolle. Menschen mit niedrigen Einkommen sprechen sich signifikant häufiger gegen Partizipation aus. Befragte, die ihre eigene ökonomische Situation im Jahr 2006 als schlecht bzw. als schlechter im Vergleich zu 2003 erleben, sprechen sich eher gegen die Partizipation von »Ausländern« aus.“ Deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land Die Analysen zeigen, „dass sich das Ausmaß bei verschiedenen Elementen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit deutlich zwischen Land und Stadt unterscheidet. Die höchsten Zustimmungen zu feindseligen Äußerungen finden wir in dörflichen Gemeinden und Kleinstädten Ostdeutschlands. Besorgniserregend ist das deshalb, weil in Ostdeutschland eine ländlich-kleinstädtische Siedlungsstruktur dominiert. Hinzu kommt, dass mit der Abwanderung von gut ausgebildeten jungen Menschen ein systematischer Selektionseffekt entsteht. Das lässt erwarten, dass sich das Verhalten derjenigen, die bleiben, noch weiter homogenisiert. In den abwanderungsstarken Kommunen und Regionen gibt es einen niedrigeren Bildungsgrad, eine höhere Angst vor Arbeitslosigkeit, ein größeres Gefühl politischer Machtlosigkeit und stärkere mangelnde soziale Unterstützung als in abwanderungsschwachen Regionen. Deutlich ist der Einfluss der Abwanderungsraten auf die feindseligen Mentalitäten: Je mehr Familien-, Arbeitsplatz- oder Ausbildungsplatzwanderer eine Region verlassen, umso niedriger ist das Bildungsniveau und ausgeprägter das Desintegrationsklima… Nimmt man diese Befunde zusammen, dann ergibt sich ein alarmierendes Bild. Einerseits herrschen auf dem Lande ein stärkerer normativer Druck und konformes Verhalten aufgrund höherer Abhängigkeit von der Gruppe – mangels Alternativen. Zum anderen müssen die Effekte der Abwanderung bedacht werden. Das heißt: Die Schwierigkeiten, gegen eine als normal geltende Fremdenfeindlichkeit und andere feindselige Mentalitäten vorzugehen, dürften noch zunehmen.“ Abwärtsdriftende Regionen „Sowohl die Angst vor sozialem Abstieg als auch die vor Arbeitslosigkeit sind in abwärtsdriftenden Regionen signifikant größer. Dieses Ergebnis setzt sich analog fort, wenn man die Orientierungslosigkeit in Zahlen misst. Auf Feindseligkeit stoßen die zugewanderten Fremden gerade in den abwärtsdriftenden Regionen. Angesichts der geringen Anzahl von Fremden in Ostdeutschland einerseits und der besonders großen Zahl abwärtsdriftender Regionen befürchten die Forscher, dass das Diskriminierungs- und Gewaltrisiko zunimmt. Immer wieder neu entstehende, unkalkulierbare Angsträume für Minderheiten sind die Folge, die Bewegungsfreiheiten einschränken.“ Anders als z.B. die letzte Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung bestärkt die Forschungsgruppe aus Bielefeld so auch die gängige These, wonach Fremdenfeindlichkeit und Sympathie für rechtspopulistische Einstellungen vor allem in Ostdeutschland zu finden sind. Zwar liegen auch einige westdeutsche Länder wie z.B. Bayern und Saarland über dem bundesdeutschen Durchschnitt, aber besonders ausgeprägt sind die fremdenfeindlichen Mentalitäten in den ostdeutschen Bundesländern: Wenn man die rechtsextremen Tendenzen, in denen sich solche Entwicklungen politisch zuspitzen, nach Bundesländern aufschlüsselt, zeigt sich, dass die Kombination aus rechtsextrem motivierten Gewalttaten, Propaganda- und Volksverhetzungsdelikten und lokalen wie regionalen Wahlerfolgen etwa der NPD im Osten am auffälligsten ist. „Die Ergebnisse zeigen: Wo solche Problemzonen verdichtet sichtbar werden, geht es auch um die Substanz der demokratischen Ordnung, Demokratieentleerung entsteht. Mehr noch: Probleme können sich zu Strukturen entwickeln, also auf Dauer gestellte Verhältnisse werden, die nicht mehr umkehrbar sein könnten. Deshalb stellt sich die zentrale Frage, wie die politischen und ökonomischen Eliten reagieren.“ “ Christine Müller, Referentin BAG KJS

Quelle: Dietrich, Nadine: Deutsche Zustände Folge 5. Vorgestellt, in: http://www.ndrinfo.de/kultur/buch-tipp/ninfo280.html Heitmeyer, Wilhelm: Deutsche Zustände. Folge 5. Frankfurt/Main 2007. Heitmeyer, Wilhelm: Deutsche Angst. In manchen Gegenden Deutschlands ba

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