Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen/männlichen Jugendlichen

STUDIE IM AUFTRAG DES BMBF Die Studie deckt im Wesentlichen Forschungslücken auf und trägt dazu bei, Handlungsansätze zu entwickeln, um mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zu bewirken. Weiterer Forschungsbedarf besteht vor allem in folgenden Bereichen: – Leistungsunterschiede über die Kernfächer hinaus gehenden Unterrichtsfächer (weitere Fremdsprachen, Schulsport, sozialwissenschaftliche und künstlerisch- musische Fächer) – Motivation und Einflußfaktoren für eine geschlechterstereotype Berufsorientierung bei Jungen – Zusammenhänge zwischen sozialer Dimension von Männlichkeit und Bildungs(miss)erfolg in Bezug auf ihre Ursachen – Jungen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem und die Begünstigung von Schwierigkeiten durch Milieuzugehörigkeit, selbst und Fremdethnisierung, soziale Ausgrenzung und selektives Schulsystem – Relevanz männlicher Lehrkräfte für den schulischen Erfolg von Jungen. Auszüge aus der Expertise: „… Der Expertise müssen mehrere grundsätzliche Überlegungen vorangestellt werden. 1. Eine ausschließliche Orientierung auf leistungsschwache und verhaltensproblematische Schüler wiederholt den negativen Blick der aktuellen (medialen) Debatte und übersieht, dass es ebenso durchschnittliche und erfolgreiche Schüler gibt. Zwar liegt der Anteil der Risikoschüler mit 11,9% um 2,2 Prozentpunkte über dem der Mädchen – darunter überdurchschnittlich viele Jungen mit Migrationshintergrund und aus kapitalienarmen Familien. Allerdings finden sich auch bei den kompetenzstarken Schülern – dies wird häufig vergessen – mit 11,8% mehr Jungen als Mädchen (10,4%). Um dieses Dilemma zu minimieren, stellt die Expertise ebenfalls Erfolge und Stärken von Jungen im Bildungssystem dar. 2. Die Konzentration auf die Jungen kann Gemeinsamkeiten mit den Mädchen ebenso übersehen wie Differenzen zwischen unterschiedlichen Jungen. Es muss berücksichtigt werden, dass die folgenden Aussagen nie auf alle Jungen zutreffen, sondern durchschnittliche Werte und Tendenzaussagen sind. Deswegen werden einerseits Vergleiche zwischen Jungen aus unterschiedlichen Soziallagen und andererseits zum Leistungstand der Mädchen angestellt. 3. Eine Expertise zu Bildungs(miss)erfolgen kann nicht nur Zahlen zu Kompetenzen, Wiederholerquoten oder Ausbildungsberufen dokumentieren, sie muss auch die Bedeutung von Schule als sozialem Ort miterfassen, in dem Männlichkeit her- und dargestellt wird. 4. Die Expertise begreift Geschlecht und Männlichkeit nicht als naturgegebenen Fakt, sondern als soziale Tatsache. Gesellschaftliche Strukturen und alltägliches doing gender tragen zu ‚jungenspezifischen‘ Handlungsmustern, Geschlechternormen und Bildungserfolg bei. … 2 BILDUNGSBETEILIGUNG • Je geringer qualifizierend die Schulform, desto höher der Anteil an Jungen, ca. jeder zehnte Jungen bleibt ohne Schulabschluss. • Jungen müssen häufiger eine Klasse wiederholen als ihre Mitschülerinnen, insbesondere am Gymnasium. • Besonders ungünstig ist der Bildungsverlauf bei Jungen mit Migrationshintergrund. Sie müssen in der Grundschule wesentlich öfter eine Klasse wiederholen und erreichen geringere Abschlüsse. • Das auf Homogenität der Lerngruppe setzende Bildungssystem ist durch seine Ausdifferenzierung und Selektivität daran beteiligt, bei Risikoschülern ungünstige Schulkarrieren zu befördern – oder sogar zu produzieren. … * Bildungsbeteiligung und besondere Risikolagen Kinder mit Migrationshintergrund weisen lediglich für das erste und zweite Kindergartenjahr geringere Besuchsquoten auf als deutsche Kinder, das dritte Jahr wird annähernd gleich häufig besucht. In der Grundschule zeigen sich erste Nachteile, so wiederholen Jungen mit Migrationserfahrung ca. viermal häufiger eine Klasse als ihre deutschen Mitschüler, dies