Debatte um die Grüne Grundsicherung und ein umfassendes Konzept zur Armutsbekämpfung

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LEGEN NEUES KONZEPT FÜR EINE GRUNDSICHERUNG VOR Die Fraktionsarbeitsgruppe ‚Grüne Grundsicherung‘ erarbeitet gegenwärtig ein umfassendes neues Konzept für eine Grüne Grundsicherung. Die Fraktionsberatungen stehen kurz vor dem Abschluss. Ihre Arbeit bereits beendet hat die Parteikommission zur Zukunft der sozialen Sicherung. Auf der Grundlage eines Fundaments gemeinsamer Ziele und Wertvorstellungen stehen sich zwei Alternativen gegenüber, das Konzept eines ‚partiellen‘ Grundeinkommens und der Vorschlag für eine Grundsicherung. Auszüge aus ‚Die grüne Grundsicherung – Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit‘: “ Die grüne Grundsicherung – Aufbruch zu neuer Gerechtigkeit I. DIE GRÜNE GRUNDSICHERUNG: ermöglicht Teilhabe – schafft Arbeit – überwindet Armut Die soziale Herausforderung ist enorm. Die Folgen der Globalisierung, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, sinkende Bildungschancen für wachsende Teile der Bevölkerung, steigende Kinder- und Altersarmut und die Risiken des demografischen Wandels drohen die Spaltung in unserer Gesellschaft zu vertiefen. Rasanter als je zuvor wächst die Kluft zwischen den Menschen, die Arbeit haben, und jenen, die den Anschluss verlieren – oder nie den Zugang finden konnten. An vielen zieht der Aufschwung vorbei. … Es droht die dauerhafte Spaltung in Gewinner und Verlierer: die Spaltung des Landes in jene, die „produktiv“ sind und einer Erwerbsarbeit nachgehen und jene, die sich überflüssig fühlen und von der Gesellschaft nicht gebraucht. * Neuer Aufbruch – gegen die Spaltung der Gesellschaft … Das Modell der Grundsicherung besteht aus zwei Elementen, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen: – einer Existenzsicherung, die Armut tatsächlich verhindert, und – der Garantie auf Teilhabe – durch Zugang zu Arbeit sowie zu den öffentlichen Gemeinschaftsgütern in den Bereichen Bildung, Betreuung, Gesundheit und Mobilität. … Die Gesellschaft kann nicht auf die Kompetenzen und Potenziale ihrer Bürgerinnen und Bürger verzichten. Sie darf niemanden aufs Abstellgleis schieben. Soziale Absicherung muss so organisiert sein, dass sie die Voraussetzung einer selbst bestimmten Lebensführung unterstützt und nicht behindert. … * Regelsatz anheben – Existenz sichern Armut grenzt aus und zeigt sich besonders im Mangel an Bargeld und Vermögen. Der derzeitige Regelsatz des Arbeitslosengelds II deckt das soziokulturelle Existenzminimum nicht ab. Um Armut zu verhindern, muss der Regelsatz deutlich angehoben werden – wir … gehen von einem Betrag von 420 Euro im Monat aus. Auch wenn die Hartz-Reformen sinnvolle und gute Ansätze enthalten, so ist ihre praktische Umsetzung doch mit einer tieferen Spaltung der Gesellschaft einhergegangen. Die versprochene Balance zwischen Fordern und Fördern wurde nicht eingehalten. … *Ursachen der Armut bekämpfen Armut ist aber auch der Mangel an Möglichkeiten, eigene Talente und eigenes Können zu entwickeln und einzusetzen. … Wenn wir die Ursachen der Armut bekämpfen wollen, müssen wir den Zugang zu Bildung, unterstützenden Strukturen und Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Als Vorbild dient das Erfolgsmodell der skandinavischen Länder. … * Selbstbestimmung ermöglichen – Türen öffnen … Der ermutigende Sozialstaat investiert in die Bildung aller Kinder und öffnet somit allen die Tür zur Welt. Er verwandelt die Schwächen der Migrantinnen und Migranten in Stärken, indem er die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum fördert. Er qualifiziert und unterstützt gerade die Schwächsten der Gesellschaft. Der Mensch ist ein soziales und politisches Wesen und nicht bloß der in Gewinnen und Verlusten denkende homo oeconomicus. … Eine wirkliche Existenzsicherung – und damit ein erhöhter Regelsatz – ist eine unabdingbare Voraussetzung für Teilhabe. Doch die grüne Grundsicherung beinhaltet eine viel