Der 14. Kinder- und Jugendbericht offenbart: Jugendarmut ist ein drängendes Problem

14. Kinder- und Jugendbericht im Bundeskabinett beschlossen: In jeder Legislaturperiode wird ein Bericht über die Lebenssituation junger Menschen vorgelegt. Neben Bestandsaufnahme und Analyse enthält der Bericht Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien. Erschreckende Erkenntnis des Berichts: Fast ein Drittel der jungen Menschen kommt aus einem von Armut betroffenen oder bedrohten Elternhaus. Eine wachsende Zahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleibt dauerhaft oder mehrere Jahre arm. Der Bericht belegt, dass die soziale Kluft wächst.

Auszüge aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht:

„Die soziale Kluft

Für die Chancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist es zentral, mit welchem finanziellen, sozialen und kulturellen Kapital ihre Familien ausgestattet sind. (…) So unterschiedlich diese Voraussetzungen des Aufwachsens sind, so ungleich fallen die Perspektiven der jungen Akteure aus. Zu beobachten ist ein Nebeneinander von einerseits einem relativen Zukunftsoptimismus und andererseits einer kaum Perspektiven verheißenden Bildungsbiografie aufgrund eines prekären, mit geringem kulturellen Kapital ausgestatteten Elternhauses.

Diese Unterschiede prägen die Lage von Kindern und Jugendlichen im Prozess des Aufwachsens von Anfang an: Während der weitaus überwiegende Teil der Heranwachsenden auf eine einigermaßen sorgenfreie Zukunft blicken kann, mit Netz und doppeltem Boden über die Eltern abgesichert ist, kommt hierzulande immerhin fast jeder dritte junge Mensch aus einem Elternhaus, das entweder von Armut bedroht ist, in dem die Eltern keiner Erwerbstätigkeit nachgehen oder aber selbst keine ausreichenden Schulabschlüsse vorweisen können. Zwar zeigen genauere Analysen auch, dass erfreulicherweise nur bei rund drei Prozent der Kinder und Jugendlichen alle drei Risikofaktoren gleichzeitig präsent sind. Dennoch sind bestimmte soziale Gruppen erheblich häufiger von dieser Risiko-Kumulation betroffen. Dazu zählen beispielsweise Migranten: Mehr als zehn Prozent aller türkischen Kinder – sie sind unter den Kindern aus Einwandererfamilien am stärksten armutsgefährdet – leben in Familien, in denen alle drei Risiken zu beobachten sind. Problematisch dabei ist auch, dass sich Armutslagen teilweise verstetigt haben. Das Phänomen, dass Menschen mehrere Jahre hintereinander in Armut leben, trifft die Kinder unter zehn Jahren etwas weniger stark, doch eine wachsende Zahl von Jugendlichen und jungen Erwachsene bleibt mehrere Jahre oder gar dauerhaft arm.

Damit geht einher, dass sich die Einkommensposition der Kinder am oberen Rand der Einkommensskala in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat. Die ökonomische Ungleichheit ist offensichtlich nicht nur bei Erwachsenen größer geworden – auch Kinder, Jugendliche und besonders junge Erwachsene in der Bundesrepublik sind davon betroffen. Diese Kluft charakterisiert die Lebensverhältnisse des Kindes- und Jugendalters heute deutlicher als noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. (…)“

Die Aussicht auf einen Ausbruch aus der Armutsspirale versprechen sich viele junge Menschen von einem Berufsabschluss und dem Einstieg in den Arbeitsmarkt. Aber leider setzt sich hier die Selektivität des Bildungssystems fort. Der Weg in die berufliche Ausbildung ist kein Garant gegen Jugendarmut:

„Wege in die berufliche Ausbildung

Das duale System ist der zentrale Bereich des Berufsausbildungssystems. Aus Sicht der Wirtschaft gelingt in diesem System eine effektive Qualifizierung junger Fachkräfte. Aus Sicht der Jugendlichen stellt es nach wie vor einen attraktiven Zugang zur Arbeitswelt dar. Das duale System bewahrt auch weiterhin die Fähigkeit, Jugendliche mit ungünstigen Voraussetzungen stabil in Erwerbsarbeit zu integrieren.

Doch entgegen dem Selbstverständnis von der prinzipiellen Offenheit und Gleichwertigkeit seiner Ausbildungsgänge ist das duale System durch Segmentierungen gekennzeichnet: Je schlechter die schulischen Voraussetzungen Jugendlicher, desto höher ist ihr Risiko, keinen Zugang zu einer betrieblichen Ausbildung zu finden oder – wenn sie doch in Ausbildung gelangen – eine Ausbildung in Berufen mit erhöhtem Arbeitsmarktrisiko und geringeren Aussichten im erlernten Beruf zu absolvieren; ebenso wird es wahrscheinlicher, dass ihre Ausbildungsgänge von kürzerer Dauer sind und ein engeres inhaltliches Profil haben. Jugendliche mit Migrationshintergrund tragen zusätzlich ein erhöhtes Risiko, in Auswahlverfahren aussortiert zu werden.

