NEUE ERWERBSFORMEN: HERAUSFORDERUNGEN FÜR DIE SOZIALE SICHERUNG Mit welcher Form der Arbeitsmarktpolitik kann heute soziale Sicherung für alle Bevölkerungsgruppe erreicht werden? Zur Diskussion gestellt: Auszüge aus einem Artikel von PD Dr. Uwe Fachinger “ In den letzten Jahren sind im Rahmen der strukturellen Änderungen des Arbeitsmarktes zahlreiche „neue‘ Erwerbsformen entstanden – häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf die Entwicklung einer „New Economy‘ hingewiesen. Im Prinzip ist es aber das Ergebnis von zwei „Prozessen‘: 1. der Tertiarisierung und 2. politischer Entscheidungen. Bei der Zunahme neuer Erwerbsformen handelt es sich somit nicht um eine „naturgesetzmäßige‘ Entwicklung, sondern um die gezielte finanzpolitische Steuerung des Wirtschaftsgeschehens, die sowohl die Staatsausgaben als auch die Lohnkosten der Unternehmen reduzieren soll. Ferner trug die Ausnutzung der Liberalisierung des Arbeitsmarktes durch die Arbeitsnachfrageseite zum strukturellen Wandel bei. Auslöser für die zahlreichen wirtschafts-, fiskal-, arbeitsmarkt- sowie sozialpolitischen Maßnahmen waren vermeintlich konstatierte oder tatsächlich auftretende gesamtwirtschaftliche Mängel. Zu diesen gehören vor allem – zu geringes Wirtschaftswachstum, – eine mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit, – fehlende Innovationen, – ungenügende Modernisierung der Wirtschaft sowie – zu hohe Arbeitslosigkeit. Bemerkenswerter Weise fehlen in dieser Auflistung sozial- und verteilungspolitische Aspekte nahezu vollständig. Dieses ist symptomatisch für die Agenda der politischen Akteure, in der distributive Wirkungen zumindest nach Außen hin – mit Ausnahme des Schlagwortes „Generationengerechtigkeit‘ – unbeachtet bleiben. Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass durch die Konzentration auf die aufgeführten Punkte viele damit in enger Verbindung stehende Aspekte der sozialen Absicherung nicht bedacht wurden. Betrachtet man beispielsweise die Maßnahmen zur Reduzierung der Arbeitslosenzahlen, so wird deutlich, dass es an einer ganzheitlichen Sichtweise mangelt und die Interdependenz der sozialen Sicherungssysteme unbeachtet bleibt. Im Rahmen der Umgestaltung der Wirtschaft zur Behebung der erwähnten Mängel haben die neu entstandenen Erwerbsformen nicht etwa die Arbeitslosigkeit in dem erhofften Maße reduziert oder zusätzlich zum Beschäftigungswachstum beigetragen, sondern stattdessen in vielen Fällen existierende Erwerbsformen substitutiert. Besonders deutlich zeigt sich dies im Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit und in der Zunahme selbständig Erwerbstätiger. Dabei haben sich in den letzten Jahren Formen der Erwerbstätigkeit herausgebildet, die die sozialen Sicherungssysteme vor besondere Herausforderungen stellen. STRUKTURELLE VERÄNDERUNGEN DER ERWERBSTÄTIGKEIT Die Änderungen der Erwerbsformen in Richtung auf Beschäftigungsverhältnisse, die in einem Sozialstaat als längst überholt angenommen wurden, betreffen sowohl die abhängige als auch die selbständige Erwerbstätigkeit. Im Bereich der abhängigen Erwerbstätigkeit werden zu diesen Formen die nachfolgend aufgeführten Tätigkeiten gezählt: Werkvertragsarbeitnehmer, Leiharbeit, Zeitarbeit, Niedriglohn-Arbeitsplätze, Mini-Jobs, Midi-Jobs, Niedrig-Lohn Jobs, soziale Arbeitsgelegenheiten, Gleitzonen-Jobs, 1-Euro-Jobs, Vollzeit-Geringverdiener, Geringfügig Beschäftigte, Erwerbstätigkeit in Altersteilzeit, kapazitätsorientierte flexible Arbeitszeit, Job-Sharing, Teilzeittätigkeit, Kurzfristige