schwächt sich jedoch bis zum Ende der Schullaufbahn ab. Erstaunlicherweise bleiben in den Jahrgangsstufen 7 und 8, in denen deutsche Jungen die höchsten Wiederholungsquoten aufweisen, deutsche und nichtdeutsche Jungen etwa gleichhäufig sitzen. Als Hauptgrund für die höhere Wiederholungsquote gelten geringere Deutschkenntnisse. Die Differenz zwischen Jungen und Mädchen mit Migrationshintergrund ist wesentlich kleiner als bei deutschen Jugendlichen, d.h. der Migrationsstatus hat einen größeren Einfluss als das Geschlecht. Ein weiterer Bias zu Ungunsten von Kindern mit Migrationshintergrund setzt beim Übergang in die Sekundarstufe I an. Je geringer qualifizierend die Schulform, desto höher ist der Anteil von Jugendlichen mit Migrationserfahrung. Insbesondere Jungen mit Migrationshintergrund besuchen Haupt- und Sonderschulen häufiger als Mädchen mit demselben Hintergrund, sowie als deutsche Jugendliche. Vor allem an den Schulen für Lernbehinderte, die als ‚Auffangschulen‘ für Problemkinder und -jugendliche gelten, sind Jungen mit Migrationshintergrund zahlenmäßig doppelt so häufig vertreten wie deutsche Jungen. An den Gesamtschulen ist das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund ungefähr ausgeglichen, am Gymnasium hingegen findet sich nur noch ein verschwindend geringerer Anteil nichtdeutscher Jungen. Diese Verteilung spiegelt sich auch in den Schulabschlüssen wider. Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund weisen die niedrigsten Schulabschlüsse auf: über 20% verlassen die Schule in Deutschland ohne Abschluss. Dies sind doppelt so viele wie männliche – und vier Mal so viel wie weibliche – deutsche Jugendliche. 42,6% aller männlichen Schüler mit Migrationshintergrund erreichen einen Hauptschulabschluss, aber nur 8,5% beenden ihre Schullaufbahn mit der allgemeinen Hochschulreife, bei deutschen Schülern sind dies knapp drei Mal so viele. … Erwartungsgemäß spiegelt sich dies in der Kompetenzverteilung wieder. Die PISA-Studie belegt, dass von denjenigen, die keine Kompetenzstufe erreicht haben, fast die Hälfte keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, während nur 17% zwei deutsche Elternteile haben. Dabei variiert die Leistungsdifferenz je nach Herkunftsland, polnische Jungen bspw. besuchen deutlich geringerqualifizierende Schulformen als polnische Mädchen, während bei Jugendlichen aus der Türkei oder Italien auf niedrigem Niveau kaum Differenzen zu finden sind. Neben Jungen mit Migrationshintergrund zeigen auch Jungen aus bildungsfernen Elternhäusern schlechtere Leistung und ein geringeres Selbstkonzept. Dementsprechend gelten Jungen aus diesen Gruppen als ‚Problemfälle‘ in der Schule, die häufiger unangepasstes Verhalten und ungünstige Bildungsverläufe zeigen. … Die Frage, welche Kinder häufiger von Wiederholungen betroffen sind, ist nicht nur vom Geschlecht, sondern auch von der Milieulage abhängig. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einer unteren sozialen Schicht eine Klasse wiederholen muss, liegt um das 2 1/2-fache höher als bei einem Kind aus einer oberen sozialen Schicht. Dies deckt sich mit der Tatsache, dass die Wiederholungsquoten an der Hauptschule wesentlich höher liegen als am Gymnasium. Wenn unterschiedliche Faktoren für Bildungsbenachteiligung analysiert werden, stellt sich heraus, dass noch vor dem kulturellem Kapital der Eltern (2%) und dem Migrationsstatus (5%) die sozioökonomische Lage des Elternhauses (16,5%) die größte Erklärungsrelevanz hat. Die Risikolage leitet sich somit in erster Linie aus der sozialen Schicht der Eltern ab. … 4. ÜBERGANG VON DER SCHULE IN AUSBILDUNG UND STUDIUM … • Beim Übergang in den beruflichen Bereich schneiden junge Männer häufig erfolgreicher ab. Sie ergreifen meist besser bezahlte und karriereorientiertere Berufe. • Jungen orientieren sich in ihren Berufswünschen sowie den