Ausbildungsgänge des Schulberufssystems erhalten bisher nicht die jugend- und bildungspolitische Aufmerksamkeit, die ihrer Bedeutung entsprechen würde. Dabei gibt es schon heute einen gravierenden Mangel an Fachkräften in Erziehungs-, Sozial-, Kranken- und Altenpflegeberufen, für die überwiegend im Schulberufssystem ausgebildet wird. Die fehlende bildungspolitische Aufmerksamkeit für das Schulberufssystem begünstigt das Fortbestehen einer problematischen Unübersichtlichkeit, das Fehlen von Transparenz über Kostenbelastungen durch Schulgebühren und eine (im Vergleich zum dualen System) erhöhte Selektivität nach Schulabschlüssen.

Das Übergangssystem ist in seinen Bildungsgängen und Funktionen heterogener und wirksamer, als die „Warteschleifendebatte“ suggeriert. Stark bildungsbenachteiligte Jugendliche holen in berufsvorbereitenden Bildungsgängen Hauptschulabschlüsse nach und gelangen über Berufsvorbereitung in Ausbildung. An Berufsfachschulen verbessern junge Leute in großer Zahl ihre Bildungsgrundlagen und erwerben Mittlere Bildungsabschlüsse. Dennoch wird das Übergangssystem seinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Die Zahl derjenigen, die nach einem Jahr Berufsvorbereitung in einen zweiten berufsvorbereitenden Bildungsgang einmünden, ist größer als die Zahl der Einmündungen in Ausbildung. Ein Fünftel der Hauptschulabsolventinnen und -absolventen, die an einer Berufsfachschule den Mittleren Bildungsabschluss erwerben, fällt danach – erst einmal oder auch auf Dauer – aus dem Bildungs- und Ausbildungssystem heraus. …“

Neue Verantwortung für Kinder- und Jugendhilfe – Leitlinien für eine Neugestaltung des Aufwachsens

Der Bericht kommt insgesamt zu dem Ergebnis, dass der Kinder- und Jugendhilfe eine neue Verantwortung zukommt und schlägt Leitlinien für eine Neugestaltung des Aufwachsens vor:

„Resümiert man die verschiedenen Lebensphasen und biografischen Prozesse des Aufwachsens sowie die realen Bedingungen für Kinder und Jugendliche, so ist festzustellen, dass die Förderung von jungen Menschen heute in einer Verschränkung öffentlicher und privater Verantwortung stattfindet. Wenngleich Eltern weiterhin die primäre Verantwortung für ein gelingendes Aufwachsen zukommt, so bedarf es bei der Realisierung dieser Verantwortung der Unterstützung durch weitere gesellschaftliche Institutionen. (…)

Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich als Teil dieser gemeinsamen Gestaltungsaufgabe verstehen und das „neue Mischungsverhältnis von privater und öffentlicher Verantwortung“ aktiv (mit-)gestalten. (…) Um die der Kinder- und Jugendhilfe zugrunde liegenden politischen Ziele und fachlichen Leistungsstandards erreichen zu können, hält die Kommission die Beachtung folgender Leitlinien, die sowohl die fachlich inhaltliche als auch die strukturelle Weiterentwicklung betreffen, für wichtig:

  • In Anbetracht der Herausforderungen gegenwärtiger Gesellschaften ist das Aufwachsen von jungen Menschen verstärkt zu einer Gestaltungsaufgabe geworden.
  • Diese Gestaltungsaufgabe muss in einer Verschränkung von öffentlicher und privater Verantwortung wahrgenommen werden.
  • Die Familie bleibt dabei weiterhin in zentraler Verantwortung für das Aufwachsen.
  • Der Abbau von sozialer Ungleichheit bleibt eine zentrale Aufgabe der Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung. Diese dürfen dabei ihren Anteil an institutionell erzeugter Ungleichheit nicht unterschätzen.
  • Bezugspunkt der Gestaltung des Aufwachsens ist Bildung im Sinne einer umfassenden, stetigen Verbesserung der Handlungsfähigkeit mit dem Ziel einer selbstbestimmten Lebensführung.
  • Die Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote für das erste Lebensjahrzehnt müssen bedarfsgerecht weiter ausgebaut werden.
  • Dieser Ausbau muss in seiner Qualität so gestaltet werden, dass die Bildungspotenziale aktiviert, Benachteiligungen abgebaut, Gefährdungen begrenzt, die Selbstständigkeit gefördert und die Start- und Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen verbessert werden.
  • Aufbauend auf den inzwischen erreichten Fortschritten in den Leistungen für Kinder müssen die öffentlichen Gestaltungspotenziale mit Blick auf die besonderen Belange von Jugendlichen und jungen Erwachsenen besser genutzt werden. Dazu bedarf es einer entsprechenden Profilierung der Jugendpolitik.
  • Die Kommunen als zentraler Ort der Kinder- und Jugendhilfe und als lokaler Bildungsort müssen in ihrer Verantwortungswahrnehmung gestärkt und entsprechend finanziell auskömmlich ausgestattet werden. Hierfür müssen die Jugendämter zu strategischen Zentren für die Gestaltung des Aufwachsens weiterentwickelt werden.
  • Die Kinder- und Jugendhilfe muss in Anbetracht ihrer neuen Verantwortung – wie alle anderen am Prozess des Aufwachsens beteiligten Akteure auch – sich ihrer eigenen Wirkungen vergewissern und darüber Rechenschaft ablegen.“

Quelle: Bundesregierung; BMFSFJ; DCV

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