Jugendlicher außerhalb jeglicher Systeme

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat für die Vodafone Stiftung zu gesellschaftlichen Ausgrenzugsprozessen geforscht: Während den meisten Jugendlichen der Übergang ins Erwachsenenalter gelingt, scheitern rund 20.000 junge Menschen daran. Die sogenannten „entkoppelten Jugendlichen“ sind aus allen institutionellen Kontexten herausgefallen – sie sind weder in Schule, Ausbildung oder Arbeit, noch beziehen sie dauerhaft Sozialaleistungen. Die Studie zeigt auf, an welchen Stationen im Lebenslauf die Weichen häufig falsch gestellt werden und wie die Jugendhilfe dort verstärkt intervenieren könnte.

Niedrigschwellige Betreuungsangebote aus einer Hand

Wenn die Jugendlichen einmal in den staatlichen Hilfestrukturen sind, sollten diese so unbürokratisch und effektiv wie möglich gestaltet werden. Für diese „entkoppelten Jugendlichen“ sollten die Angebote gebündelt werden, so dass sie nicht mit zu vielen Ansprechpersonen und Antragsverfahren konfrontiert sind. Angesagt ist die Betreuung aus einer Hand, wobei ergänzend Sozial- und Berufspädagogen ebenso wie Pyschologen bereit stehen sollten. Diese Angebote erfordern einen niedrigschwelligen Zugang, eine individuelle Beratung und Begleitung – etwa in Form von Übergangslotsen. Die schwierige Datenlage zeigt auf, dass in Deutschland insgesamt großer Nachholbedarf an einer fundierten Sozialberichterstattung zu dieser Thematik besteht. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, insbesondere Finnland oder Dänemark hängt Deutschland hinterher.

Ein Ziel der Studie war es, Handlungsempfehlungen für die Politik und Praxis abzuleiten. Diese sind in fünf unterschiedliche Themenfelder untergliedert. Davon beziehen sich die ersten beiden Felder unmittelbar auf die Anforderungen und Bedarfe der „entkoppelten Jugendlichen,“ die letzten drei Themenfelder adressieren eher übergeordnete Handlungsanforderungen.

Auszüge aus den Handlungempfehlungen der Studie „Entkoppelt vom System“:

„(…) Präventive Erkennung von Risikolagen

(…) Die befragten Jugendlichen entstammen zumeist einem familiären Hintergrund, der durch verschiedene Belastungsfaktoren auf eine zurückliegende Kindeswohlgefährdung schließen lässt. Dennoch hatte die Jugendhilfe vielfach keinerlei Kenntnis von dieser Gefährdungslage erhalten, woraus die Schlussfolgerung zu ziehen ist, dass ein stärkeres Augenmerk auf neue Wege einer früheren Feststellung von Umständen der Kindeswohlgefährdung in der Familie zu legen ist. (…) Nach Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahr 2012 (…) hat sich bereits Einiges getan, so dass die heutigen Aktivitäten zum Aufspüren von „schwierigen“ familiären Situationen von Kindern nicht mit denen zu vergleichen sind, die zeitlich vor dem Bundeskinderschutzgesetz lagen. Dennoch muss konstatiert werden, dass es nach wie vor an Transparenz fehlt, was das Auftreten von Exklusionserscheinungen bei Minderjährigen betrifft. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Ansätze denkbar, die sich wesentlich an die Ebene der Kommunen, vor allem an die Jugendhilfe und vereinzelt auch an die Länder und den Bund richten:

  • Stärkere Verankerung des Themas für Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten sowie schulische Akteure, insbesondere der Lehrkräfte (als Bestandteil ihrer Ausbildung und als verbindliche Fortbildung), sowie von Mitarbeitenden der Jobcenter bzw. der Jugendberufsagenturen für die Risikolagen und Lebenswelten der Jugendlichen (verbindliche Schulung für Mitarbeitende),
  • Verpflichtende Etablierung der Schulsozialarbeit an Schulen als integraler Bestandteil des Bildungs- und Erziehungsauftrages von Schulen bei angemessener Ressourcenausstattung (direkte strukturelle Einbindung der Sozialen Arbeit in die Schule),
  • Direkte Ansprechpartner/innen beim Jugendamt zu Fragen bei problematischen Fällen für Schulen,
  • Etablierung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik nach dem Vorbild von Nordrhein-Westfalen als Zugang zum Dunkelfeld obdachloser Minderjähriger insgesamt.

Angebotsstrukturen

(…) Ohne dass die Bemühungen für eine Reintegration und wachsende soziale Integration aus dem Blick geraten dürfen, geht es auch um das berechtigte Anliegen zur Verbesserung der unmittelbaren Lebenssituation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die im Folgenden aufgeführten Anforderungen richten sich zentral an die Kommunen und in spezifischer Weise an die Jugendhilfe:

  • Zwischen niedrigschwelliger Notversorgung und dem Case-Management der SGB II-Institutionen bedarf es einer wichtigen, dazwischen geschalteten, vermittelnden institutionalisierten Angebotsebene. Dabei hat sich eine Komm-Struktur für umfassende Beratungs- und Begleitungsarbeit, welche die Jugendlichen und jungen Erwachsenen kontinuierlich bei gleichbleibenden Bezugspersonen über längere Zeiträume unterstützt, bewährt.
  • Des Weiteren müssen Jugendhilfeträger durch Unterstützung der vor Ort zuständigen Kompetenzinstanzen in die Lage versetzt werden, einen unverzüglichen Zugang zu Wohnraum zu schaffen, z. B. durch Ausbau des Sozialwohnbaukontingentes ggf. auch durch Zuschüsse vom Land oder Bund so dass damit verbindliche Kontingente für Jugendliche bei Neu- und Bestandsbauten gewährleistet werden könnten. Auch die Finanzierung der Begleitung in den eigenen Wohnraum ist abzusichern.
  • Es sollten Wohnraumbürgschaften für junge Volljährige bei SCHUFA-Einträgen zur Überwindung formaler Hürden bei der Erlangung eigenen Wohnraums durch kommunale Träger eingeführt werden (als Ansprechpartner könnten hier die kommunalen Beratungsstellen für Wohnungslose fungieren).
  • Schaffung von bezahlten, kurzfristig bereitgestellten und gleichwohl wertschätzenden Tätigkeitsgelegenheiten, z.B. in Form von niedrigschwelligen Angeboten für Geringqualifizierte – ergänzend zu weiterhin bestehenden (Re-)Integrationsangeboten, Insbesondere mit Blick auf eine erfolgreiche Verselbstständigung sind die folgenden Angebotsaspekte zu berücksichtigen:
  • Abbau überkontrollierender Reglementierung in stationären Einrichtungen für Klienten im Jugendalter, Stärken von Elementen zur Verselbstständigung sowie der Partizipation, z. B. in Bezug auf Budgetverantwortung und Selbstmanagement, aber auch hinsichtlich der Mitsprache bei der Konzeption und Ausgestaltung von Angeboten,
  • Schaffen individuellerer Beratungsmöglichkeiten und Begleitungen etwa in Form von Übergangslotsen, um Verselbstständigung vorzubereiten; dabei muss genügend Zeit für die Fallarbeit zur Verfügung stehen,
  • Systematische Wirkungs- und Erfolgskontrolle zum Verbleib von Care-Leavers.
  • Insgesamt müssen Möglichkeiten erschlossen werden, erfolgreiche Ansätze bzw. Projekte verstetigen zu können; eine notwendige Kontinuität, die den Bedürfnissen von „entkoppelten Jugendlichen“ nach stabilen Bezugspersonen Rechnung trägt, kann nur durch regelfinanzierte Angebote abgesichert werden.

Rechtliche Regulierungsbedarfe

Während im SGB VIII bereits umfangreiche gesetzliche Grundlagen für die Arbeit mit benachteiligten oder individuell beeinträchtigen jungen Menschen bestehen, sind auch zusätzliche Regulierungsbedarfe für die Zielgruppe „entkoppelter Jugendlicher“ sichtbar geworden. Die in diesem Zusammenhang genannten Empfehlungen richten sich vorrangig an die Bundesebene, beziehen jedoch auch Länder und Kommunen ein.

  • Die geschilderte Überforderung exkludierter junger Menschen durch die so genannte Sozialbürokratie verlangt nach einem inklusiven Ansatz im SGB II, der eine Fallbearbeitung mit benachteiligten Jugendlichen generell in multiprofessionellen Teams vorsieht, wobei eine Kooperation der verschiedenen Disziplinen, etwa von Sozial- und Berufspädagogen wie auch Psychologen, geboten ist.
  • Als kontraproduktiv müssen angesichts der vorliegenden empirischen Befunde auch die Totalsanktionen im SGB II gelten, d. h. die Streichung der Kosten für Unterkunft und Heizung; ebenso sind die altersbezogenen unterschiedlichen Sanktionsmechanismen infrage zu stellen.
  • Erweiterung des § 41 SGB VIII auch für junge Volljährige, denen zuvor noch keine Leistungen der Jugendhilfe zuteilwurden; Stärkung der Jugendsozialarbeit § 13 SGB VIII, welche durch einen Rechtsanspruch erfolgen könnte; zudem sollte die Unterstützung durch Jugendsozialarbeit beim Übergang in Ausbildung und Beruf bzw. während der Verselbstständigungsphase als Arbeitsfeld im SGB VIII aufgenommen werden.
  • Auch die rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit liegt im unmittelbaren Interesse der Zielgruppe „entkoppelter Jugendlicher“, etwa in Bezug auf den Austausch von Informationen und die Konzipierung und Finanzierung von Angeboten, wie sie im Rahmen des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) vorbildhaft geregelt worden ist; gleichzeitig ist eine systematische gemeinsame Fallverantwortung der Akteure unter Koordination des Jugendamtes als Fachbehörde sinnvoll.
  • Erleichtert werden könnte die rechtskreisübergreifende Kooperation zwischen SGB II und SGB VIII, insbesondere durch eine Angleichung der Altersspanne bis 27 Jahre. (…)

Forschungsdesiderate

Angesichts der begrenzten Abbildungsleistung der vorliegenden Studie wurden weitere Forschungsbedarfe zum Dunkelfeld „entkoppelter Jugendlicher“, aber auch der Interventionsansätze sichtbar:

  • Im Allgemeinen ist bislang zu wenig über die biografischen Verläufe von Care Leavers bekannt, die sich an die Hilfekarrieren anschließen, wobei hierfür Verbleibsstudien im Längsschnitt sinnvoll sind.
  • Im Speziellen werden Erkenntnisse darüber benötigt, welche Interventionsansätze der Jugendhilfe nachhaltige Erfolge zeitigen, wofür geeignete Evaluationsstudien von HzE-Maßnahmen erforderlich wären.
  • Insgesamt konnte gezeigt werden, dass es fundierter quantitativer Dunkelfeldstudien mit breiten quantitativen Befragungen von Straßenjugendlichen bedarf, um den Umfang des Phänomens „disconnected youth“ in Deutschland valide schätzen zu können. (…)“

Quelle: Vodafone Stiftung

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