DIE THEMATISIERUNG DER POLITIK WIRD MEHR ODER WENIGER GROSSZÜGIG NICHT ALLZU ERNST GENOMMEN Auszüge aus einem Artikel von Joachim Detjen (aus Politik und Zeitgeschichte) zur Diskussion gestellt: “ Seit einiger Zeit bereitet ein alles andere als neuer, aber lange wenig beachteter Sachverhalt den Verantwortungsträgern der politischen Bildung erhebliche Sorgen: Ein Segment der Gesellschaft, das sich großenteils aus den unteren Sozialschichten zusammensetzt, scheint sich ihren Bemühungen weitgehend zu entziehen. Die Angehörigen dieser Schichten verfügen in der Regel über niedrige Bildungsabschlüsse. Ihr Fernsehkonsum ist deutlich höher und deutlich weniger anspruchsvoll als der von Angehörigen höherer Schichten. Sie sind politisch uninformiert, sozial wenig engagiert, partizipatorisch passiv und deshalb für die politische Bildung kaum ansprechbar. Die Kinder dieser Milieus fallen durch Sprachbarrieren, Lernschwierigkeiten, schlechte Schulleistungen und häufig durch abweichende Verhaltensweisen auf. … Empirische Studien weisen immer wieder nach, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und politischem Interesse gibt. Nach wie vor ist es besser gebildeten Jugendlichen vorbehalten, sich als politisch interessiert zu charakterisieren. Man kann sogar davon sprechen, dass sich das politische Interesse von besser gebildeten Eltern auf ihre Kinder sozial vererbt. … Das niedrige Bildungsniveau der Bildungsfernen korreliert demgegenüber mit Sprach- und Gesprächsarmut sowie einer eher niedrigen politischen Urteilskompetenz. Das geringe politische Interesse resultiert aus nur sporadisch vorhandenem Wissen über Politik … Auf niedrige Bildungsabschlüsse folgen häufig unsichere berufliche Karrieren und prekäre Lebenslagen. Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensverhältnissen führt wiederum häufig zu Unzufriedenheit mit der Demokratie sowie zu Distanz gegenüber dem Gemeinwesen. Je unsicherer die Zukunft erscheint, desto mehr wird die Politik abgelehnt. Zweifellos ist die politische Stabilität eines Landes gefährdet, wenn einem erheblichen Teil seiner Bürgerinnen und Bürger der Staat fremd bleibt und Apathie sowie antidemokratische Ressentiments verbreitet sind. Dieser Prozess bahnt sich möglicherweise früh an, so dass die politische Bildung der Problemgruppe der Desinteressierten Aufmerksamkeit schenken sollte, denn man darf einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft nicht für die Demokratie verloren geben. Lebensauffassung und Bildungsverhalten bildungsferner Milieus Um die Einstellungen bildungsferner Jugendlicher besser verstehen zu können, bietet es sich an, sie aus der Perspektive sozialer Milieus zu betrachten … Der Milieu-Ansatz ist ein taugliches Instrument zur Identifizierung von Zielgruppen der politischen Bildung. Das Heidelberger Sinus-Institut unterscheidet insgesamt zehn soziale Milieus. Der unteren Mittelschicht bzw. der Unterschicht rechnet es drei Milieus zu: Traditionsverwurzelte, Konsum-Materialisten und Hedonisten. Die beiden letztgenannten Milieus bilden aus mehreren Gründen besonders wichtige und schwierige Adressaten der politischen Bildung. So liegt der Altersschwerpunkt dieser Milieus unter 30 Jahren. Weiterhin machen sie jeweils etwa elf Prozent der Bevölkerung aus. Ihr Wachstumspotenzial weist aber über diese Anteile hinaus. Das Bildungsverhalten der Angehörigen der beiden Milieus ist ausgesprochen passiv und stellt für schulische wie außerschulische Bildungsträger große Herausforderungen dar. … Konsum-Materialisten verhalten sich gegenüber politischen Themen, die sie nicht persönlich-materiell betreffen, sehr distanziert – mit einer Ausnahme: Es erscheint ihnen sozial opportun, wenigstens ein Mindestmaß an Informationen über aktuelle politische Probleme sowie ein Grundwissen über Politik zu besitzen. Zweck dieses Wissens ist es, in der sozialen Umgebung mitreden zu können, um mit diesem Wissen zu beeindrucken und anerkannt zu werden. Konsum-Materialisten rechtfertigen ihr mangelndes Interesse an umfassender politischer Bildung mit dem Argument, dass viele politische Themen sie nicht persönlich beträfen. Außerdem koste die Bewältigung des Alltags so viel Kraft, dass man sich nicht auch noch um Dinge kümmern könne, die keinen unmittelbaren Einfluss auf das eigene Leben hätten. Wenn man Angebote der politischen Bildung wahrnehmen solle, müsse ein praktischer persönlicher Nutzen erkennbar sein. Interessant sind daher Themen, die einen starken Bezug zum eigenen Leben und Auswirkungen auf die finanzielle Situation haben. Dies trifft beispielsweise auf die Renten-, Steuer- und Gesundheitspolitik zu. … Bei der Vermittlung politischer Themen ist die Verständlichkeit besonders wichtig. Die eingesetzten Medien dürfen nicht überfordern oder gar Wissensdefizite bewusst machen. Fachbegriffe und Fremdwörter sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Komplex aufbereitete Informationen