Beschäftigung, Scheinselbständigkeit. Bei den Bezeichnungen handelt es sich nicht um wissenschaftlich eindeutig definierte und voneinander abgegrenzte Begriffe, sondern eher um ein Bündel von mehr oder weniger zutreffenden Charakterisierungen, die in der wissenschaftlichen Diskussion und in Gesetzen sowie Gutachten oder Expertisen verwendet werden und sich zudem zum Teil auch überschneiden. … AUSWIRKUNGEN AUF DIE SOZIALE SICHERUNG Die Wirkungen des erwerbsstrukturellen Wandels umfassen den gesamten Bereich der Sozial- und Verteilungspolitik. Dies macht eine ganzheitliche, bereichsübergreifende Sichtweise erforderlich. Ohne diese könnten die sich aus der Interdependenz der Systeme – insbesondere deren finanziellen Verflechtungen – ergebenden Effekte nicht berücksichtigt werden. Eine isolierte Betrachtung einzelner Systemkomponenten, wie z. B. die Altersvorsorge oder die Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit, würde zu kurz greifen. Um die durch die strukturellen Änderungen der Erwerbstätigkeit ausgelösten massiven Auswirkungen auf das soziale Sicherungssystem zu analysieren, bietet sich eine Ka-tegorisierung nach Institutionen und Haushalten bzw. Individuen an. Aus individueller Sicht mangelt es den neuen Erwerbsformen vielfach an Elementen der Absicherung gegen die finanziellen Folgen des Eintritts sozialer Risiken. Aus institutioneller Sicht wird die Finanzierungsbasis der sozialen Sicherungssysteme sukzessive schwächer. Institutionelle Aspekte Der strukturelle Wandel der Erwerbstätigkeit – Reduzierung der Anzahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sowie eine Reduzierung der Bemessungsgrundlage beispielsweise durch eine Teilzeittätigkeit, eine geringfügige Beschäftigung oder Midi-Jobs – hat geringere Beitragseinnahmen zur Folge. Den durch die Aufgabe oder Reduzierung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit bewirkten Beitragsausfällen stehen allerdings nicht notwendigerweise Ausgabenreduzierungen gegenüber. Dies würde nur dann zutreffen, wenn die Personen aus dem System ausscheiden und ihre Ansprüche vollständig verlieren. Dies ist jedoch nur bedingt der Fall und unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Sozialversicherungssystemen. … Gesetzliche Rentenversicherung Im Vergleich zur GRV ist bei der Arbeitsförderung der Zusammenhang zwischen Ausgaben und Einnahmen direkter. Da eine freiwillige Weiterversicherung im Prinzip nicht möglich ist, reduzieren sich einerseits die Beitragseinnahmen, andererseits aber auch – nach einer Übergangsfrist – die sich aus den Beitragszahlungen ableitenden Ansprüche. … Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass, soweit die Sozialversicherungssysteme die Individuen nicht mehr erfassen, bei Eintritt eines sozialen Risikos die entsprechenden nachgelagerten Sicherungsinstitutionen zumindest für die Existenzsicherung aufkommen müssen. Insgesamt gesehen herrscht eine zur Zeit in ihrem eigentlichen Ausmaß nicht bekannte institutionelle Finanz-, aber auch Leistungsverflechtung, die von den politischen Entscheidungsträgern bewusst herbeigeführt worden ist. So können die Sozialversicherungssysteme als „Verschiebebahnhöfe‘ … und zur verdeckten Entlastung der öffentlichen Haushalte verwendet werden. Bisher sind diese multiplen Wirkungszusammenhänge nur selten Gegenstand der sozial- und verteilungspolitischen Forschung gewesen. Ausnahmen für derartige Analysen bilden u. a. Gawel (1995), Jacobs (1995), Schmähl (2006) oder Henke/Schmähl (2001). Ferner erschwert diese Verflechtung die