weiter gefasste Teilhabegarantie für alle in der Gesellschaft. Mit dieser Teilhabegarantie wollen wir die Entstehung von Armut verhindern und mehr Gerechtigkeit schaffen. Entscheidend für den sozialstaatlichen Aufbruch sind Investitionen in die Gemeinschaftsgüter, zu denen alle Zugang erhalten müssen. … * Teilhabe garantieren – Hilfen vernetzen … Die Teilhabegarantie, die wir brauchen, umfasst den Zugang zu fördernden Institutionen und Instrumenten, den rechtlich verbindlichen Zugang zu Gemeinschaftsgütern und sozialen und kulturellen Angeboten, zu Orten und Räumen der Befähigung und Bildung. Der Aufbau solcher Strukturen setzt eine bessere Vernetzung von staatlicher, professioneller, familiärer und bürgerschaftlicher Unterstützung voraus – einen welfare mix als neues sozialpolitisches Miteinander. … * Grundeinkommen? Den Staat nicht aus der Verantwortung entlassen Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das eine breit angelegte Alimentierung ohne Gegenleistungen verspricht, unterstützt die Tendenz zum Abbau öffentlicher Infrastruktur. Es besteht die Gefahr, dass der Staat sich aus der Verantwortung die Teilhabe aller zu gewährleisten zurückzieht – und stattdessen auf die Verantwortung der Individuen verweist. Ein Staat, der sich vor allem auf die groß angelegte Umverteilung von Geld konzentriert, wird kaum Ressourcen haben, die Selbstbestimmung und Teilhabe seiner BürgerInnen zu befördern. Der Aufbau einer umfassenden Bildungs-, Vorsorge- und Befähigungsstruktur kommt damit zwangsläufig zu kurz, denn auch hierfür sind zusätzliche Mittel von rund 60 Mrd. Euro notwendig. Wenn wir aber Armut nicht nur lindern, sondern zukünftig auch vermeiden wollen, haben Investitionen in gute Infrastruktur und öffentliche Angebote für Kinder und Erwachsene höchste Priorität. Grundeinkommensmodelle federn lediglich die Ungerechtigkeit einer gespaltenen Gesellschaft ab, aber sie beseitigen nicht deren Ursachen. Die dauerhafte und bedingungslose Alimentierung von Menschen kann für einen politischen und gesellschaftlichen Ablasshandel missbraucht werden, der schnell zur organisierten Ruhigstellung ganzer Bevölkerungsgruppen führt. Das sind Schwachstellen aller Grundeinkommenskonzepte, die die grüne Grundsicherung vermeidet. Sie bekennt sich zur Verantwortung der Gesellschaft, wenn es darum geht, das soziale Leben gerecht zu gestalten. * Jeder Mensch ist anders – Unterstützung individuell gestalten Gerade in einer Zeit, in der die Individualisierung der Lebensverhältnisse nicht mehr zu übersehen ist, kann es nicht eine Antwort für alle geben. … II. DIE GRÜNE GRUNDSICHERUNG GEWÄHRLEISTET TEILHABE * 1. ERWERBSARBEIT – der Schlüssel zur Teilhabe Zugang zu Erwerbsarbeit ist auf absehbare Zeit unverzichtbar für die eigenständige Existenzsicherung. … Wir teilen die These vom Ende der Erwerbsarbeit nicht. … Die Anstrengungen, die jetzt vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzten zu integrieren, dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden. Viele unserer Nachbarländer zeigen, dass dies möglich ist. Mit der Einführung von Mindestlöhnen, unserem Progressiv-Modell zur Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich und besseren Hinzuverdienstmöglichkeiten wollen wir die Rahmenbedingungen für existenzsichernde Arbeit verbessern. … * Mindestlöhne gegen Lohndumping … Wir fordern Mindestlöhne, auch damit faire Rahmenbedingungen für den Wettbewerb geschaffen werden. Es muss eine allgemeine Mindestlohnschranke geben, unter die niemand fallen darf. Nur so ist eine Entwicklung umzukehren, in der immer mehr Arbeitgeber versuchen, sich auf Kosten der Allgemeinheit vor der Zahlung eines angemessenen Lohns zu drücken und das Arbeitslosengeld II als flächendeckenden Kombilohn missbrauchen. … * Kleine Arbeitseinkommen entlasten Viele Menschen mit geringen Qualifikationen in einfachen Tätigkeiten können von ihrem Arbeitseinkommen nicht leben. Mitverantwortlich dafür sind die hohen Lohnnebenkosten, die kleine Einkommen überproportional