Ausbildungswegen an tradierten Geschlechterbildern und ergreifen Berufe im handwerklichen und industriellen Bereich. Dies kann sich aufgrund des Wandels zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft zunehmend als riskante Strategie erweisen. • Ein erheblicher Teil junger Männer hat aufgrund fehlender Abschlüsse, gesellschaftlicher Ausgrenzung und mangelnder Motivation sehr große Schwierigkeiten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Für Migranten verstärkt sich dieser Effekt. • Es gibt eine große Lücke zwischen der aktuellen Lebenslage und den Erwartungen an eine (unerreichbare) Zukunft. * Berufs- und Zukunftswünsche von Schülern Bereits in der 3. Klasse spielt das Thema „Geld” im Bezug auf Sehnsüchte und soziale Hierarchie für Jungen eine große symbolische Rolle. … Bei Jungen wie Mädchen dominieren Sorgen vor schlechter Wirtschaftslage, Arbeitsplatzverlust sowie Armut. Jungen äußern jedoch generell seltener Ängste – dies hängt vermutlich mit einem Bild von Männlichkeit zusammen, nach denen Jungen keine Schwächen zeigen sollen. In einer Befragung zu ihren Berufswünschen äußerten Schüler und Schülerinnen aus der 4. bis 7. Klasse an Stereotypen orientierte Berufswünsche. Jungen wollen zur „Polizei” sowie zum „Militär” oder träumen von einer Karriere als „Profisportler”. Insbesondere „Fußballprofi” rangiert bis in die 7. Klasse sehr weit oben auf der Skala der Berufswünsche. Bei Jungen gewinnen erst im Laufe der Zeit realistische Berufswünsche wie „technisches Handwerk” oder „Computer” an Bedeutung. Dass Jungen weniger realistische Lebens- und Berufsplanungen verfolgen als Mädchen, deckt sich mit den Ergebnissen anderer Befragungen. Fast die Hälfte der Jungen hat weder für den familiären noch für den beruflichen Bereich ein Jahr vor dem Ende ihrer Regelschulzeit konkrete Vorstellungen Lebens- und Berufsplanung beschäftigt sie sehr viel weniger. Dies bedeutet nicht, dass männliche Jugendliche keine Ideen für ihre Zukunft hätten. … Bei vielen, gerade unterprivilegierten Jungen ergibt sich … eine Lücke zwischen dem ‚Hier-und-Jetzt‘ und den weit in der Zukunft liegenden Plänen. Konkrete, kleinschrittige und realistische Planungen fallen einem Teil der Jungen deutlich schwerer. Dies deckt sich mit Beobachtungen aus der Berufs- und Familienplanung bei Jugendlichen. … * Übergänge nach der Sekundarstufe I Es gibt in Deutschland mehrere Wege zur beruflichen Qualifikation nach dem Ende der Schullaufbahn. … Ein …Weg führt in befristete, gering entlohnte und/oder nichtqualifizierende Jobverhältnisse oder Jugendarbeitslosigkeit. Dies ist in einigen Milieus der ‚Regelweg‘. Männliche Jugendliche sind davon häufiger betroffen als weibliche. So besuchen fast 1/4 der Hauptschüler berufsvorbereitende Maßnahmen, fast 1/5 ergreift überhaupt keine weiterführende Qualifizierung. Dies stellt ein Problem dar, weil sich hier Lebenslagen von jungen Männern dauerhaft, krisenreich und perspektivarm verfestigen. … Wie auch bei den Berufswünschen spiegeln sich in den tatsächlich ergriffenen Ausbildungsberufen des dualen Systems gängige Geschlechterdomänen wieder. … Insgesamt finden sich mehr Männer als Frauen im dualen Ausbildungssystem, im Jahr 2005 entfielen 337.315 und damit 58,5% der existierenden Ausbildungsverträge auf junge Männer (vgl. BMBF 2007), wobei das Spektrum der ergriffenen Berufe bei Jungen größer ist. … Häufig bieten die männlich dominierten Ausbildungsberufe höhere Bezahlung und bessere Karrierechancen. Andererseits kommt es aufgrund von Umstrukturierungen auf dem Arbeitsmarkt zunehmend zu einer Ausweitung des Dienstleistungsbereichs und von Beschäftigungen, für die höhere Bildungsabschlüsse vorausgesetzt werden, sowie zur Abnahme von industriell-handwerklichen Beschäftigungen. In den bislang stärker weiblich besetzten Wachstumsbrachen „Finanzierung/ Unternehmensdienste“ und „öffentliche/private Dienstleistungen“ werden bis 2020 2,7 Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. … Beim Übergang in das duale Ausbildungssystem zeigt sich bei männlichen und weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine ähnliche Orientierung wie bei deutschen Jugendlichen. … Im Gegensatz zur betrieblichen Ausbildung sind junge Männer an vollzeitschulischen Ausbildungsgängen unterrepräsentiert. In den weiblich konnotierten personen- und gesundheitsbezogenen Sparten sowie der Gastronomie findet sich nur ein geringer Anteil von Männern, wobei dieser im Zeitverlauf sogar noch absinkt. So sind an Berufsfachschulen des Gesundsheitswesens lediglich 18% männlich. … Dass der Gesamtanteil von Jungen in der vollzeitschulischen Ausbildung dennoch ansteigt, liegt an der Zunahme von Schülern im Bereich von Informations- und Kommunikationstechnologie. Gleichzeitig besuchen mehr junge Männer als junge Frauen einen Berufsvorbereitungskurs oder ein Berufsgrundbildungsjahr, wo sie Hauptschulabschlüsse nachholen und grundlegende Qualifikationen für den Arbeitsmarkt erwerben. Bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund zeigt sich die gleiche geschlechtsbezogene Interessensverteilung etwas ausgeprägter, sodass diese jungen Männer prozentual seltener als deutsche junge Männer vollzeitschulische Ausbildungen wählen. … 6. AKTUELLE DISKURSE … * Getrennter Unterricht als Chance für Jungen? Wissenschaftliche Erkenntnisse: Intensiv wird aktuell die Frage nach monoedukativem Unterricht für Jungen diskutiert. Während es im Bereich der außerschulischen Bildungsarbeit eine längere Tradition der geschlechtergetrennten Pädagogik gibt, existiert im Feld der Schule bislang keine einheitlichen Strategie, sondern eher vielschichtiger und bisweilen undurchsichtiger ‚Wildwuchs‘. Generell muss bedacht werden, dass geschlechtsgetrennter Unterricht in der Schule aufgrund zeitlicher, finanzieller und räumlicher Ressourcen nicht so einfach zu realisieren ist wie Projekte in der außerschulischen Arbeit. Außerdem sind die Effekte zeitweiliger Trennung für Jungen bislang wenig erforscht und unklar. … Eine leichter zu realisierende Variante stellt der phasenweise getrennte Unterricht in einzelnen Fächern dar. Während sich beispielsweise im naturwissenschaftlichen Bereich des öfteren eine Trennung findet, um Mädchen zu stärken, gibt es gleiche Konzepte für Jungen kaum. Hannover und Kessels (2002) berichten von einem gestiegenen Selbstkonzept der Mädchen bei getrenntem Physikunterricht, allerdings ist der vorgefundene Effekt so gering, dass sich die aufwändige Trennung kaum lohnt. Bei den Jungen finden sich im Mathematikunterricht keine Leistungsunterschiede zwischen mono- und koedukativen Gruppen. Als positiv stellen die Beiden fest, dass sich Jungen (und Mädchen) in homogenen Gruppen weniger geschlechtstypisiert orientieren. Dies könnte auch erklären, wieso Jungen an reinen Jungenschulen weniger häufig einen Physikleistungskurs wählen als an koedukativen Schulen. * Jungenarbeit … Ziele von Jungenarbeit sind Förderung der sozialen Kompetenzen, Erweiterung der Handlungskompetenzen sowie Eingrenzung von Gewalt gegen Mädchen und andere Jungen. Notwendig ist dafür eine solidarisch-kritische Haltung, die Jungen mit ihren Problemen ernst nimmt und an den Ressourcen ansetzt, die jeder Junge mitbringt. Wichtig bei Angeboten für Jungen wie ‚Klassenrat‘, ’soziales Lernen‘ u.ä., ist es, mit dem Kontext Schule zu brechen, beispielsweise durch Raumwechsel oder gemütliche Atmosphäre. Sie betonen ebenfalls die Notwendigkeit, den Jungen einen festen Rahmen zu bieten.“ Den Volltext der Studie entnehmen Sie der Homepage des BMBF oder dem Anhang.

http://www.bmbf.de/pub/Bildungsmisserfolg.pdf

Quelle: BMBF

Dokumente: Bildungsmisserfolg_1.pdf

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