evozieren Gefühle von Frustration und Unvermögen. Schließlich sollen Medien unterhaltsam sein. Politische Bildung darf nicht anstrengen, sie soll nebenher erfolgen und im optimalen Fall Spaß machen. Hedonisten messen fundiertem Wissen in der politischen Bildung nur geringen Wert zu. Das Interesse an politischer Bildung ist allenfalls rudimentär entwickelt. Wenn sie politische Themen rezipieren, dann zielt dies nicht auf die Bildung einer eigenen Meinung, die man auch vor anderen vertreten würde. Sie fühlen sich fremd und unsicher in dem jenseits ihrer Interessen liegenden Feld gesellschaftlicher und politischer Themen. … Das Bildungsverhalten von Konsum-Materialisten und Hedonisten wirkt wie ein unüberwindbares Hindernis für die Erfüllung des öffentlichen Bildungsauftrages der politischen Bildung. … Politische Mündigkeit ist aus Sicht des Einzelnen Bedingung für erfolgreiches Handeln in der Öffentlichkeit. Aus Sicht des Gemeinwesens ist sie unerlässlich für die Weiterentwicklung einer demokratischen politischen Kultur, darüber hinaus für die Stabilität des freiheitlichen Staates. … Auswege aus dem Bildungsdilemma Die politische Bildung muss sich auf die relativ geringe Informationsaufnahme und die mangelnden Informationsverarbeitungskapazitäten der Angehörigen bildungsferner Schichten einstellen. Sie muss einen Weg finden, der sowohl die Psychologik dieser Adressatengruppe als auch die Sachlogik der Politik berücksichtigt. … Eindeutig auf die Psychologik fixiert sind Anregungen, die eine Anpassung der eingesetzten Medien an bildungsferne Zielgruppen vorschlagen. … Eine Mischung aus wenigen bzw. kurzen Texten und vielen eingestreuten Bildern gilt als zielgruppenadäquat. Empfohlen wird weiterhin, die Informationsvermittlung mit einem hohen Unterhaltungswert zu verbinden. Schließlich soll in inhaltlicher Hinsicht der Aspekt des praktischen Alltagsnutzens für die Zielgruppen beachtet werden. Ebenfalls auf die Motivationsdefizite bildungsferner Jugendlicher bezieht sich der Vorschlag, Veranstaltungen mit Eventcharakter, also Konzerte, Festivals oder sportliche Wettkämpfe, für die politische Bildung zu nutzen. Es wird zugestanden, dass solche Veranstaltungen keinen unmittelbaren Zusammenhang mit klassischen politischen Kontexten haben, zugleich aber hofft man, ‚dass an den Rändern dieser Treffen jenen Praktiken Raum gegeben wird, die die Befähigung zur demokratischen Partizipation erhöhen. … Eine weitere Idee greift die Einbindung von Sozialarbeit und Jugendhilfe in die politische Bildungsarbeit auf. Mit Hilfe von Methoden aus der Erlebnis-, Theater- und Medienpädagogik sollen Jugendliche für soziales Verhalten sensibilisiert werden. … Ebenso zu den vorrangig die Psychologik berücksichtigenden Empfehlungen gehört das Konzept der so genannten vorpolitischen politischen Bildung, welches eine kompensatorische Empowerment-Strategie verfolgt. Zielmarke ist die Erhöhung des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls. Die Erwartung ist, dass auf dem Fundament eines persönlichen Kompetenzbewusstseins die Ausbildung sozialer und partizipatorischer Kompetenzen weniger unwahrscheinlich ist. Ferner wird vorgeschlagen, politische Bildung auf die so genannte Lebenshilfe zu konzentrieren. Dahinter steht die Überlegung, dass bildungsferne Jugendliche sich nur dann mit Aussicht auf Erfolg ansprechen lassen, wenn man an ihre Bedürfnisse und Präferenzen anknüpft. … Völlig anders als die bisher vorgestellten Konzepte ist der Vorschlag beschaffen, auch für bildungsferne Zielgruppen Politik in das Zentrum der politischen Bildung zu stellen. Ausdrücklich orientiert sich dieser Vorschlag an der Sachlogik der Politik. Die Psychologik der Lernenden kommt insofern zur Geltung, als eine Elementarisierung der politischen Inhalte postuliert wird. Die Vermittlung zentraler politischer Sachverhalte müsse so vorgenommen werden, dass sie von breiten Schichten der Bevölkerung verstanden werden könnten. Die komplizierte Materie müsse in Einzelelemente aufgegliedert und mit viel Anschaulichkeit, Phantasie und Kreativität dargestellt werden. … Im Mittelpunkt müsse die Darstellung der Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehen. Darf politische Bildung auf die Thematisierung von Politik verzichten? … Trotz des schwierigen Publikums der Bildungsfernen gibt es gute Gründe, an einer politischen Bildung festzuhalten, die sich nicht vor einer Thematisierung der Politik und der Vermittlung der Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates scheut. Denn nur eine diese Leistung erbringende politische Bildung trägt dazu bei, dass die politische Ordnung in den Verständnishorizont der jungen Generation rückt. “ Den Artikel aus der Beilage zu der Zeitung „Das Parlament“ erhalten Sie im Volltext über angegebenen Link.
http://www.das-parlament.de/2007/32-33/Beilage/001.html
Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu ‚Das Parlament‘)