belasten. … Mit dem grünen Progressiv-Modell wollen wir die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal absenken, und sie ähnlich wie bei der Steuer langsam progressiv ansteigen lassen. Was bei der Steuer als gerecht empfunden wird – kleine Einkommen: geringe Steuern große Einkommen: hohe Steuern – soll auch für die Sozialversicherungsbeiträge gelten. … Zur Finanzierung des Progressivmodells brauchen wir rund 6,5 Milliarden Euro im Jahr. Dafür wollen wir einen Teil der Mittel aus der Mehrwertsteuererhöhung verwenden. * Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit In Deutschland beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern bei gleichwertiger Arbeit auch 50 Jahre nach Abschluss der Römischen Verträge im Schnitt 26 Prozent. … in … frauentypischen Berufen ist die Bezahlung so niedrig, dass Frauen sehr häufig zusätzlich Transferleistungen in Anspruch nehmen müssen, obwohl sie Vollzeit arbeiten. Bündnis 90/Die Grünen fordern ein Ende dieser gravierenden Lohnunterschiede. … * Mit individueller Hilfe zum neuen Job Es gibt viele Gründe, warum Menschen nur schwer wieder Arbeit finden … Deshalb brauchen wir eine Arbeitsagentur, die nicht nach “Schema F“ handelt, sondern gemeinsam mit den Arbeitsuchenden an Lösungen arbeitet. … Im besten Falle entsteht … eine Teamatmosphäre, in der Vermittler und Erwerbsloser den gemeinsamen Erfolg suchen. Es gibt bereits gute Erfahrungen mit Jobcentern, in denen dieses Verständnis von Vermittlung umgesetzt wird. Von diesen Erfahrungen sollten wir lernen und profitieren. Zwar bietet das vorhandene arbeitsmarktpolitische Instrumentarium eigentlich die Grundlage für eine maßgeschneiderte individuelle Förderung … Aber trotz dieser guten Voraussetzungen gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf: Das Angebot zur Weiterbildung muss qualitativ und quantitativ ausgeweitet werden, besonders für Jugendliche und ältere ArbeitnehmerInnen. Jugendliche sollen vor allem die Möglichkeit bekommen, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine Ausbildung zu machen. … 2. TEILHABE durch Zugang zu Bildung und Gemeinschaftsgütern … * Bildung und Betreuung … Qualifikation und soziale Herkunft haben in Deutschland stärkeren Einfluss auf die Beschäftigungs- und Lebenschancen als in den meisten anderen OECD-Staaten. Bildungsarmut wird hierzulande quasi vererbt, die Bildungs- und Lebenschancen hängen von der Qualifikation und dem sozialen Status der Eltern ab. Häufig bestimmt das Bildungsniveau der Eltern die Bildungschancen der Kinder. Diese skandalöse Abhängigkeit der Zugangschancen von der sozialen Herkunft muss beendet werden. Wir brauchen die Talente und die Kreativität von allen. Deswegen müssen wir von Anfang an in Bildung investieren: in Krippen und Kitas, Schulen, Hochschulen und das lebenslange Lernen. … * Schulen Damit alle Kinder ihre Talente entwickeln können, muss das sozial hoch selektive Schulwesen grundlegend reformiert werden. Künftig sollen individuelle Förderung und gemeinsames Lernen im Mittelpunkt der Schulpädagogik stehen. Nach den erfolgreichen skandinavischen Vorbildern wollen wir eine Schule etablieren, in der Kinder bis zum 10. Schuljahr gemeinsam lernen können und in der ihre Verschiedenheit als Chance für alle genutzt wird. Dafür brauchen wir mehr Ganztagsschulen. … * Lebenslanges Lernen … Es gibt nicht mehr die eine passgenaue, spezialisierte, dauerhafte Erstausbildung. Kontinuierliche Weiterqualifizierung ist unerlässlich, und sie muss sowohl an den Anforderungen der Arbeitswelt als auch an den persönlichen Zielen und Interessen des Lernenden ausgerichtet sein. … Um die Quoten anderer Länder in der Weiterbildung zu erreichen, muss in Deutschland ein qualifiziertes System der Bildungsberatung verankert werden. Wir müssen die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen verbessern – mit dem Ziel, Anreize für neue Bildungsphasen nach Schule und (Erst-)Ausbildung zu geben. … Für die erforderlichen Verbesserungen müssen schätzungsweise