mikroökonomische Verteilungsanalyse – wer wird entlastet, wer belastet? Individuelle Aspekte Die neuen Erwerbsformen stellen dann ein Problem aus sozialpolitischer Sicht dar, wenn die Erwerbstätigen nicht oder nur geringfügig gegenüber den materiellen Konsequenzen des Eintritts von sozialen Risiken abgesichert sind. Bei Aufnahme einer freiberuflichen selbständigen Erwerbstätigkeit im Anschluss an eine Ausbildung oder die Änderung des Beschäftigungsverhältnisses, z. B. bedeutet der Wechsel von einer sozialversicherungspflichtigen abhängigen Beschäftigung zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit als Werkvertragsnehmer teilweise den Verlust einer Absicherung gegenüber den materiellen Folgen des Eintritts eines sozialen Risikos. … Während die niedrigen Einkommen der neuen Erwerbsformen die Vorsorgefähigkeit beeinträchtigen, wird insbesondere durch die Art und Weise, wie über das soziale Sicherungssystem diskutiert wird und ein Schreckensszenario nach dem anderen publikumswirksam durch Massenmedien verbreitet werden, die Vorsorgebereitschaft der privaten Haushalte beeinflusst. Meinungsumfragen zu den sozialen Sicherungssystemen dokumentieren hier einen mittlerweile beachtlichen Vertrauensverlust. Nun besteht die Vorstellung, der Kombination von mangelnder Vorsorgebereitschaft und geringer Vorsorgefähigkeit könnte man durch einen Versicherungszwang entgegentreten und eine entsprechende Absicherung bewirken. Dies setzt allerdings die Erfassung des jeweiligen Personenkreises voraus … Durch die Zunahme von Personen, die nicht oder nur teilweise vom sozialen Sicherungssystem erfasst werden, stellt sich die Frage nach einer adäquaten Absicherung gegenüber den materiellen Folgen des Eintritts dieser Risiken. In der ökonomischen Diskussion dominieren diesbezüglich die allokativen Aspekte. Distributive Analysen der Sozial- und Verteilungspolitik fehlen bis auf wenige Ausnahmen. So ist nach wie vor unklar, welche Formen privater Vorsorge eine umfassende Absicherung der sozialen Risiken ermöglichen und welche Ziele durch eine ausschließlich private Absicherung – ohne dass der Staat als Ausfallbürge auftreten muss – gewährleistet werden können. Die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen dienten dazu, den Unternehmen „billigere‘ Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen – gestützt von dem Argument der zu hohen Lohnkosten und der gebetsmühlenartig wiederholten Forderung nach der Aufrechterhaltung bzw. Herstellung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und der nichttragbaren Belastung durch den demographischen Wandel. Die sozialpolitischen Folgen wurden nicht berücksichtigt. Es handelt sich einmal mehr um eine Politik, die die Interdependenz der Systeme – hierzu gehört auch das Fiskal- und Sozialsystem – bewusst ausgeklammert und die distributiven Folgen bei der Entscheidungsfindung unberücksichtigt gelassen hat. … So ist beispielsweise zu fragen, ob die unsteten Beschäftigungsverhältnisse auch zu instabilen Einkommens- und Vermögensverhältnissen führen und damit zu einer Zunahme der Einkommensmobilität beitragen. Ferner ist unklar, welche Folgen dies für die Bedarfdeckung haben wird, zumal diese auch durch die instabilen Bedarfgemeinschaften Änderungen unterworfen sein können. “ Kontakt: PD. Dr. Uwe Fachiner Zentrum für Sozialpolitik – Universität Bremen Barkhof, Parkallee 39 28209 Bremen e-Mail: ufach@zes.uni-bremen.de
http://www.zes.uni-bremen.de
Quelle: Zes Report Nr. 1, 2007 Zentrum für Sozialpolitik – Universität Bremen