sechs Milliarden Euro jährlich veranschlagt werden. … 3. TEILHABE durch eine gesicherte Existenz Alle Angebote und Versprechen zur Teilhabe werden allerdings zum Hohn, wenn die materielle Existenz nicht gesichert ist. Deshalb ist eine Existenzsicherung, die Erwachsenen und Kindern das soziokulturelle Existenzminimum garantiert, ein Kernelement des grünen Konzepts. Wir verstehen die Existenzsicherung als einen Rechtsanspruch, nicht als Almosen. … * Regelsatz auf 420 Euro erhöhen Die Erhöhung des Regelsatzes auf diesen Betrag kostet im Jahr rund 9,5 Milliarden Euro zusätzlich. * Existenz von Kindern sichern Kinder sind in Deutschland ein Armutsrisiko und häufig Grund für die Bedürftigkeit von Familien. Beim Kinderzuschlag für GeringverdienerInnen soll deshalb die Einkommensgrenze erhöht und der Umfang der Leistungen an den Bedarf angepasst werden. Wir wollen das Antrags- und Bewilligungssystem vereinfachen. Dadurch werden deutlich mehr Kinder vom Kinderzuschlag profitieren. Auch die Kinder von ALG II-EmpfängerInnen wollen wir besser unterstützen. Der derzeitige Regelsatz für Kinder in Höhe von 60 bzw. 80 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen wird den eigenständigen Bedürfnissen von Kindern nicht gerecht. Die Regelsätze für Kinder müssen nach kindgerechten Maßstäben und mit transparenten Indikatoren ermittelt werden. … Darüber hinaus sollen auch Sachleistungen zu einer optimalen Entfaltung und Entwicklung von Kindern beitragen. Die Übernahme von Kosten für die Schulmahlzeit, den Nahverkehr, die Bibliotheken und für den Sport- oder Musikunterricht erreichen Kinder aus ärmeren Familien oft zielgenauer als Geldleistungen. … * Gleiche Grundsicherung für AsylbewerberInnen Nach wie vor liegen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz noch unter dem Sozialhilfeniveau. Diesem Missstand gilt es endlich zu begegnen. Wir wollen, dass AsylbewerberInnen sowohl die Grundsicherung für sich als auch für ihre Kinder in gleicher Höhe wie andere Bedürftige erhalten. Außerdem sollen sie leichter eine Arbeitserlaubnis bekommen können. 4. Finanzierung Teilhabe für alle gibt es nicht zum Nulltarif, die grüne Grundsicherung kostet Geld. Die von uns in diesem Papier überschlägig benannten Kosten für die Investition in Gemeinschaftsgüter, institutionelle Transfers und bessere individuelle Transfers machen deutlich, dass wir dafür höhere steuerliche Realerträge benötigen. Insgesamt müssen wir Ausgaben in Höhe von mindestens 60 Milliarden Euro gegen finanzieren. Unser erster Ansatz zur Finanzierung besteht darin, Steuerschlupflöcher zu schließen, Steuerflucht und Steuerhinterziehung endlich konsequenter zu bekämpfen. Im Rahmen des zweiten Teils der Föderalismusreform fordern wir deshalb auch eine bundeseinheitliche Steuerverwaltung. … Steuererhöhungen, die die Steuerflucht dramatisch erhöhen, würden das Finanzierungsproblem verschärfen statt es zu lösen. Wir halten allerdings die Erhöhung der privaten Einkommensteuer unter voller Einbeziehung privater Kapitalerträge für sinnvoll. Der Spitzensteuersatz soll auf 45% steigen. Einkommen aus Vermietung und Verpachtung müssen realistisch ermittelt werden. Beides erbringt jährlich etwa Mehreinnahmen von 7 Mrd. €. Der Umbau des Ehegattensplittings zu einem Realsplitting erbringt schätzungsweise fünf Milliarden Euro. Der steuerliche Beitrag der Vermögen ist in Deutschland besonders niedrig. Mit einem Teil der bestehenden Einnahmen aus der Mehrwertsteuer wollen wir das Progressivmodell finanzieren. Außerdem treten wir dafür ein, die ökologische Finanzreform fortzusetzen und dabei die Verbindung ökologischer und sozialer Ziele ins Zentrum zu rücken. … “ Das Papier ‚Die Grüne Grundsicherung‘ steht als Download im Anhang oder unter aufgefürtem Link zur Verfügung.

http://www.markus-kurth.de/show/762892.html

Quelle: Bundestagsfraktion Bündis 90/Die Grünen, Markus Kurth

Dokumente: 071019_bericht_gruene_grundsicherung_endfassung_oaem.pdf

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